Staatsanwa
ltschaft.
Der Anklageprozeß (s. Anklage), welcher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. die herrschende Form des Strafverfahrens geworden ist, erfordert zu seiner Durchführung die Vertretung der Anklage durch eine dem Angeklagten gegenüberstehende Partei. Dies kann der durch die Strafthat des Angeklagten Verletzte (s. Privatklage), oder ein beliebiger Bürger (s. Popularklage), oder, sobald der Staat die Verfolgung der Verbrechen zu seinen Aufgaben zählt, ohne wie im Inquisitionsprozeß (s. d.) Ankläger und Richter in einer Person zu vereinigen, ein dazu besonders berufener Beamter sein.
Während in England noch heutzutage grundsätzlich die Verfolgung von Verbrechen Recht und Pflicht jedes Bürgers ist und selbst da, wo die Verfolgung von Staats wegen geschieht, die Anklage von dem Attorney general oder seinem Vertreter, dem Solicitor general, nur als von einem Anwalt des Ministeriums erhoben wird, hat sich in Frankreich aus Anfängen, die bis ins 15. Jahrh. zurückreichen, nach den Schwankungen der Revolution unter dem ersten Kaiserreich eine festgegliederte Anklagebehörde: Ministère public, in Deutschland [* 2] S. genannt, ausgebildet, der Napoleon 1810 die im ganzen noch jetzt bestehende Verfassung gab. Hiernach bilden die S. der Generalprokurator am Kassationshofe, die Generalprokuratoren mit ihren Stellvertretern an den Appellhöfen und die Staatsprokuratoren (jetzt Procureurs de la république) bei den Gerichten erster Instanz. Der erstgenannte empfängt unmittelbar vom Justizminister seine Befehle und erteilt sämtlichen Beamten der Staatsbehörde durch die Generalprokuratoren die nötigen Weisungen.
Die deutschen Rheinlande hatten mit dem franz. Recht zugleich die S. unter unbedeutenden Abänderungen ihrer Zuständigkeit bewahrt. In der Mehrzahl der übrigen deutschen Staaten fand das Institut seit 1848, wiewohl unter Beschränkung auf das Strafverfahren, Eingang. Nach dem deutschen Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. und der Strafprozeßordnung vom sowie nach der Österr. Strafprozeßordnung vom hat die S. in Deutschland und Österreich [* 3] eine im wesentlichen übereinstimmende Gestaltung.
Bei jedem Gericht soll eine S. bestehen; das Amt derselben wird ausgeübt bei dem Deutschen Reichsgericht durch einen Oberreichsanwalt und mehrere Reichsanwälte (s. d.), bei dem Obersten Gerichts- und Kassationshof (s. d.) in Wien [* 4] durch einen Generalprokurator, bei den deutschen Oberlandesgerichten und Landgerichten (einschließlich der Schwurgerichte) durch einen oder mehrere Staatsanwälte, von denen die bei den Oberlandesgerichten in den meisten deutschen Staaten den Amtstitel Oberstaatsanwalt (s. d.) führen, bei den österr.
Oberlandesgerichten durch einen
Oberstaatsanwalt und bei den österr. Gerichtshöfen erster Instanz durch einen
Staatsanwalt,
bei den deutschen
Amts- und Schöffengerichten durch
Amtsanwälte (s. d.), bei den österr.
Bezirksgerichten durch
Beamte der
S., der polit. und Polizeibehörden oder besonders ernannte «staatsanwa
ltschaftliche
Funktionäre». Die dem ersten
Beamten der S. (bei den deutschen Landgerichten meist Erster
Staatsanwalt
genannt) als
Vertreter beigegebenen
Beamten sind ohne besondern
Auftrag zu allen Amtsverrichtungen desselben berechtigt.
Die
Oberstaatsanwälte und die ersten
Beamten der S. sind berechtigt, innerhalb ihres Geschäftskreises jede Strafsache selbst
zu übernehmen oder einem andern ihnen unterstellten staatsanwa
ltschaftlichen
Beamten zu übertragen.
Die S., zu deren Ämtern, abgesehen von den
Amtsanwälten, nach dem deutschen Gerichtsverfassungsgesetz nur zum Richteramt
befähigte
Beamte ernannt werden dürfen, ist in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig; die
Beamten der S.
sind dagegen an die dienstlichen
Anweisungen ihrer Vorgesetzten gebunden. In
Österreich sind die
Staatsanwälte den
Oberstaatsanwälten,
diese und der Generalprokurator dem Justizminister unmittelbar untergeordnet; in
Deutschland steht das
Recht der
Aufsicht und Leitung dem Reichskanzler hinsichtlich des Oberreichsanwalts und der Reichsanwälte, den einzelnen Landesjustizverwaltungen
hinsichtlich aller staatsanwa
ltlichen
Beamten ihres
Staates, den ersten
Beamten der S. bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten
hinsichtlich aller
Beamten der S. ihres
Bezirks zu. Doch haben in denjenigen Sachen, in denen das Reichsgericht
(s. d.) in erster und letzter Instanz zuständig ist, alle
Beamten der S. im
Deutschen
Reich den
Anweisungen des ihnen im übrigen
nicht vorgesetzten Oberreichsanwalts Folge zu leisten.
