Sozialismus
(lat.), nach dem in der Wissenschaft noch heute üblichsten, auch in der deutschen Gesetzgebung und im großen Publikum herrschenden Sprachgebrauch die Bezeichnung für eine bestimmte Richtung, ein bestimmtes System zur Lösung der Arbeiterfrage (s. d.). Dieser S. unterscheidet sich scharf von dem Kommunismus (s. d.), obschon er mit demselben manche Grundanschauungen teilt, namentlich den Glauben an die unbedingte Lösung dieser Frage, die ausschließliche Zurückführung der für sie in Betracht kommenden Übelstände auf verkehrte menschliche Einrichtungen und die Forderung einer gänzlichen Umgestaltung des Wirtschaftsorganismus, der Rechtsordnung und des Staatswesens der Kulturvölker, nach welcher unter Beseitigung der individuellen wirtschaftlichen Freiheit die Gesamtheit die Verantwortlichkeit und Sorge für die ökonomische und soziale Lage der Einzelnen zu übernehmen habe.
Die ihm eigentümlichen, von allen andern sozialpolitischen Richtungen (s. Arbeiterfrage) verschiedenen Anschauungen und praktischen Forderungen haben sich erst allmählich in der Geschichte des S. klarer und schärfer herausgebildet. Dieselben sind heute folgende: der Kernpunkt der sozialen Frage ist ihm die ungerechte Verteilung der Güter, und diese führt er vorzugsweise auf die Einrichtung des privaten Grundeigentums und Erbrechts und auf die freie individualistische und kapitalistische Produktionsweise mit der Trennung von Unternehmern und Lohnarbeitern, mit dem Eigentum der erstern an den Produktionsmitteln und der Herrschaft des »ehernen Lohngesetzes« über die letztern zurück. Er vertritt die falsche Ansicht der ältern englischen Nationalökonomen, daß allein die Arbeit Werte erzeuge, und behauptet, daß infolge jener Ursachen die bisherige Vermögensbildung und die heutige Verteilung der neu produzierten Güter auf einer Ausbeutung der Lohnarbeiter durch Unternehmer, Grundeigentümer und Kapitalisten, mit andern Worten der Nichtbesitzenden durch die besitzende Klasse beruhe.
Diese ungerechte Verteilung ist ihm die wesentliche Ursache des Proletariats und aller andern Übelstände in den untern Volksklassen. Beseitigung dieser Übelstände erwartet er nicht wie der Kommunismus von der völligen Gleichheit aller, aber doch von einer sehr starken Ausgleichung der ökonomischen und sozialen Unterschiede und von einer gesellschaftlichen Verfassung, in welcher allein die Arbeit einen Anspruch auf Einkommen und Vermögen gibt. Das Einkommen soll nur noch Arbeitsertrag sein.
Bekämpft wird deshalb das private Grundeigentum, das Erbrecht und die Kapitalrente (Kapitalzins und Kapitalgewinn). Jene beiden Rechtsinstitutionen sollen durch Gesetz, diese Einkommensart soll durch eine neue Organisation der Produktion: die sozialistisch-genossenschaftliche (»kollektivistische«) Produktionsweise, abgeschafft werden. Das Wesen dieser besteht darin, daß nur noch in genossenschaftlichen Kollektivunternehmungen in planmäßiger Regelung (Beseitigung der Lohnarbeit und soziale Organisation der Arbeit) produziert wird, in welchen das Eigentum an den Produktionsmitteln (Grundstücken und Kapitalien) Kollektiveigentum der Gesellschaft ist und der Ertrag nur an die Arbeiter und gerecht verteilt wird (Beseitigung des Einkommens aus Kapital und Grundstücken und des »ehernen Lohngesetzes«). Diese Umwandlung der bisherigen Produktionsweise in die sozialistische und die planmäßige Regelung der letztern soll durch den Staat geschehen.
