Statistik
(von dem neulat. und ital. Wort statista, Staatsmann, Politiker), ursprünglich soviel wie Staatskunde, worunter die systematische Darstellung der Verfassung, der Organisation, der Bevölkerungsverhältnisse, der militär. und wirtschaftlichen Hilfsquellen und der sonstigen bemerkenswerten Einrichtungen und Verhältnisse eines oder mehrerer Staaten zu verstehen ist. In diesem Sinne verfaßten bereits im 16. Jahrh. unter anderm Sebastian Münster, [* 2] Francesco Sansovino und Giovanni Botero ausführliche Staatsbeschreibungen, und die seit 1626 in Leiden [* 3] erscheinenden «Respublicae Elzevirianae» verfolgten gleiche Zwecke.
Auf
Grund dieser und ähnlicher
Quellen hielt
Hermann Conring seit 1660 an der
Universität
Helmstedt Vorlesungen staatsbeschreibenden
Inhalts, die an andern Hochschulen vielfach Nachahmung fanden. Besondern Vorschub erhielt die Staatskunde
als Unterrichtswissenschaft (Universitätsstatistik
) durch
Achenwall, der in seinem zuerst 1749 veröffentlichten «Abriß
der neuesten
Staatswissenschaften der heutigen vornehmsten europ.
Reiche und Republiken» (Göttingen)
[* 4] sich zum erstenmal des
Wortes
S., und zwar in dem obigen
Sinne von «Staatsmerkwürdigkeiten» bediente, sowie durch dessen
Schüler und Nachfolger
auf dem Göttinger Lehrstuhl, von Schlözer, der die S. als histor.
Disciplin auffaßte und dies in dem bekannten Satz zum Ausdruck brachte: «S. ist stillstehende Geschichte, Geschichte eine fortlaufende S.». Gegenüber der bis dahin üblichen getrennten Behandlung der einzelnen Staaten bekundete Büsching (1724‒93) insofern einen Fortschritt, als er den einzelnen statist. Fragen durch eine internationale vergleichende Darstellung näher zu treten suchte. Neben dieser Auffassung von der S. als Staatenkunde bildete sich unterdes eine andere aus, die die specifische Aufgabe der S. in der zahlenmäßigen Erhebung und Untersuchung von Massenerscheinungen auf dem Gebiete des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens erblickt.
Ihren geschichtlichen Ursprung hat dieselbe in denjenigen Forschungen über die menschlichen Lebensverhältnisse, welche ihr Material den im Laufe des 16. Jahrh. fast überall in Aufnahme gekommenen Kirchenbüchern mit ihren Verzeichnissen der Eheschließungen, Geburten und Sterbefälle entnahmen. Der erste, der auf Grund solchen Materials gewisse Regelmäßigkeiten in den gesellschaftlichen Massenerscheinungen nachwies, war John Graunt («Observations upon the bills of mortality», Lond. 1662),
der in William Petty (dem Verfasser von «An essay of political arithmetics», 1682 u. ö.) einen Nachfolger fand. Derselbe machte sich insbesondere um die Methodik der neuen Wissenschaft verdient, der damals auch die im Entstehen begriffene Wahrscheinlichkeitsrechnung zu gute kam. Der Astronom Halley förderte die Bestrebungen seiner Vorgänger durch seine 1693 erschienene Sterbetafel (s. Sterblichkeitsstatistik), und der Deutsche [* 5] Süßmilch behandelte in seiner «Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts» (Berl. 1741; 5. Aufl. 1780) die bevölkerungsstatist. Regelmäßigkeiten in einem umfassenden Zusammenhange. Die Anhänger der beiden genannten Richtungen, die als Achenwallsche und Süßmilchsche S. gegenübergestellt werden, verfolgten von Anfang an selbständig ihre Wege, nicht ohne sich zeitweise aufs heftigste zu befehden. Im Laufe der Zeit wurde indes der S. als Staatenkunde immer mehr ¶
mehr
Abbruch gethan, zumal da wegen der Masse des allmählich sich ansammelnden Stoffes eine akademische Behandlung derselben nicht mehr möglich war und die Nationalökonomie, das Staats- und Verwaltungsrecht und die Geographie als selbständige Wissenschaften sich loslösten. Übrigens hat noch neuerdings Wappäus (s. d.) den Standpunkt Achenwalls im wesentlichen festzuhalten gesucht. Um so günstiger gestaltete sich die Entwicklung der auf die zahlenmäßige Massenbeobachtung gerichteten Disciplin, da die allmählich sich entwickelnde statist.
