Spiritismus
(vom lat. spiritus, Geist) oder auch Spiritualismus, moderner Ausdruck für den von Urzeiten her in der Menschheit festwurzelnden Glauben an die Möglichkeit eines Verkehrs mit den Seelen Verstorbener durch Beschwörung und Zaubermittel. Je wilder und roher die Zustände der Menschheit sind, desto mehr pflegt dieser Glaube zu herrschen. Am stärksten verbreitet ist er bei den wilden Völkern (s. Schamanismus), aber auch das heidn. und jüd. Altertum nebst dem Mittelalter sind seiner Spuren voll.
Obgleich die theoretische Unmöglichkeit eines derartigen Geisterverkehrs keineswegs streng beweisbar ist und deshalb unter den Denkern gerade die gründlichsten, wie Kant und Lessing, sich immer am meisten vor einem dreisten Absprechen in dieser Angelegenheit gehütet haben, so ist doch außer Zweifel, daß überall, wo sich ein solcher Geisterspuk im geselligen Betriebe ans Licht [* 2] der Öffentlichkeit wagt, auf der Stelle alle die schlimmen Folgen eintreten, die teils lügenhafter Selbstbetrug, teils hinterlistiger Betrug anderer mit sich führen.
Gewöhnlich beginnt die Sache mit unbewußter Selbsttäuschung und endigt mit bewußter Mystifikation der leichtgläubigen Menge. Das hervorragendste Beispiel eines ins Große getriebenen Betrugs dieser Art gab im 18. Jahrh. der berüchtigte Cagliostro. Als man im 18. Jahrh. diesen Glauben vollständig zu überwinden hoffte, erneuerte sich durch den vorgeblichen Geisterverkehr Swedenborgs sowie durch den tierischen Magnetismus, [* 3] den Mesmer auf die Bahn brachte, der Spuk ärger denn je. Insbesondere wurde während der ersten Hälfte des 19. Jahrh. durch magnetisierende Ärzte aus der Schule der Schellingschen Naturphilosophie die öffentliche Aufmerksamkeit stark auf gewisse merkwürdige Erscheinungen des Dämonismus oder Besessenseins hingelenkt. Justinus Kerner (s. d.) besonders machte sich aus der Beobachtung solcher Krankheitszustände eine Lebensaufgabe.
Der moderne S. geht von Nordamerika
[* 4] aus, wo zuerst in der Familie eines
Deutschen,
Voß, der seinen
Namen in
Fox anglisiert hatte
(1848 in Hydesville im
Staate Neuyork),
[* 5] das
Tischrücken (s. d.) und
Geisterklopfen erfunden und als eine
Quelle
[* 6] der Offenbarungen geisterhafter Wesen
(Spirits) bekannt gegeben wurde.
Gleich einer
Epidemie breitete sich nun der S.,
trotz aller Bekämpfung durch die Wissenschaft, über Nordamerika aus, offenbar begünstigt durch den von den Quäkern gepflegten
Glauben an
Geister, göttliche
Erleuchtungen
u. dgl. m. 1852 zählte man in
Philadelphia
[* 7] bereits 300 spirituali
stische
Zirkel und 1853 an 30000 Medien in den
Vereinigten Staaten.
[* 8]
Auch eine umfängliche Litteratur entstand mit förmlichen Theorien der spiritistischen Erscheinungen, einer eigenen, zum Teil recht geschmacklosen Terminologie, so daß das Zerrbild einer «Wissenschaft» entstand, die thatsächlich jeder soliden Grundlage entbehrt, indes noch gegenwärtig so zahlreiche Anhänger zählt, daß die Gründung einer Professur für S. an der Universität in Philadelphia in Aussicht genommen werden konnte. Der Hauptschriftsteller über die unzähligen Offenbarungen des Jenseits ist Andreas Jackson Davis. ¶
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Die hervorragendsten «wissenschaftlichen» Verteidiger waren in Amerika [* 10] der Philadelphiaer Chemiker Hare und der Neuyorker Richter Edmonds, besondern Rufes erfreute sich auf Grund seiner spiritistischen Leistungen Hume oder Home. Es bildeten sich alsbald auch in Frankreich und Deutschland [* 11] Gesellschaften zur Auskundschaft des Jenseits. Lebensbeschreibungen längst verstorbener Personen wurden nach deren eigenen Diktaten in den Druck gegeben, ihre Porträte [* 12] aus dem Jenseits gezeichnet, dabei auch Gedichte und musikalische Kompositionen seliger und unseliger Geister dem Publikum zur Beurteilung vorgelegt. Als litterar. Ausgeburten dieser Sache sind bemerkenswert: Cahagnet, Der Verkehr mit den Verstorbenen auf magnetischem Wege (aus dem Französischen von Neuberth, 2 Bde., Hildburgh. und Lpz. 1851);
Hornung, Neue Geheimnisse des Tags (Lpz. 1857);
M. Eliphas Levi, La scienze des espirits (Par. 1865);
Epp, Seelenkunde (Mannh. 1866). - In England wurde der S. zuerst durch eine Mistreß Hayden 1852 eingeführt und durch Home weiter verbreitet. Selbst namhafte Naturforscher traten hier für den S. in die Schranken, so A. R. Wallace (s. d.) und der Chemiker Crookes. In Deutschland wurde neuerdings hauptsächlich durch Slade das Interesse für den S. erweckt, der insbesondere an dem Astrophysiker F. Zöllner einen begeisterten Anhänger fand. Doch wirkten schon vorher Aksakow, Perty u. a. insbesondere litterarisch.