Die Manchesterschule (s. d.) bezeichnet als S. jede direkte Mitwirkung des Staats zur Lösung der sozialen Frage, insbesondere jede staatliche Maßregel, welche zum Schutz der Arbeiter die persönliche Freiheit in der Gestaltung der Arbeitsvertragsverhältnisse einschränkt. Daher kam es, daß, als Anfang der 70er Jahre Professoren der Nationalökonomie eine solche Mitwirkung des Staats forderten, Vertreter der Freihandelsschule (H. B. Oppenheim u. a.) ebendiese Forderungen sozialistische und, weil dieselben von den Inhabern akademischer Katheder ausgingen, letztere Kathedersozialisten (s. d.) nannten. Andre nennen noch allgemeiner S. jede Richtung, welche für die Volkswirtschaft im Gegensatz zu dem Individualismus (s. d.) das soziale Prinzip betont und für die Wirtschaftspolitik als Ausgangspunkt und Ziel nicht das Individuum mit ihm zugeschriebenen Trieben und Rechten (wie es die naturrechtliche Wirtschaftstheorie oder der Smithianismus thut), sondern die Gesellschaft nimmt. Im folgenden ist von dem S. im obigen Sinn die Rede.
Als eine selbständige Wirtschaftstheorie ist dieser S. ein Produkt des 19. Jahrh.; als sein Begründer gilt mit Recht der französische Graf Saint-Simon, der auch zuerst die Lösung der sozialen Frage als die große Aufgabe der modernen Gesellschaft hinstellte. Die Vertreter des S. stimmen in den oben erwähnten allgemeinen Grundanschauungen überein, im einzelnen aber gehen sie in ihren Ansichten wie in ihren Forderungen wieder weit auseinander, so daß man deshalb verschiedene sozialistische Systeme oder Theorien (insbesondere die des Saint-Simonismus, von Ch. Fourier, L. Blanc, F. Lassalle, K. Marx) unterscheidet. Saint-Simon (s. d. 2) hat seine sozialistischen Anschauungen nicht zu einem geschlossenen System entwickelt. Das geschah erst durch seine Schüler (die Saint-Simonisten), vor allen durch den hervorragendsten derselben, Bazard (s. d.). Dieselben nannten nach ihrem Lehrer und Meister dies System den Saint-Simonismus. Die soziale Frage betrachten sie nicht nur als eine ökonomische, sondern ebensosehr als eine moralische, religiöse und politische, da es sich in ihr um eine Reform aller Verhältnisse des Volkslebens
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handle. Von der Ansicht ausgehend, daß die Arbeit die Quelle aller Werte sei, sehen sie das Hauptunrecht in Staat und Gesellschaft darin, daß der nützlichste Stand, der der Arbeiter (industriels), den letzten Rang einnehme, zum weitaus größten Teil mißachtet, in traurigster Lage und politisch ohne Einfluß sei. Es sei deshalb eine neue Organisation der Gesellschaft zu bilden, in welcher die Klasse der Besitzenden und der »légistes« (Beamten, Gelehrten, Advokaten) wie die militärische Gewalt dem arbeitenden Teil der Gesellschaft untergeordnet sei, so daß an die Stelle der bisherigen feudalen Organisation des Staats eine »industrielle« trete, die zugleich das ideale Ziel Saint-Simons erreiche, »allen Menschen die freieste Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu sichern«.
Erziehung und Ausbildung sollen auf der Grundlage einer neuen Religion, eines neuen Christentums der Bruderliebe und werkthätigen Moral, die wirtschaftliche Thätigkeit durch eine Änderung der Rechtsordnung umgestaltet werden. Um eine gerechte volkswirtschaftliche Verteilung herbeizuführen, müsse die Arbeit zum einzigen Eigentumstitel gemacht und eine Verteilung nach dem Prinzip organisiert werden: »Jedem nach seiner Fähigkeit, und jeder Fähigkeit nach ihren Werken«.
Vor allem sei das Erbrecht der Blutsverwandtschaft abzuschaffen und durch ein Erbrecht des Verdienstes zu ersetzen. Die Güter der Einzelnen sollten nach ihrem Tode der Gesamtheit zufallen, der Staat als Vertreter derselben der Erbe sein und nun die ihm anfallenden Güter denjenigen zuweisen, die sie am besten zum Wohl des Ganzen gebrauchen würden. Außerdem sollten Staatsbanken zur leichtern Gewährung eines billigen Kredits gegründet werden. Der Unterricht sollte ein unentgeltlicher, öffentlicher und zwar der allgemeine theoretische ein gleicher für alle (mit besonderer Berücksichtigung der moralischen Ausbildung), der professionelle aber ein den individuellen Fähigkeiten entsprechender sein. - Die Saint-Simonisten haben später die Bazardsche Erbrechtsreform auf die Forderung hoher progressiver Erbschaftssteuern und Aufhebung des Erbrechts in den weitern Verwandtschaftsgraden beschränkt.
