Stimmführung
nennt man den musikalischen Satz in Bezug auf die Behandlung der einzelnen denselben hervorbringenden Stimmen. Das Wichtigste der Lehre [* 2] von der S. läßt sich in wenige Worte zusammenfassen. Die Seele der S. ist die Sekundfortschreitung. Der Satz erscheint um so glatter, vollkommener, je mehr die Akkordfolgen durch Sekundschritte der einzelnen Stimmen bewerkstelligt werden. Selbst harmonisch sehr schwer verständliche Folgen geben sich mit einer gewissen Ungezwungenheit, wenn alle oder die meisten Stimmen Sekundschritte machen, seien diese Ganztonschritte, Leitton- oder chromatische Halbtonschritte (s. Beispiel). ^[img] Ein vorzügliches Bindemittel einander folgender Akkorde ist ferner das Liegenbleiben gemeinsamer Töne.
Eine Ausnahme macht die Führung der Baßstimme, welche gern von Grundton zu Grundton der Harmonien fortschreitet und wesentlich der Förderung des harmonischen Verständnisses dient; auch von Hauptton zu Terzton und von Terzton zu Terzton oder Hauptton geht der Baß gern, dagegen ist der Sprung der Baßstimme zum Quintton mit Vorsicht zu behandeln (s. Quartsextakkord und Konsonanz). Überhaupt aber ist die Sekundbewegung zwar erstrebenswert, jedoch keineswegs immer erreichbar, und gerade die Stimme, welche zumeist frei und zuerst erfunden wird, die eigentliche Melodiestimme (in der neuern Musik gewöhnlich die Oberstimme), unterbricht die Sekundbewegung gern durch größere, sogen. harmonische Schritte. Da solche Schritte, wie bereits bemerkt, den Effekt der Mehrstimmigkeit durch Brechung [* 3] machen, so sind sie ¶
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eine Bereicherung des Satzes; es blüht sozusagen eine zweite Stimme aus der einen heraus (im Orchester- und Klaviersatz geschieht das oft genug wirklich). Von solchem Gesichtspunkt aus erscheint das Abweichen von der Sekundbewegung auch für die Mittelstimmen oft als ein Vorzug, indem dieselben sich dadurch selbständiger herausheben. Gewisse Stimmschritte, die harmonisch schwer verständlich und darum schwer rein zu treffen sind, vermeidet der Vokalsatz gern (der »strenge« Stil vermeidet sie ganz), nämlich die übermäßigen Schritte (Tritonus, übermäßiger Sekundschritt etc.) und den verminderten Terzschritt (cis-es).
Die in allen Lehrbüchern der Harmonie zu findenden Regeln, daß der Leitton einen kleinen Sekundschritt nach oben
mache und die Septime nach unten fortschreiten müsse, sind nur bedingungsweise richtig. Wo der Leitton in Dominantenakkord
auftritt und dieser schließend sich zur Tonika fortbewegt, wird natürlich der Leittonschritt gemacht werden, weil überhaupt
Halbtonfortschreitungen überall zu machen sind, wo sich Gelegenheit bietet und dadurch nicht gegen eine andre Satzregel
verstoßen wird; deshalb wird auch die Septime in den Fällen gern nach unten fortschreiten, wo sie einen
fallenden Leittonschritt ausführen kann, z. B. wo sich der Dominantseptimenakkord
in die
Durtonika auflöst (s. das Beispiel). ^[img] In diesem Fall ist sowohl der steigende Leittonschritt h'-c'' als der fallende
f'-e' obligatorisch und wird nur in Ausnahmefällen von einem von beiden abzusehen sein.
Dagegen ist kein Grund abzusehen, warum in Akkorden wie h:d:f:a oder c:e:g:h die Septime sich abwärts bewegen sollte, wenn nicht Gefahr der Quintenparallelen od. dgl. dazu zwingt. Es wird immer darauf ankommen, was für eine Harmonie folgt;
enthält dieselbe die Oktave des Grundtons, so wird die Septime häufig steigen.
Die Regel der abwärts zu führenden Septime wie des aufwärts zu führenden Leittons ist also nichts andres als ein praktischer Fingerzeig, weil bei den gewöhnlichsten Akkordfolgen sich diese S. als eine bequeme ergibt. Dagegen sind von höchster Bedeutung für die S. die negativen Gesetze: das Quintenverbot und Oktavenverbot (s. Parallelen), da falsche Parallelen dem Grundprinzip des mehrstimmigen Satzes, eine Vereinigung mehrerer sich selbständig und wohl unterscheidbar bewegender Stimmen zu sein, widersprechen.