Sammelthätigkeit der Staaten ein reichhaltiges Material anhäufte. Eine wesentliche Förderung wurde insbesondere der social-physiol. Seite der Massenbeobachtung durch die Arbeiten Quételets (s. d.), namentlich durch dessen 1835 erschienenes Werk «Sur l'homme», zu teil; zugleich lenkte er durch seinen Versuch, die menschlichen Handlungen auf statist. Naturgesetze zurückzuführen (Gesetze der großen Zahl), die Aufmerksamkeit weiterer Kreise [* 7] auf dieses Gebiet und stellte die Moralstatistik (s. d.) auf längere Zeit in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses.
Ein weiterer Ausbau der mathem.-theoretischen Seite der Bevölkerungsstatistik erfolgte unter anderm durch Laplace, Fourier, Moser, Hermann und neuerdings besonders durch Becker, Knapp, Zeuner und Lexis. Angesichts der Thatsache, daß die zahlenmäßige Beobachtung von Massenerscheinungen bald nicht mehr auf das staatliche und gesellschaftliche Leben beschränkt blieb, sondern auch auf andere Gebiete, namentlich auf Naturwissenschaften, Zoologie, Botanik, Meteorologie, Astronomie [* 8] und Medizin Anwendung fand, gelangte man dazu, die S. als eigenartige Forschungsmethode in das Gebiet der Logik zu verweisen.
Als solche hat die S. die Aufgabe, Massenerscheinungen auf Grund von Zählungsergebnissen zu beurteilen, und ist insofern eine
Hilfsmethode der Induktion
[* 9] (Sigwart). Auf der andern Seite aber wird an der Stellung der S. als Wissenschaft von
den Erscheinungen des staatlichen und socialen Lebens festgehalten, die auch wohl als Demographie (s. d.) bezeichnet wird.
Je nach den Objekten, welche Gegenstand der statist. Untersuchung sind, unterscheidet man verschiedene Zweige der S. (S.
Bevölkerung,
[* 10] Ehestatistik, Geburtsstatistik, Sterblichkeitsstatistik, Berufsstatistik, Forststatistik
, Gewerbestatistik, Handelsstatistik,
Kriminalstatistik
, Moralstatistik, Unfallstatistik.)
Die Sammlung und tabellarische Ordnung des statist. Materials ist im wesentlichen die Sache öffentlicher
Behörden (amtliche S.), wie ja auch der unmittelbare Zweck dieser Erhebungen nicht ein wissenschaftlicher, sondern ein praktisch-administrativer
ist. Auf einigen Gebieten sind allerdings die von privater Seite veranstalteten Erhebungen (Privatstatistik
) unentbehrlich,
indem dieselben nicht nur die amtlichen Bestrebungen zu ergänzen, sondern bisweilen auch ausschließlich
einen Erfolg zu sichern vermögen.
Gewisse statist. Feststellungen, wie Volkszählungen und Vermögensaufnahmen, finden sich schon in den Staaten des Altertums, und je mannigfaltiger sich die staatliche Aufgabe in der neuern Kulturentwicklung gestaltete, um so mehr stellte sich das Bedürfnis einer quantitativen Kenntnis der Hauptelemente des Staatslebens heraus. Doch wurden die Ergebnisse der statist. Erhebungen anfangs in den meisten Staaten nicht veröffentlicht, sondern sogar sorgfältig geheimgehalten.