Gleichzeitig mit Saint-Simon, aber völlig unabhängig von ihm, entwickelte Ch. Fourier (s. d.) ein sozialistisches System, das durch seine Schüler, besonders durch V. Considérant (s. d.), um die Mitte der 30er Jahre in Frankreich allgemeiner bekannt wurde. Im Gegensatz zu Saint-Simon konstruierte er seine neue sozialistische Gesellschaftsordnung bis ins einzelne. Er stützt dieselbe auf eine eigentümliche wissenschaftlich unhaltbare Psychologie und auf eine eingehende Kritik der ökonomischen Zustände seiner Zeit, die neben vielem Falschen wertvolle Wahrheiten enthält.
Diese Zustände erscheinen ihm von Grund aus schlecht, weil die große Masse des Volkes, durch eine kleine Zahl ausgebeutet, eine elende Existenz führe und keine Freude an der Arbeit und am Dasein haben könne. Er findet es völlig verkehrt, daß die Produktion eine individualistische (in Einzelunternehmungen) mit freier Konkurrenz sei. Durch die Existenz der vielen kleinen Unternehmungen finde eine ungeheure Verschwendung in der Benutzung der Arbeitsmittel und -Kräfte statt; würde nur in großen genossenschaftlichen Unternehmungen produziert, so könnte mit gleichem Aufwand viel mehr produziert und bei gerechter Verteilung ein höheres Genußleben für die Arbeiter herbeigeführt werden.
Sie bewirke weiter eine solche Ausdehnung der Arbeitsteilung, daß die meisten Menschen keine Abwechselung bei der Arbeit hätten und diese dadurch, statt zu einer Freude, zu einer Last und für viele zu einer unerträglichen Last und Qual werde. Sie veranlasse endlich auch die Existenz einer großen Zahl an sich völlig überflüssiger Kaufleute und dadurch eine unnötige Verteurung der Produkte. Fourier findet ebenso die bestehende Art der Konsumtion in den Einzelwirtschaften völlig unwirtschaftlich. Er fordert deshalb eine genossenschaftliche Produktion und Konsumtion in großen Verbänden, die, etwa 300-400 Familien umfassend, möglichst alle Genußmittel für die Mitglieder herstellen, jedenfalls Landwirtschaft und Gewerbe betreiben, in einem großen Gebäude (Phalanstère) alle ihre Wohnungen und Arbeitsräume einrichten, in wenigen Küchen die Speisen für alle bereiten und zugleich für die Vergnügungen und den Unterricht sorgen. Er entwirft den Plan dieser sozialen Wirtschaftsorganismen, von ihm Phalangen genannt, im einzelnen und sucht nachzuweisen, daß sie, richtig organisiert, eine Garantie dafür bieten, daß jeder durch seine Arbeit die Mittel erlange, ein behagliches Genußleben zu führen, dabei an derselben Freude habe und für alle aus der freien naturgesetzlichen Entfaltung der Triebe die Harmonie der Triebe sich ergebe, die nach Fouriers Philosophie die Glückseligkeit der Menschen sei. Die Gründung der Phalangen soll aber nicht durch staatlichen Zwang, sondern durch den freien Willen der Einzelnen erfolgen. Fourier trug sich mit der überspannten Hoffnung, daß, wenn nur erst eine Phalange gebildet worden, die Phalangen sich allmählich über die ganze Welt verbreiten würden. Fourier stellte zuerst die Abschaffung der Lohnarbeit und Gründung großer Produktiv- und Konsumgenossenschaften als die Panacee für die soziale Frage auf.
Eine neue Ausbildung erfuhr der S. durch Louis Blanc (s. d.), zuerst in dessen kleiner Schrift über »Die Organisation der Arbeit« (1839). Auch er will die Lohnarbeit durch Produktivgenossenschaften beseitigen. Aber seine Produktivgenossenschaften sind wesentlich andrer Art als die Fourierschen Phalangen, und die Gründung derselben fordert er vom Staat. Wie bei dem bisherigen Wirtschaftssystem der große Unternehmer den kleinen, das große Kapital das kleine unterdrücke, so könne der Staat, als der größte Kapitalist, durch die Gründung von größern Unternehmungen als die bestehenden in der Form von Produktivgenossenschaften alle, auch die größten Unternehmer allmählich konkurrenzunfähig machen und so ohne Zwang und Gewalt der höchste Ordner und Herr der Produktion werden.
