Stickerei
,
das Verfahren, gewebte Stoffe, zuweilen auch Leder, Papier u. s. w., durch auf- oder eingenähte Muster zu verzieren. Die einzelnen Fadenlagen werden Stiche genannt und führen je nach Gestalt und Herstellungsweise die verschiedensten Namen. Die wichtigsten derselben sind: der Plattstich, der Kreuzstich und der Ketten- oder Tambourierstich. Neben diesen dienen der aus dem Plattstich hervorgegangene Stielstich, Steppstich, Leiterstich, der zickzackförmige Hexenstich, der Gobelin- oder Perlstich, der Flechtenstich, Damaststich u. a., sowie der vom Kettenstich abgeleitete Feston- oder Languettenstich, Korallen-, Knötchen-, Wickelstich u. s. w., der nur zu gröbern S. verwendete Post- oder Minutenstich, der seinen Namen von der Schnelligkeit hat, mit der ein Blatt [* 3] ausgeführt werden kann, meist zur Detailausbildung der darzustellenden Muster.
Auf dichten
Stoffen,
Tuch, Baumwollzeug u. s. w. bleibt die ganze Grundfläche frei, und es entsteht nur
das vorgezeichnete
Muster durch entsprechendes Nebeneinanderlegen der mit der
Nadel eingezogenen Fäden, die
sehr verschiedener Art, wie Baumwollzwirn,
Seide,
[* 4] Chenille,
Gold- und
Silbergespinst, sein können (Plattstichstickerei
). Die
Gold- und Silberstickerei
wird hierbei oft durch mitaufgenähte
Flittern oder echte
Perlen ausgeputzt. Die gewöhnliche
Perlenstickerei
(s. d.) wird durch Aufnähen von
Glas- oder Metallperlen oder Schmelz (kurzen Stückchen dünner farbiger Glasröhrchen) gebildet.
Bei der Wollstickerei
oder
Tapisserie wird ein loses Grundgewebe (Kanevas oder
Stramin) meist ganz mit
den ein gerades oder schief liegendes
Fadenkreuz bildenden
Stichen von verschiedenfarbigen
Woll-, zum
Teil auch Seidenfäden
ausgefüllt, also auf diese
Weise
Grund und
Muster gebildet (Kreuzstichstickerei
). Die dritte Methode, die besonders zur Wiedergabe
von Konturzeichnungen geeignet ist, beruht auf der
Bildung kleiner
Maschen, die kettenartig so ineinander
gehängt sind, daß sie auch ohne das stützende Gewebe
[* 5] ihren Zusammenhang behalten (Tambourierstichstickerei
). Findet eine
gegenseitige
Bindung der
Schleifen nicht statt, so bilden sich auf der Vorderseite emporstehende
Schleifen oder Noppen (Moosstich).
Der Festonstich entsteht aus dem
Kettenstich, wenn der die
Schleife bildende
Faden
[* 6] nicht durch denselben
Stichpunkt, der ihn auf die vordere Stoffseite führt, auf die Rückseite zurückkehrt.
Die S. bedient sich zur Herstellung ihrer Erzeugnisse höchst einfacher Werkzeuge.
[* 7] Um die erforderliche Genauigkeit und Sicherheit
in der Gestaltung der Musterfiguren oder in der
Lage des
Stichlochs zu erreichen, wird der zu verzierende
Stoff meist in einen
Rahmen, den
Stickrahmen, so aufgespannt, daß die Stofffläche völlig eben ist und daß Einschlag- und
Kettenfäden sich unter rechten Winkeln kreuzen. Bei der Handstickerei
besteht der
Rahmen aus vier Holzstäben, die zu einem
Rechteck von veränderlicher Seitenlange vereinigt sind und an denen der
Stoff durch Fäden angeheftet
wird, oder auch aus einem
Ring, über dem ein zweiter, etwas weiterer
Ring den
Stoff ausspannt. Dieser
Rahmen ruht entweder im
Schoß der Stickerin oder, in einem Kugelgelenk beweglich, auf einem feststehenden Fußgestell.
Kleinere
Muster werden von geübten
Stickerinnen auch ohne
Rahmen derart ausgeführt, daß die Arbeiterin den
Stoff über den Zeigefinger der
linken
Hand
[* 8] ausspannt und mittels der drei nächsten Finger festhält.
Zum Einschlingen des Fadens, der der bessern Musterfüllung wegen nur schwach gedreht sein darf, dient die Sticknadel, die entweder mit einem Öhr oder mit einem Haken versehen ist. Im erstern Fall ist dieselbe zur Erzeugung aller Sticharten verwendbar; im letztern eignet sie sich nur für die Erzeugung des Kettenstichs. Die Öhrnadeln bestehen, ähnlich denen für die Näherei, aus einem schlank kegelförmigen Schaft, der an dem einen Ende in eine mehr oder weniger scharfe Spitze ausläuft, während das andere Ende ein langgestrecktes Ohr [* 9] zum Einziehen des auf eine gewisse Länge abgeschnittenen Fadens enthält.