Die erste Organisation der amtlichen S. in moderner Form geschah in Schweden, [* 11] wo 1756 eine «Tabellenkommission» für die Aufstellung von jährlichen Nachweisen über die Bewegung der Bevölkerung eingesetzt wurde. In Frankreich wurde 1796 ein Statistisches Bureau gegründet, das indes beim Sturz des Kaiserreichs einging und erst 1834 durch eine Centralstelle ersetzt wurde. In Preußen [* 12] trat ein Statistisches Bureau 1805 ins Leben, jedoch nur auf kurze Zeit. Es wurde 1810 unter Hoffmann erneuert und gelangte unter Ernst Engels (s. d.) Leitung (1860-82) zu seiner vollen Entwicklung.
Das kaiserl. Statistische Amt (s. d.) wurde unter Becker 1872 gegründet. Ähnliche Anstalten sind im Laufe des 19. Jahrh. in allen Kulturstaaten entstanden, wenn auch nicht immer als Centralstellen, da in einigen Ländern, z. B. in England, die Hauptzweige der S. von verschiedenen Bureaus bearbeitet werden. Den statist. Bureaus stehen in mehrern Ländern noch Centralkommissionen, aus höhern Beamten und Gelehrten zusammengesetzt, zur Seite. Außer den Staaten haben auch die meisten deutschen Groß- und selbst einige Mittelstädte statist.
Ämter errichtet. Die internationalen statistischen
Kongresse (der erste 1853 in Brüssel,
[* 13] die folgenden in Paris
[* 14] 1855, Wien
[* 15] 1857,
London
[* 16] 1860, Berlin
[* 17] 1863, Florenz
[* 18] 1866, Haag
[* 19] 1869, Petersburg
[* 20] 1872 und der letzte 1876 in Budapest)
[* 21] haben
versucht durchzusetzen, daß die statist. Erhebungen in den verschiedenen Staaten nach einem möglichst einheitlichen Plane
erfolgen; sie steckten aber ihre Ziele zu weit, nahmen zu wenig Rücksicht auf nationale Eigentümlichkeiten und hatten daher
keine großen praktischen Erfolge.
Der 1879 nach Rom [* 22] eingeladene Kongreß kam nicht zu stande, und erst 1885 ward in London wieder ein Internationales Statistisches Institut gegründet, jedoch nur als Privatverein, während zu den frühern Kongressen amtliche Delegierte entsendet wurden. Dieses Institut sucht die internationale S. durch periodische Versammlungen (zuletzt 1895 in Bern, [* 23] 1897 in Petersburg) und Herausgabe statist. Veröffentlichungen zu fördern. Auch die seit 1878 wiederholt (zuletzt 1894 in Budapest) abgehaltenen internationalen Kongresse für Hygieine und Demographie dürfen in gewisser Beziehung als private Fortsetzung der frühern statist. Kongresse angesehen werden.