Wenn dies geschehen, habe er es in der Hand, durch die Regelung der innern Organisation dieser Genossenschaften und der Art der Ertragsverteilung den arbeitenden Klassen die genügende materielle Existenz zu sichern. Louis Blanc denkt sich dann die Entwickelung für die gewerbliche Produktion in drei Stadien. In dem ersten gründe der Staat die Ateliers sociaux für die verschiedenen Industriezweige, zunächst als Staatsunternehmungen; nach einiger Zeit aber wandle er sie um in reine Produktivgenossenschaften, überlasse die Verwaltung den Mitgliedern und beschränke sich nur auf die gesetzliche Regelung der Organisation und der Gewinnverteilung.
Diese Genossenschaften würden sofort die bessern Arbeitskräfte an sich ziehen und mit geringern Kosten produzieren, zumal wenn sie gleichzeitig große Konsumgenossenschaften errichten würden. Die bestehenden Unternehmungen würden gezwungen werden, entweder den Betrieb einzustellen, oder sich in solche Genossenschaften umzuwandeln. In dem zweiten Stadium sollen dann, damit keine Konkurrenz unter den Genossenschaften entstehe, die
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Ge-57 nossenschaften gleichartiger Produktionszweige sich zu größern Genossenschaften associieren, bis in jedem nur eine Landesgenossenschaft existiere. Im dritten associieren sich auch diese, so daß schließlich eine große Produktivgenossenschaft produziere, deren Organisation und Gewinnverteilung das Staatsgesetz regele. Eine Reform der Erziehung (mit obligatorischem und unentgeltlichem Unterricht) würde diese Entwickelung sichern. Um auch die Landwirtschaft zu reformieren, soll das Erbrecht der Seitenverwandten fortfallen, an ihrer Stelle soll die Gemeinde erben und mit dem ihr so anfallenden Vermögen ähnlich verwaltete landwirtschaftliche Produktivgenossenschaften gründen. Da von der herrschenden Gesellschaft mit monarchischer Staatsform eine Lösung dieser Aufgaben nicht zu erwarten sei, so müsse zunächst der Staat in eine sozialdemokratische Republik umgewandelt werden, in welcher die untern Klassen, im Besitz der Herrschaft, dann auf dem vorgezeichneten Weg vorgehen könnten.
Diese Ideen wurden in den 40er Jahren das Programm der französischen Sozialisten, an deren Spitze Louis Blanc stand. Er ist der Gründer der Sozialdemokratie, d. h. derjenigen Partei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einer demokratischen Republik erstrebt, um im Besitz dieser Herrschaft das sozialistische Programm zu verwirklichen. Modifiziert wurde dies Programm durch die Beschlüsse des Arbeiterparlaments, welches 1848 nach der Februarrevolution, von der provisorischen Regierung einberufen, im Palais Luxembourg unter dem Vorsitz von Louis Blanc tagte.
Nach denselben sollte ein eignes Ministerium (ministère du progrès) die sozialistische Reform herbeiführen: zunächst die Bergwerke und Eisenbahnen für den Staat ankaufen, das Versicherungswesen in Staatsanstalten zentralisieren, große Warenhallen und Vorratshäuser zu entgeltlicher Benutzung errichten, die französische Bank in eine Staatsbank umwandeln und mit dem Reinertrag aus diesen Geschäften industrielle und landwirtschaftliche Genossenschaften nach dem Plan Louis Blancs mit einigen Abänderungen desselben gründen. Zur Beseitigung einer verderblichen Konkurrenz sollte für alle Produkte durch gesetzliche Feststellung des auf die Kosten zu schlagenden Gewinns ein Normalpreis vorgeschrieben werden.