Der Hauptberuf der S. ist die Vorbereitung, Erhebung und Durchführung der öffentlichen Klage; nach dem in §. 152 der Deutschen und §. 34 der Österr. Strafprozeßordnung zum Ausdruck gelangten Legalitätsprincip (s. d.) ist die S. verpflichtet, von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen, alle gerichtlich strafbaren Handlungen zu verfolgen; diese Verpflichtung hat ihre Grenze da, wo die ausschließliche Berechtigung der S. zur Erhebung der Anklage (Anklagemonopol) aufhört, d. h. in Österreich bei allen nur auf Begehren eines Beteiligten zu verfolgenden Handlungen, in Deutschland bei den im Wege der Privatklage zu verfolgenden Delikten. Doch kann der Staatsanwalt in Österreich auch hier auf Wunsch des Privatanklägers dessen ¶
mehr
Vertretung übernehmen, in Deutschland die öffentliche Klage erheben, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Dem mehr oder minder weitgehenden Anklagemonopol der S. steht andererseits in Österreich die subsidiäre Privatanklage, in Deutschland die Befugnis des Verletzten gegenüber, wegen versagter Verfolgung auf gerichtliche Entscheidung anzutragen. (Das Nähere hierüber s. Privatklage.) Die Vorermittelungen werden von der S. teils selbständig unter Mitwirkung der Beamten der Sicherheits- und Polizeibehörden («Hilfsbeamte der S.»),
welche ihren Anordnungen Folge zu leisten haben, teils durch Ersuchen der Amts- oder Bezirksgerichte geführt, teils auf Antrag der S. durch gerichtliche Voruntersuchung (s. d.) erhoben. Bis zur Erhebung der öffentlichen Klage, als welche auch der Antrag auf Voruntersuchung gilt, bleibt die S. Herrin des Verfahrens; aber die erhobene Klage kann nach §. 154 der Deutschen Strafprozeßordnung nicht mehr zurückgenommen, sondern muß durch Beschluß oder Urteil des Gerichts erledigt werden, während nach §. 259 der Österr.
Strafprozeßordnung dem Ankläger in strenger Durchführung des Anklageprincips der Rücktritt von der Anklage freisteht, bis sich der Gerichtshof zur Fällung des Urteils zurückzieht. Anträge auf Einstellung des Verfahrens oder auf Freisprechung sind der S. auch im deutschen Strafprozeß nicht verwehrt, nur ist das Gericht nicht an dieselben gebunden. Nach der 1896 gescheiterten Novelle zur Strafprozeßordnung sollte sie zu Gunsten des Angeklagten auch Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses vor der Hauptverhandlung beantragen dürfen. Auch in der Hauptverhandlung (s. d.) erscheint die S. nur äußerlich als Partei; sie hat überall die Pflicht, die Wahrheit zu erforschen, nicht bloß zur Belastung, sondern auch zur Entlastung des Angeklagten; sowohl nach der Deutschen (§. 338) als nach der Österr. Strafprozeßordnung (§§. 282, 283) ist sie befugt, Rechtsmittel zu Gunsten des Angeklagten einzulegen. Wegen der dem Generalprokurator zustehenden Nichtigkeitsbeschwerde «zur Wahrung des Gesetzes» s. Nichtigkeitsbeschwerde. Nach §. 483 der Deutschen Strafprozeßordnung erfolgt auch Strafvollstreckung (s. d.) durch die S., nach §§. 34, 401-405, 407, 408 der Österr. Strafprozeßordnung steht ihr eine gewisse Mitwirkung dabei zu.
Nach der Deutschen Civilprozeßordnung ist in Ehesachen (s. Eheprozeß) und Entmündigungssachen (s. Entmündigung) die Zuziehung der S. geboten; ebenso erfordert das ehrengerichtliche Verfahren gegen Rechtsanwälte (s. Ehrengericht) die Mitwirkung der S. Landesgesetzlich ist derselben ein weiterer Wirkungskreis besonders im Disciplinarverfahren und bei der Justizverwaltung zugewiesen. Mit fast den nämlichen Attributen ist die S. in mehrern Schweizerkantonen, in Italien, [* 6] Spanien, [* 7] Belgien, [* 8] Holland ausgestattet. In dem Gesetze vom (Prosecution of offences Act) ist auch in England ein Schritt zur Einführung der S. geschehen.
Litteratur. Holtzendorff, Die Umgestaltung der S. (Berl. 1865);
Gneist, Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung (ebd. 1874);
Schütze, Das staatsbürgerliche Anklagerecht (Graz [* 9] 1876);
von Marck, Die S. bei den Land- und Amtsgerichten in Preußen [* 10] (Berl. 1884);
Chuchul, Das Bureauwesen der S. bei den Landgerichten (Cassel 1884);
Glaser, Handbuch des Strafprozesses, Bd. 2 (Lpz. 1885);
von Kries, Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts (Freiburg [* 11] 1892), §. 27; Em. Ullmann, Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts (Münch. 1893), §§. 56 und 57; Artikel S. im 2. Ergänzungsband zu Stengels «Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts (Freiburg 1893).