Die amtlichen statist. Veröffentlichungen bestehen zunächst aus den aus dem Material gewonnenen Tabellenwerken, die ihrerseits den Rohstoff für weitere Verarbeitung bilden. So erscheinen in Deutschland [* 24] jährlich mehrere Bände der «S. des Deutschen Reichs» nebst «Vierteljahrsheften (früher Monatsheften) zur S. des Deutschen Reichs», ferner die «Preußische S.» in zwanglosen Heften und mehrere ähnliche Publikationen der übrigen Einzelstaaten und der städtischen Ämter. In Frankreich giebt das Centralbureau eine «Statistique générale de la France» heraus; außerdem werden auch von seiten verschiedener Ministerien regelmäßige Veröffentlichungen veranstaltet. In England liefert der «Registrar general» das bevölkerungsstatist., das Bureau des Board of trade das wirtschaftsstatist. Material. In Österreich [* 25] ist das Hauptquellenwerk die von der statist. Centralkommission herausgegebene «Österreichische S.». Die ital. Direktion der Allgemeinen S. liefert reichhaltiges bevölkerungsstatist. Material; daneben erscheinen auch zahlreiche ¶
mehr
Veröffentlichungen der Abteilung für Handel und Industrie im Handelsministerium. In vielen Ländern geben die statist. Bureaus außerdem gedrängte Übersichten der wichtigsten Daten auf allen Gebieten, meistens mit Rückblicken auf frühere Jahre, heraus. Solche «Statist. Jahrbücher» erscheinen z. B. für das Deutsche Reich, für Preußen (fünfjährig), Sachsen, [* 27] Bayern, [* 28] Württemberg, [* 29] für Österreich, Ungarn, [* 30] Frankreich, Italien, [* 31] Schweden, Norwegen, Belgien, [* 32] die Niederlande, [* 33] Finland, Japan, [* 34] vereinzelt für Rußland, neuerdings auch für Dänemark, [* 35] Serbien, [* 36] endlich für einige südamerik.
Staaten und engl. Kolonien. Das engl. Handelsamt giebt als Blaubuch den «Statistical Abstract for the United Kingdom» heraus. Ähnliche «Abstracts» erscheinen für Indien und für sämtliche Kolonien. Nach dem engl. Vorbilde giebt auch das Statistische Bureau des Schatzsekretariats der Vereinigten Staaten [* 37] jährlich einen «Statistical Abstract for the United States» heraus. Eine dritte Klasse der amtlichen statist. Veröffentlichungen bilden die statist. Zeitschriften, in denen mehr ausgebildete Einzeldarstellungen, theoretische Untersuchungen und ähnliche Abhandlungen erscheinen.
Hierher gehören die Zeitschriften der preuß., bayr. und sächs. Statistischen Bureaus, die «Österr. statist. Monatsschrift», die ital. «Annali di statistica». Private Unternehmungen ähnlicher Art sind das «Allgemeine statist. Archiv», hg. von G. von Mayr,das «Journal de la Société de statistique de Paris», das «Journal of the Royal Statistical Society» in London und das «Bulletin de l’Institut international de statistique» in Rom. (S. auch den Artikel Graphische [* 38] Darstellung.)
Litteratur. Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der S. (Tüb. 1843);
Knies, Die S. als selbständige Wissenschaft (Cass. 1850);
Jonak, Theorie der S. (Wien 1856);
Rümelin, Reden und Aufsätze (Freib. i. Br. und Tüb. 1875; Neue Folge 1881);
Ad.
Wagner, Statistik
(im «Staatswörterbuch» von Bluntschli und Brater, 11 Bde., Stuttg. 1856‒70);
Mayr, Die Organisation der amtlichen S. und die Arbeitsthätigkeit der Statistischen Bureaus (Münch. 1876);
Block, Handbuch der S. (deutsch von H. von Scheel, Lpz. 1879);
Wappäus, Einleitung in das Studium der S. (ebd. 1881);
Haushofer, Lehr- und Handbuch der S. (2. Aufl., Wien 1882);
John, Geschichte der S. (Bd. 1, Stuttg. 1884);
Meitzen, Geschichte, Theorie und Technik der S. (Berl. 1886);
Sigwart, Logik (Bd. 1, 2. Aufl., Freib. i. Br. 1889; Bd. 2, 1878);
Hasse, Die Organisation der amtlichen S. (Lpz. 1888);
Westergaard, Die Grundzüge der Theorie der S. (Jena [* 39] 1890);
E. Mischler, Handbuch der Verwaltungsstatistik
(Bd.
1, Stuttg. 1892);
Reichesberg, Die S. und die Gesellschaftswissenschaft (ebd. 1893);
Artikel «Statistik»
im «Handwörterbuch
der Staatswissenschaften», Bd. 6 (Jena 1894);
von Mayr, S. und Gesellschaftslehre (Bd. 1, Freib. i. Br. 1895).