Eine andre Modifikation gab dem Blancschen S. Ferdinand Lassalle (s. d.). Er betrachtet die soziale Frage als Einkommensfrage, hervorgerufen durch die ungerechte Verteilung des Ertrags der Unternehmungen infolge des »ehernen Lohngesetzes« der freien Konkurrenz, nach welchem der Lohn stets um einen Punkt oszilliere, bei welchem er den Arbeitern nur die notdürftig Befriedigung der Existenzbedürfnisse gestatte. Die Lösung sieht er in der Beseitigung dieser Lohnregulierung und Abschaffung der Lohnarbeit durch Produktivassociationen mit Hilfe des Staats.
Aber dieser soll nicht, wie Louis Blanc will, dieselben gründen und ihre Organisation wie die Art der Gewinnverteilung bestimmen, sondern der Staat soll nur freiwillig sich bildende mit seinem Kredit unterstützen, wobei er zur Wahrung seines Interesses sich die Genehmigung der Statuten und eine Kontrolle der Geschäftsführung vorbehalten könne. Darin stimmt Lassalle wieder mit Louis Blanc überein, daß, um diese Staatsunterstützung zu erreichen, der Arbeiterstand sich zum herrschenden im Staat machen müsse. Er wähnte, daß die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung demselben in Deutschland zu dieser Herrschaft verhelfen würde, und forderte deshalb die deutschen Arbeiter auf, ihre ganze Agitation zunächst nur auf dieses Ziel zu richten.
Derjenige, der in neuerer Zeit den S. eigentlich allein in umfassender Weise und wirklich wissenschaftlich zu begründen versucht, ihm zugleich die radikalste Ausdehnung gegeben hat, ist Karl Marx (s. d.). In seinem Hauptwerk: »Das Kapital«, sucht er nachzuweisen, daß die Verteilung in der bisherigen Volkswirtschaft eine durchaus ungerechte sei, denn das Kapital entstehe und vermehre sich nur dadurch, daß es einen möglichst großen Teil des Arbeitsprodukts in sich aufsauge;
die Arbeit, nicht das Kapital setze dem Produkt Wert zu, der Arbeiter leiste stets mehr, als ihm im Lohn vergolten werde, der ihm nicht bezahlte Mehrwert seiner Leistung aber falle dem Eigentümer der Produktionsmittel zu und vermehre das Kapital.
Marx folgert daraus die Ungerechtigkeit eines Einkommens aus Kapital- und Grundbesitz. Weiter sucht er zu erweisen, daß aus der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise die sozialistisch-kooperative notwendig entstehen müsse. Zunächst würden in dem freien Konkurrenzkampf die Produktionsmittel sich in den Händen einer immer kleinern Anzahl konzentrieren, dadurch aber der Zustand für die Arbeiter endlich so unerträglich werden, daß dieselben, ihre Macht benutzend, die wenigen Expropriateure einfach expropriieren und, geschult und organisiert durch den bisherigen kapitalistischen Produktionsprozeß, auf der Grundlage gemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln in den schon bestehenden großen Unternehmungen weiter produzieren, den Ertrag derselben, entsprechend seiner ökonomischen Natur als Arbeitsertrag, aber fortan nur nach Maßgabe der Arbeitsleistungen verteilen würden.
