Stammeln
und Stottern, Ausdrücke, die im gemeinen Leben häufig irrtümlich als gleichbedeutend gebraucht werden, aber zwei wohl unterschiedene Klassen von Sprachfehlern bezeichnen.
Stammeln
564 Wörter, 4'236 Zeichen
Medicin — Specielle Pathologie — Krankheiten der Sinnesorgane, Stimm- und Sprachfehler
Stammeln
und Stottern, Ausdrücke, die im gemeinen Leben häufig irrtümlich als gleichbedeutend gebraucht werden, aber zwei wohl unterschiedene Klassen von Sprachfehlern bezeichnen.
Stammeln
(Balbuties, Dysarthria literalis) heißt das
Unvermögen, einzelne oder mehrere zusammenhängende
Laute richtig
auszusprechen oder zu artikulieren. Je größer die Anzahl dieser
Laute ist, desto mehr leidet die
Sprache
[* 2] dabei,
und während der niedrigste
Grad des Stammelns
, das sog. Anstoßen mit der
Zunge, kaum auffällt, ist der höchste, das Lallen
(Lallatio), kaum noch Sprechen zu nennen. In vielen dieser Fälle können namentlich die
Konsonanten und unter diesen wieder
das
s, r und l gar nicht oder nur mit Anstrengung richtig ausgesprochen werden.
Die Ursache dieses Sprachfehlers liegt häufig in organischen Abnormitäten der Sprachwerkzeuge, z. B. Hasenscharte, Wolfsrachen, Öffnungen im Gaumen, Mangel des Zäpfchens, Fehlern der Zähne, [* 3] der Zunge, des Zungenbändchens, bisweilen auch in unrichtigem Gebrauche der genannten Organe, verursacht durch Schwäche, Lähmung und Krampf infolge allgemeiner Nervenkrankheiten, Anomalien im Gehirn [* 4] oder Rückenmark, oder lediglich durch Nachahmung und daraus folgender Angewöhnung. Dazu geneigt ist das Kindes- und Greisenalter aus leicht begreiflichen Gründen, allein auch schweres Gehör [* 5] und Geistesschwäche geben eine Disposition dazu. Hinsichtlich der Behandlung ist außer der Beseitigung der ursächlichen Momente noch eine länger fortgesetzte sprachgymnastische Behandlung erforderlich.
Stottern (Ischophonia, Dysarthria syllabaris) nennt man das momentane Unvermögen, ein Wort oder eine Silbe auszusprechen, das durch einen nicht nur die Sprachorgane, sondern auch die Atmungswerkzeuge ergreifenden Krampf veranlaßt wird. Der Stotternde pflegt, wenn er bei einer Silbe Anstoß findet, die unmittelbar vorhergehenden Laute öfter zu wiederholen oder unartikulierte Töne einzuschieben, oder die Stimme versagt ihm für einige Zeit gänzlich. Namentlich ist es der Anschluß der Vokale und Konsonanten, der dem Stotternden sehr große Anstrengung kostet.
Häufig tritt das Stottern zurück oder verschwindet momentan, wenn der Stotterer singt oder mit Pathos deklamiert und dadurch seine Befangenheit verliert. Das Stottern hängt bald von körperlichen, bald von psychischen Ursachen und besonders von einer eingeschränkten Gewalt des Willens über die Bewegungsnerven der Zunge und ihrer Muskeln [* 6] ab. Außerdem können auch Vererbung der Anlage, schlechtes Beispiel und üble Erziehung Schuld an diesem Sprachfehler tragen.
Das Stottern ist ein sehr verbreitetes Übel, Klencke rechnet einen Stotterer auf 600 Menschen; Frauen stottern seltener als Männer. Bei der Behandlung des Stotterns wird zwar umsichtige Bekämpfung der entferntern Ursachen und Herbeiführung aller Bedingungen, die erfahrungsgemäß diesen Sprachfehler vermindern, einen guten Grund zur Besserung legen; vor allem aber ist eine methodische Gymnastik der Atmungs- und Sprachwerkzeuge, sowie Übung in ungewohnten Stellungen und schnellen Bewegungen der Zunge als eine ganz unerläßliche Vorbedingung der Heilung zu erwähnen.
Dieses schon den Alten (Demosthenes) bekannte Verfahren erfuhr durch Mad. Leigh in Neuyork [* 7] eine systematische Ausbildung und Anwendung, die von ihrer Erfinderin sowie von den Gebrüdern Malebouche, die es nach Frankreich und Holland, und von Charlier, der es nach Deutschland [* 8] brachte, anfangs geheimgehalten, später aber bekannt geworden, durch Schultheß, Bansmann und Otto bedeutend verbessert wurde. Am besten wird die Behandlung des Stotterns in eigens für Stotterer eingerichteten Anstalten unter Leitung sachverständiger Ärzte ausgeführt.
Eine empfehlenswerte Anstalt derart ist die von
Rudolf
Denhardt in Eisenach.
[* 9]
Über die Gutzmannsche Methode
zur
Heilung des Stammelns
und
Stotterns, s. Bd. 17.
Vgl. Klencke, Die Heilung des Stotterns (2. Aufl., Lpz. 1862);
Lehweß, Radikale Heilung des Stotterns (Braunschw. 1868);
Kußmaul, Die Störungen der Sprache (3. Aufl., Lpz. 1885);
Gutzmann, Das Stottern (4. Aufl., Berl. 1892 - 95);
Coën, Das Stotterübel (Stuttg. 1889);