Stoïcismus
oder Stoische Philosophie, die Lehre [* 2] der Stoiker, einer Philosophenschule, die, von Zeno durch seine Vorträge in der Stoa (s. d.) um 308 v. Chr. begründet, sich mit dem Epikureismus (s. Epicurus) in die Herrschaft über die allgemeine Bildung der Griechen und Römer [* 3] fast ein halbes Jahrtausend lang teilte. Der Gründer der Schule, seinerseits ein Schüler teils des cynischen Philosophen Krates (s. d.) und des Megarikers Stilpo, teils der Platonischen Akademie, sowie sein erster Nachfolger Kleanthes (s. d.) scheinen bereits alle Grundzüge des S. entworfen zu haben; zu einer systematischen Entwicklung und Durchführung gedieh diese Lehre jedoch erst durch Chrysippus (s. d.). Unter den weitern Vertretern sind Diogenes der Babylonier, Antipater von Tarsus, besonders aber Panätius (s. d.) zu nennen, der den S. in Rom [* 4] heimisch machte. Später hielt Posidonius aus Apamea in Rhodus eine Schule der stoischen Philosophie, in der sich unter anderm Cicero bildete. In der Kaiserzeit sind Lucius Annäus Seneca (s. d.), Epiktet (s. d.) aus Hierapolis und der Kaiser Marc Aurel die bedeutendsten Schriftsteller dieser Schule.
Die Stoiker übernahmen von der Platonischen Schule die Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik. Die Logik wurde eingeteilt in Dialektik und Rhetorik. Die stoische Dialektik ist teils Grammatik, teils Erkenntnislehre. Um die Grammatik haben sich die Stoiker verdient gemacht; viele wichtige grammatische Bezeichnungen beruhen auf ihren Arbeiten. Die Grundfrage ihrer Erkenntnislehre bezieht sich auf das «Kriterium», d. h. die Richtschnur der Wahrheit der Erkenntnis.
Das Kriterium der Stoiker ist die katalêptikế phantasía, d. h. die vom Objekt in uns gewirkte Vorstellung, die unsere Beistimmung (synkatáthesis),
durch die wir sie für wahr erklären, unweigerlich erzwingt, oder nach anderer Deutung die Vorstellung, durch die wir das Objekt adäquat «erfassen». Die Vorstellung selbst (phantasía) wird dabei in materialistischer Weise als Eindruck in der Seele, ähnlich dem Siegelabdruck in der Wachstafel, gedacht; Chrysipp zwar wollte diese grobsinnliche Auffassung nicht gelten lassen und sprach nur allgemein von einer heteroíosis, einer Zustandsänderung, die die Seele von der Einwirkung des Objekts erfahre und die zugleich sich selbst und das Objekt kundgebe.
Von der Vorstellung bleibt das Erinnerungsbild, aus vielen gleichartigen Erinnerungen entsteht die Erfahrung. Aber auch der Begriff entsteht als bloße Ableitung aus den Wahrnehmungen durch den Fortgang zum Allgemeinen. Die Begriffe sind teils natürliche, d. h. sie entwickeln sich, wiewohl unter dem Einfluß der Erfahrung, aus ursprünglichen, Allen gemeinsamen Anlagen (koinaí énnoiai, émphytoi prolếpseis), teils sind sie künstlich gebildet. Nur das Einzelne hat reale Existenz, das Allgemeine ist nur von Bedeutung für unsere Gedanken.
Daher bestreiten die Stoiker ausdrücklich die Platonische Ideenlehre. Mit dem Sensualismus der Erkenntnislehre der Stoiker hängt der Materialismus ihrer Physik genau zusammen. Wirklich ist nur was Körper hat. Die Kraft [* 5] ist als feinerer Stoff gedacht, wird aber zugleich mit der Vernunft, dem Logos Heraklits, oder mit Gott identifiziert. Der Geiststoff wird bezeichnet als Feuer (doch nicht als verzehrendes, sondern künstlerisch bildendes, pyr technikón) oder als warmer Hauch (pneúma énthermon), er durchdringt, als das Feinste, alle gröbere Materie und waltet in ihr als Kraft.
Das Weltall ist Eins, begrenzt, kugelförmig und wird als beseelter Organismus vorgestellt. In ihm waltet ein unerbittliches Fatum (heimarménê), das jedoch Eins ist mit der Vorsehung (prónoia), die alles aufs beste ordnet. Den Fatalismus mit der Teleologie zu vereinigen und dabei doch die Willensfreiheit zu retten, haben sich die Stoiker viel, aber mit schlechtem Erfolg bemüht. Die menschliche Seele ist nur ein «Absenker» der Seele des Alls. Sie zerlegt sich in acht Teile, die lenkende Vernunft (hêgemonikón), die fünf Sinne, Sprachvermögen und Zeugungsvermögen.