Besser indes sei es, diesen Expropriations- und Produktionsumwandlungsprozeß zu beschleunigen. Die praktischen Konsequenzen hat dann der Agitator Marx gezogen und in den Beschlüssen der von ihm gegründeten und geleiteten internationalen Arbeiterassociation (vgl. Internationale) sowie in dem Programm der heutigen deutschen Sozialdemokratie, dessen geistiger Urheber er ist, zum Ausdruck gebracht. Von diesen Beschlüssen sind für die sozialistischen Bestrebungen insbesondere charakteristisch die der Kongresse in Brüssel und Basel. Auf dem Kongreß in Brüssel (1868) wurde die Abschaffung des Kapitaleinkommens und der Grundrente, die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln und von besondern Kreditanstalten für dieselben, die Umwandlung aller Transportanstalten in Staatsanstalten, aller Bergwerke, Wälder und landwirtschaftlichen Grundstücke in Staatseigentum, mit Überweisung der letztern an Arbeitergesellschaften zur Benutzung, in das Programm aufgenommen. Der Kongreß in Basel (1869) sprach sich für die Abschaffung des privaten Grundeigentums und für die Bebauung des Bodens durch solidarisierte Gemeinden sowie für die Abschaffung des Erbrechts aus. Das sozialistisch-politische Programm der deutschen Sozialdemokratie (sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands) lautet nach der Fassung des Gothaer Kongresses von 1875:
»1) Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Gesellschaft, d. h. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die
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Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrags. Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle andern Klassen nur eine reaktionäre Masse sind. 2) Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (die hier ursprünglich im Programm enthaltenen Worte: 'mit allen gesetzlichen Mitteln' wurden später gestrichen) den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtheit entsteht. 3) Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staats: a) Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer, obligatorischer Stimmabgabe aller Staatsangehörigen vom 20. Lebensjahr an für alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder Abstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein. d) Direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk. c) Allgemeine Wehrhaftigkeit, Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. d) Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze, überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken. e) Rechtsprechung durch das Volk; unentgeltliche Rechtspflege. f) Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat; allgemeine Schulpflicht; unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten; Erklärung der Religion zur Privatsache.«
Das Programm enthält außerdem noch eine Reihe von Forderungen, die indes ausdrücklich als Forderungen »innerhalb der heutigen Gesellschaft« bezeichnet werden und nicht mehr spezifisch sozialistische sind. Mit diesem Programm stimmt im wesentlichen überein das Programm des Parti ouvrier socialiste révolutionnaire français von 1880, welches die Basis der gegenwärtigen sozialistischen Bewegung in Frankreich ist und in der Hauptsache auch von den spanischen und italienischen Sozialisten angenommen wurde, ebenso das Programm der sozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika von 1877 (weiteres hierüber bei Zacher, s. Litteratur).
In Deutschland entstand Mitte der 70er Jahre neben der Sozialdemokratie vorübergehend eine konservative sozialistische Richtung, der sogen. Staatssozialismus, deren politischer Grundgedanke ein Bündnis der Monarchie mit dem vierten Stand war, um die vermeintliche Herrschaft der Bourgeoisie und des Kapitals zu brechen, die berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse durch eine sozialistische Organisation der Volkswirtschaft zu befriedigen und damit zugleich die Machtstellung der Monarchie zu befestigen. Das unklare sozialistische Programm (s. dasselbe in Nr. 23 des »Staatssozialist« vom dieser Richtung, die wenige Anhänger fand, und deren Hauptvertreter unter andern Pastor R. Todt (»Der radikale deutsche S. und die christliche Gesellschaft« 2. Aufl., Wittenb. 1878) und der Schriftsteller Rudolf Meyer waren (Organ: »Der Staatssozialist. Wochenschrift für Sozialreform«, 1877 ff.),
stützt sich auf die sozialistischen Anschauungen von J. K. Rodbertus (s. d.),
der die Berechtigung eines Einkommens aus Besitz, der »Rente« (Grundrente wie Kapitalrente),
bestritt und den Kernpunkt der sozialen Frage in dem angeblichen »Gesetz« sah, daß, wenn der Verkehr in Bezug auf die Verteilung der Nationalprodukte sich selbst überlassen bleibe, bei steigender Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit der Lohn der arbeitenden Klassen ein immer kleinerer Teil des Nationalprodukts werde, daß der relative Lohn der Arbeit in dem Verhältnis sinke, als sie selbst produktiver werde, und daß folglich die Kaufkraft der Mehrzahl der Gesellschaft immer kleiner werde.
Die Lösung der Frage erblickte Rodbertus darin, daß den Arbeitern ein mit der steigenden nationalen Produktivität mitsteigender Arbeitslohn gesichert würde, und er glaubte, dieselbe - ohne daß man dem Grund- und Kapitaleigentum von seinem heutigen Grundrenten- und Gewinnbetrag etwas fortnehme, sondern nur verhindere, daß auch für alle Zukunft, wie bisher, das Plus einer steigenden nationalen Produktion der Grundrente und dem Kapitalgewinn zuwachse - durch eine Reihe von Vorschlägen gefunden zu haben, deren wichtigste sind: der Staat solle zunächst für jedes »Gewerk« einen normalen Zeitarbeitstag und einen normalen Werkarbeitstag festsetzen und den Lohnsatz für den letztern mit periodischen Revisionen bestimmen, bez. zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter seiner Autorität festsetzen lassen. Sodann soll »der normale Werkarbeitstag zu Werkzeit oder Normalarbeit erhoben und nach solcher Werkzeit oder Normalarbeit (nach solcher in sich ausgeglichener Arbeit) nicht bloß der Wert des Produkts jedes Gewerks normiert, sondern auch der Lohn in jedem Gewerk als Quote dieses nach Normalarbeit berechneten Produktwerts fixiert und bezahlt werden«.