Dem S., soweit er nicht reiner Humbug ist, liegt im wesentlichen die Anschauung zu Grunde, daß der Geist ein vollständiges existenzfähiges Wesen sei, das beim Tode (wie auch im Leben gelegentlich) den Körper verläßt und fortbesteht und daß solche vollständig gewordene Geister (Spirits) uns umgeben. Im Leben sind sie durch das Perisprit (eine ätherartige Substanz) an den Körper gebunden. Letzteres durchdringt den ganzen Körper und wird von manchen Personen im Überfluß besessen, so daß dieselben befähigt sind, andere oder frei gewordene Geister zu binden, sie zu materialisieren.
Derartig besonders begabte Individuen heißen Medien. Durch Vermittelung derselben kommt es zu «mediumistischen» Kundgebungen, zu Manifestationen der Geister. Letztere werden entweder sichtbar und auch photographierbar («Geisterphotographien», ein besonders in Amerika schwunghaft betriebener Humbug), oder hörbar, indem sie sprechen, klopfen (Klopfmedien), oder sie sprechen durch den Mund von Medien, oder sie lenken die Hände von Medien so, daß diese Inspiriertes niederschreiben (Schreibmedien, die sich in der Neuzeit meist des von Dr. Hare erfundenen Psychographen bedienen, einer Platte mit einem horizontal beweglichen Zeiger, der mit der Spitze auf einen eingeteilten Halbkreis weist und sich bewegt, sobald er am andern Ende berührt wird).
Auch können gewisse Geister direkt (ohne Medium) schreiben, wie sie auch Fußstapfen hinterlassen auf berußten Tafeln, in Gipsplatten u. s. w. Von weitern «Leistungen» der Geister ist zu erwähnen das Spielen musikalischer Instrumente (die dabei gelegentlich sich im Zimmer herumbewegen, «fliegen», z. B. Harmonikas), das Entfesseln gebundener Medien (Davenport Boys aus Buffalo), Knotenknüpfen innerhalb geschlossener Schnüre, Ineinanderstecken geschlossener Ringe, Bewegungen von Tischen, Zertrümmern von Möbeln. Meist gelingen die Manifestationen nur unter gewissen Bedingungen, wie Dunkelheit, Vereinigung der Zuschauer in einen geschlossenen Kreis, [* 13] event. Einschüchterung durch auffallende Maßnahmen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich bei den genannten «mediumistischen» Manifestationen um Vorgänge handelt, die auch auf durchaus natürlichem Wege zu stande kommen können. Die betreffenden Medien besitzen einesteils eine große Kunstfertigkeit in gewissen Bewegungen, vielleicht zum Teil unter Beihilfe ungewöhnlicher Organisationsverhältnisse der Muskulatur, so daß sie Bewegungen rasch und mit Kraft [* 14] (hörbar) ausführen können, die andere gar nicht oder nur schwach zu vollbringen vermögen (z. B. die Füße vollständig wie Hände gebrauchen), andernteils verwerten sie geschickt gewisse psychol.
Kunstgriffe, indem sie die Zuschauer verhindern, ihre Aufmerksamkeit im gegebenen Moment auf die Maßnahmen des Mediums zu richten, was auch aus den antispiritistischen Enthüllungen früherer Medien, z. B. Home, und aus der wiederholt gelungenen Entlarvung (z. B. durch Erzherzog Johann von Österreich) [* 15] der Betrüger klar hervorgeht. Nur dadurch, daß man irrtümlicherweise den soeben geschilderten S. mit Erscheinungen ganz anderer Natur in Verbindung brachte, konnte der Schein entstehen, daß man es thatsächlich mit übernatürlichen neuen Phänomenen zu thun habe.
Hier ist vor allem die Verquickung des Somnambulismus mit dem S. zu nennen, die nur insofern sich berühren, als auch unter den Somnambulen sich zahlreiche Betrüger befinden. Die thatsächlichen Erscheinungen des Somnambulismus (s. d.) gehören, soweit es sich um den Rapport mit dem Jenseits handelt, in das Gebiet der deliranten Zustände (s. Delirium). Im übrigen beweisen dieselben keineswegs die Unabhängigkeit (Lösbarkeit) des Geistes vom Körper, wie auch die gesteigerte Sensitivität der Somnambulen keineswegs zu übersinnlichen Leistungen führt (der Geruch des Hundes, der Ortssinn der Vögel [* 16] stehen auch weit über den Leistungen der Somnambulen). Es ist deshalb auch ungerechtfertigt, Reichenbachs Lehre [* 17] vom Od (s. d.), Braids hypnotische Versuche u. a. m. in Zusammenhang mit dem modernen S. zu bringen.