Die längliche Gestalt des
Öhrs ermöglicht auch das leichte
Einführen von lockerm
Garn, dessen Durchmesser größer als der
der
Nadel ist. Die Öhrnadel wird stets vollständig durch den
Stoff hindurchgeführt und das noch freie Fadenstück nachgezogen.
Die einseitige Zuspitzung der
Nadel macht bei der Rahmenstickerei
vor jedem neuen Einstich eine
Wendung
derselben erforderlich. Zur Vermeidung dieses Umstandes schlug bereits 1755 Weisenthal in
London
[* 10] eine an beiden
Enden zugespitzte,
in der Mitte mit einem
Öhr versehene
Nadel vor.
In der Handstickerei
hat diese
Nadel wenig Anwendung gefunden (in
Frankreich, namentlich zu Nancy,
[* 11] wird sie
noch gegenwärtig benutzt); dagegen bildet sie heute das unentbehrliche Werkzeug der meisten Plattstichstickmaschinen. (S.
Stickmaschine.)
[* 12] Nur wenige dieser
Maschinen benutzen einseitig zugespitzte
Nadeln,
[* 13] deren
Öhr sich, wie bei den Nähmaschinennadeln,
in unmittelbarer Nähe der
Spitze befindet und die wie jene nur teilweise durch den
Stoff hindurchgeführt werden. (S. Nähmaschine.)
[* 14] Die Hakennadel findet sowohl in der Handstickerei
als in der Maschinenstickerei Anwendung.
Der cylindrische Schaft ist nur einseitig zugespitzt; das andere Ende ist zum Zweck bequemer Handhabung in einem Heft befestigt.
Das nahe an der
Spitze eingebohrte
Öhr ist nach einer Seite derart aufgeschlitzt, daß dadurch ein
Haken entsteht, dessen
Spitze
von der Nadelspitze abgewendet ist. Die
Nadel wird, mit der
Spitze voran, nur teilweise durch den
Stoff hindurchgeführt, worauf
der
Faden bei der Handstickerei
von der linken
Hand der Arbeiterin unterhalb des
Stoffes so um den Schaft herumgelegt wird,
daß beim Heben des letztern der
Faden in das aufgeschlitzte
Öhr gleitet und von dem aufsteigenden
Haken
in Form einer
Schleife über die Oberseite des
Stoffes emporgezogen wird. Nach Versetzung der
Nadel oder des
Stoffes um die Länge
eines
Stiches durchdringt die erstere den
Stoff von neuem, wobei die
Schleife über dem Nadelschaft hängt, und holt eine neue
Schleife auf die Oberfläche des
Stoffes empor, die somit durch
die erste
Schleife hindurchgezogen und deren
Zurückschlüpfen durch das erste
Stichloch verhindert wird.
Bei jeder Weißstickerei muß die Zeichnung mit Baumwollgarn derart vorgezogen werden, daß mehr Faden über als unter dem Zeug und dadurch die S. erhaben liegt. Die leichteste Art der Weißstickerei ist das Languettieren oder Festonnieren. Der Festonstich bildet einen festen Rand und wird daher meist zu Bogeneinfassungen verwendet, bei denen nach beendeter Arbeit der Stoff außen dicht an der S. abgeschnitten wird. Die breiten Festons werden mit Vorder- oder auch mit Kettenstichen gefüllt, um ¶
mehr
erhaben zu liegen (Schattenlöcher). Das Restloch oder Schnürloch, zu dessen Herstellung man sich eines besondern Werkzeugs, des Nestloch- oder Schnürlochstechers, bedient, gehört zur sog. englischen S., die ganz durchbrochen oder licht ist und bei der die Stiche so dicht aneinander liegen, daß sie das Aussehen eines feinen Schnürchens erhalten (Cordonnierstich). Im Gegensatz zu letzterer steht die französische S., bei der Blumen und Blätter hoch und dicht gearbeitet werden.
Die Kunst des Stickens, insbesondere die Goldstickerei
, soll von den Phrygiern erfunden worden sein; doch findet man sie
bei allen Kulturvölkern schon seit den frühesten Zeiten in Gebrauch. Zu Homers Zeiten standen die Frauen
Sidons in dem Rufe, geschickte Stickerinnen zu sein. Bei den Griechen galt Pallas Athene
[* 16] als die Erfinderin dieser Kunst; doch
steht fest, daß dieselbe durch die Perser nach Griechenland
[* 17] gelangte. Durch Attalus Ⅲ., König von Pergamon,
[* 18] gest. 133 v. Chr.,
wurden die Römer
[* 19] mit der Goldstickerei
bekannt; erst unter den byzant.