Eine Unsterblichkeit der Einzelseele entspricht eigentlich den Voraussetzungen des Systems nicht, die einzelnen Stoiker hegten darüber verschiedene Ansichten. Zur Physik gehört bei den Stoikern auch die Theologie. Sie ist eigentlich befaßt in der Lehre von der lenkenden Vernunft des Alls, die mit Zeus [* 6] identifiziert wird. Aber auch die vielen Götter des Volksglaubens sind allegorische Verkleidungen von Naturkräften und drücken eigentlich nur die Eine Allvernunft nach verschiedenen Seiten aus: eine Auffassung, in der schon Heraklit, Diogenes von Apollonia und Antisthenes vorangegangen waren. Diese stoische Theologie, ein naturalistischer Monismus, hatte in der ältern griech. Philosophie und in der Volksreligion gleich starke Wurzeln und wurde dadurch bald siegreich.
Am berühmtesten sind die Stoiker wegen ihrer Moralphilosophie. Ihr oberster Grundsatz ist, daß man das Leben in Einklang mit der Natur setze und dadurch vernünftig gestalte. Denn die Natur des Menschen ist abhängig von der des Alls. Die Lust oder Glückseligkeit wird dabei nicht vorangestellt, soll aber die notwendige Folge des naturgemäßen Lebens sein. Voraussetzung ist die Erkenntnis der gesetzmäßigen Ordnung des Weltalls, der wir dann auch unsern Willen unterzuordnen haben; die Theorie ist also nicht Selbstzweck.
Die Wahlfreiheit wird, in ungelöstem
Konflikt mit dem
Fatalismus der stoischen Physik, behauptet; der
Weise ordnet sich mit
Willen dem Naturgesetz unter, aber wer ihm widerstrebt, bleibt darum doch nicht minder seiner Herrschaft
unterworfen. Zwischen
Tugend und Schlechtigkeit giebt es kein
Mittleres; wer nicht vollkommen in der
Tugend ist, hat eben die
Tugend nicht. Ein Unterschied wird gemacht zwischen bloß tugendmäßigem
Handeln und
Handeln aus tugendhafter Gesinnung, d. h.
aus Gehorsam gegen die
Vernunft. Die That als solche ist gleichgültig, auf die Gesinnung kommt es an.
Das Leben gehört zu den adiáphora.
(indifferenten, gleichgültigen Dingen), daher Selbsttötung gestattet ist. Die Tugendlehre
stellt als Grundtugenden auf: Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit als
Ausfluß
[* 7] der rechten
Vernunft
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mehr
(phrónêsis). Der Weise ist der Inbegriff der Vollkommenheit, er steht der Gottheit kaum nach. Die Staatslehre der Stoiker neigt entschieden zum Kosmopolitismus. Das Ideal einer allgemeinen Brüderlichkeit unter den Menschen als Kindern Eines göttlichen Vaters, unter Verwerfung auch der Sklaverei, ist stoischen Ursprungs. Aus derselben Quelle [* 9] stammt der stoische Begriff des Naturrechts, der auf die röm. Jurisprudenz (durch Vermittelung von Scävola, Varro, Cicero u. a.) von großem Einfluß gewesen ist.
Die sittlich-religiöse Grundstimmung machte den S. geeignet, mit religiösen Richtungen allerlei Art, wie sie namentlich um den Beginn unserer Zeitrechnung auf die griech.-röm. Kulturwelt Einfluß gewannen, ein Bündnis einzugehen. So verknüpft sich der S. mit der jüdisch-alexandrinischen Philosophie (s. Philo), dann mit der altchristlichen (besonders lehrreich bei Clemens von Alexandria), aber auch mit der neuplatonischen. Besonders seine allegorische Mythendeutung fand in der Zeit des allgemeinen religiösen und philos. Synkretismus weiteste Verbreitung. Der Einfluß des S. auf die Philosophie des Mittelalters wird gewöhnlich unterschätzt, weil er größtenteils durch die Kirchenväter und den Neuplatonismus vermittelt war.
Vgl. Zeller, Philosophie der Griechen, Bd. 3 (3. Aufl., Lpz. 1880-81);
Hirzel, Untersuchungen zu Ciceros philos.
Schriften, Bd. 2 (ebd. 1882);
Stein, Psychologie der Stoa (in den «Berliner [* 10] Studien für klassische Philologie und Archäologie», 2 Hefte, Berl. 1886 u. 1888);
Bonhöffer, Epiktet und die Stoa (Stuttg. 1890);
ders., Die Ethik des Stoikers Epiktet (ebd. 1894);
Schmekel, Die Philosophie der mittlern Stoa (Berl. 1892).