Daß uns noch zahlreiche Eigenschaften der Materie unbekannt sind, daß wir die seelischen Erscheinungen wie die Funktionen des Nervensystems noch sehr unvollkommen kennen und in diesen Beziehungen noch auf manche Überraschungen gefaßt sein müssen, ist zweifellos. Daraus folgt indes keineswegs, daß Crookes «strahlende Materie» und «vierter Aggregatzustand», Zöllners Spekulationen über vierdimensionale Wesen wissenschaftliche Beweise spiritistischer Anschauungen sind. (S. Occultismus.)
Aus der reichhaltigen Litteratur über den S. sind hervorzuheben: James Braid, Neurypnology, or the rationale of nervous sleep considered in relation with animal magnetism (Lond. 1813);
Table-turning and table-talking (ebd. 1853);
Godfrey, Table-moving tested and proved to be the result of satanic agency (ebd. 1853);
Table-turning, the devil's modern master-piece (ebd. 1853);
Gillson, Table-talking, disclosures of satanic wonders and prophetic signs (ebd. 1853);
Howilt, The history of the supernatural (2 Bde., ebd. 1863);
Owen, Footfalls on the boundary of another world (ebd. 1860 u. ö.);
ders., The debatable land between this world and the next (ebd. 1870; deutsch Lpz. 1875);
Hare, Experimental investigations of the spirit manifestations (Neuyork 1858; deutsch Lpz. ¶
[* 18] ^[Abb. 1. Dämpfer [* 19] mit Maischapparat.]
[* 18] ^[Abb. 2. Maischappa (System Pauksch).]
[* 18] ^[Abb. 3. Maischappa mit Kühlröhren (System Plintsch.]
[* 18] ^[Abb. 5. Hefekammer und Gärraum mit beweglichen Kühlvorrichtungen.] ¶
[* 20] ^[Abb. 1. Röhrenkühler.]
[* 20] ^[Abb. 2. Maischeent (System Müller-Eberhardt).]
[* 20] ^[Abb. 3. Pistoriusscher Apparat.]
[* 20] ^[Abb. 4. Kontinuierlicher Destillierapparat.]
[* 20] ^[Abb. 5. Ilgesscher Automat.] ¶
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1871); Hume, Incidents in my life (Lond. 1863);
Robert-Houdin, Confidences d'un prestidigitateur (2 Bde., Par. 1859);
Schindler, Das magische Geistesleben (Bresl. 1857): Perty, Die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur (Lpz. 1861);
Aksakow, Bibliothek des Spiritualismus (ebd. 1867);
ders., Animismus und S. (2. Aufl., ebd. 1891);
Crookes, Der Spiritualismus und die Wissenschaft (nach dem Russischen und Englischen ins Deutsche [* 22] übersetzt von Wittig, ebd. 1872);
Dixon, Neu-Amerika (Jena [* 23] 1868, aus dem Englischen);
Edmonds, Der amerik.
Spiritualismus (deutsch, Lpz. 1873);
Wallace, Die wissenschaftliche Ansicht des Übernatürlichen (deutsch, ebd. 1871);
ders., Eine Verteidigung des modernen Spiritualismus (deutsch, ebd. 1875);
Bericht über den Spiritualismus vom Komitee der Dialektischen Gesellschaft zu London [* 24] (3 Tle., deutsch, ebd. 1875);
Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen (4 Bde., ebd. 1877-81);
Perty, Der jetzige Spiritualismus (ebd. 1877);
Hellenbach, Die neuesten Kundgebungen einer intelligibeln Welt (Wien [* 25] 1882);
ders., Geburt und Tod (ebd. 1885);
A. Bastian, In Sachen des S. (Berl. 1886);
J. H. von Fichte, [* 26] Der neuere Spiritualismus (Lpz. 1878);
H. Ulrici, Der sogenannte S. (in der «Zeitschrift für Philosophie und philos. Kritik», Bd. 74,1879);
dagegen W. Wundt, Der S., offener Brief an Herrn Professor Ulrici in Halle [* 27] (Lpz. 1879; wieder abgedruckt in «Essays», ebd. 1886);
E. von Hartmann, Der S. (ebd. 1885);
Die Geisterhypothese des S. und sein Phantom (ebd. 1891);
C. du Prel, Studien auf dem Gebiete der Geheimwissenschaften (2 Bde., ebd. 1890-91);
Der S. (ebd. 1893);
Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften (2 Bde., ebd. 1893-94);
F. Schultze, Die Grundgedanken des S. (ebd. 1883).
Zur Verbreitung des E. und seiner Doktrinen
erscheint in London eine Zeitschrift: The Spiritualist;
in Deutschland: Psychische Studien, hg. von Aksakow (Lpz. 1874 fg.);
Die Sphinx. [* 28] Monatsschrift, hg. von Hübbe-Schleiden, dann von H. Göring (Lpz., Gera [* 29] und Braunschw. 1886 fg.);
Metaphysische Rundschau, hg. von Zillmann (Berl. 1896 fg.);
Zeitschrift für S. und verwandte Gebiete, hg. von Feilgenhauer (Leipzig, [* 30] seit 1897).