Kaisern war die Silberstickerei
üblich. Berühmt waren gegen Ende des 10. Jahrh. die
englischen, von Benediktinermönchen gefertigten S. (Opus anglicanum). Von den deutschen Klöstern gewann St. Gallen, St. Emmeran
in Regensburg,
[* 20] diejenige am Rhein und an der Donau bald hohen Ruhm. Doch blieb bis ins 12. Jahrh.
der Einfluß der Byzantiner und Sarazenen bemerkbar. Im Mittelalter diente die Stickkunst vorzugsweise
der Kirche, indem sie die Paramente auf das reichste ausstattete.
Die Nonnenklöster beherbergten die besten Werkstätten, bis gegen Ende des 13. Jahrh. die
S. ein bürgerliches Gewerbe wurde. Die höchste Blüte
[* 21] erlangte sie in Burgund unter Herzog Philipp dem
Guten. In weiterer Ausbildung wendete sie sich der Reliefstickerei
zu, indem sie Watte unterlegte und ihre
[* 15]
Figuren bildnerisch
zu formen suchte. Das 16. Jahrh. kam von der
[* 15]
Figurenstickerei
ab und
wendete neben der Applikationsstickerei, welche es mit feinem Farbensinne pflegte, die Perlen- und Schnurstickerei mit Vorliebe
an. Es waren nun vorzugsweise weltliche Zwecke, Gewänder, später Möbelstoffe, die mit S. geziert wurden.
Die letztern kamen im 18. Jahrh. in großartigster Weise zur Verwendung, so daß ganze Zimmereinrichtungen in Stickkunst ausgeführt wurden, ebenso wie man sie zur Dekoration der Kirchen verwendete. Die Leinenstickerei, früher vielfach für kirchliche Zwecke verwendet, wurde nun vorzugsweise eine Hauskunst, indem teils in Kreuzstich, teils in Plattstich, teils farbig (blau, rot, schwarz), teils weiß auf weiß (mit Leinen, Seide, Bändern, Borten oder Schnüren) zierliche Ornamente [* 22] geschaffen wurden. Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatte die Stickkunst einen tiefen Stand erreicht.
Dank der kunstgewerblichen Bewegung seit den sechziger Jahren sind aber alle alten Techniken wieder aufgenommen worden und werden in umfassender Weise sowohl für kirchliche als profane Zwecke geübt. Die S. in Musselin (Weißstickerei) wird in der Schweiz [* 23] und in Sachsen [* 24] in großer Ausdehnung [* 25] fabrikmäßig betrieben, wobei man sich teils der Handarbeit, teils der Stickmaschine (s. d.) bedient. Die Maschinenstickerei tritt überall da mit Vorteil an die Stelle der Handstickerei, wo es sich um die Massenproduktion gleichartiger Erzeugnisse handelt und wo demnach die künstlerischen Forderungen mehr zurückstehen.
Vgl. Peter Quentel, Musterbuch für Ornamente und Stickmuster (1527‒29; neue Ausg., Lpz. 1882);
Joh. Sibmacher, Neues Stick- und Spitzenmusterbuch (1604; neue Ausg. in 60 photolithogr. Blättern, Berl. 1881);
Bock, [* 26] Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters (3 Bde., Bonn [* 27] 1856‒71);
Lay und Fischbach, Südslaw.
Ornamente (mit 20 Chromolithographien, Esseg und Hanau [* 28] 1880);
Muster altdeutscher Leinenstickerei (hg. von Jul. Lessing u. a., 4 Hefte, zum Teil in 9. Aufl., Berl. 1888‒91);
Fischbach und Puslky, Ornamente der Hausindustrie Ungarns (Budapest [* 29] 1879);
Stassoff, L’ornement national russe (Petersb. 1872);
Lipperheide, Muster altital.
Leinenstickerei (1. u. 2. Sammlung und Neue Folge, 2 Bde., Berl. 1882‒92);
Emilie Bach, Muster stilvoller Handarbeiten (2 Tle., Wien [* 30] 1881);
Kick, Preisgekrönte Stickereiarbeiten (Stuttg. 1890 fg.);
Hermine Steffahny, Stickereimuster (Lpz. 1892 fg.);
L. de Farcy, La broderie du Ⅺe siècle jusqu’à nos jours (mit 180 Tafeln, Par. 1892);
Delabar, Allgemeiner Bericht über die Pariser Weltausstellung von 1867: die Weißstickerei in der Schweiz; die Weißstickerei in Württemberg [* 31] (St. Gallen 1869);
Göldy, Bericht an den hohen Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Stickereiindustrie auf der internationalen Ausstellung in Philadelphia [* 32] 1876 (Winterth. 1877);
Jahresberichte der Handels- und Gewerbekammer zu Planen im Königreich Sachsen.