In der Geschichte der sozialistischen Agitation ist die Phase des friedlichen, doktrinären S. und die des gewaltsamen, praktischen S. zu unterscheiden. In jener, welcher die Thätigkeit Saint-Simons und Fouriers und ihrer Schüler angehört, war die Bewegung eine wesentlich theoretische und friedliche. Jene Sozialisten erhofften auf friedlichem Weg die allmähliche Verwirklichung ihrer Ansichten. Sie wandten sich deshalb nur an die Gebildeten, nicht an diejenigen Klassen, deren Besserung sie wollten, und wenn auch ihre Äußerungen nicht frei waren von Anklagen gegen die bestehenden Einrichtungen und Zustände, so enthielten sie doch nur selten Anklagen gegen Personen und gegen die besitzenden Klassen.
Diesen friedlichen Charakter verliert aber die sozialistische Agitation seit Louis Blanc und im Verlauf der Zeit mehr und mehr. Neue sozialistische Systeme und Forderungen werden aufgestellt nicht mehr als wissenschaftliche Theorien, sondern als Programme praktischer Agitationsparteien. Die Vertreter derselben wenden sich nun mit ihren Lehren direkt an die untern Volksklassen, um sie zum S. zu bekehren und für dessen Durchführung zu gewinnen; sie werden Arbeiteragitatoren.
Ein Hauptmittel ihrer Agitation wird es, bei den untern Klassen die Gefühle der Erbitterung und des Hasses nicht bloß gegen die bestehenden Zustände des öffentlichen Lebens, sondern auch gegen die Träger der Staatsgewalt und gegen die besitzenden Klassen zu erzeugen. Das ökonomische sozialistische Programm wurde hiermit ein radikaleres, und da es durch den Staat verwirklicht werden sollte, wurde die Bewegung eine politische. Da man sich sagen mußte, daß die bestehenden Staaten die sozialistischen Wünsche nicht erfüllen würden, wurde die Erlangung der Herrschaft im Staat für die Lohnarbeiterklasse in das Programm aufgenommen und das praktische Ziel. Die sozialistische
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Partei wurde eine sozialdemokratische. Naturgemäß gesellten sich nun weitere politische Forderungen (betreffend die Verfassung des Staats, das Wahlrecht, das Gerichts-, Schul- und Militärwesen etc.) hinzu, und wie das ökonomische wurde auch das politische Programm, namentlich seit der Gründung der Internationalen Arbeiterassociation, immer radikaler. Man machte auch kein Hehl daraus, daß allein die Revolution der Sozialdemokratie zum Sieg verhelfen könne, und sprach es offen aus, daß man nicht zaudern würde, zu diesem Mittel zu greifen, wenn man nur die Möglichkeit des Gelingens sähe.
Daher entstand nun eine Art der Agitation, die nur die Vorbereitung zur Revolution war. Und deshalb ist diese Partei auch die Gegnerin einer starken, mächtigen Staatsgewalt in den bestehenden Staaten, deshalb bekämpft sie vor allem das stehende Heer, deshalb ihre ausgesprochene Feindschaft gegen die Religion, nicht bloß gegen die Kirche. Der ganze Charakter, den die Bewegung angenommen, zwang und zwingt die Staaten zu einem entschiedenen Vorgehen gegen dieselbe, wie es das Deutsche Reich in dem Gesetz vom (s. Sozialdemokratie) und andre Staaten in andrer Weise gethan haben. In neuester Zeit ist in der Sozialdemokratie eine noch radikalere Richtung in den Anarchisten hervorgetreten, die, ohne ein neues sozialistisches Programm aufzustellen, den sofortigen Umsturz alles Bestehenden mit allen nur möglichen Mitteln will, inzwischen aber die Beseitigung der Gegner durch Mord empfiehlt (s. Anarchie).
Vgl. außer den im Art. »Kommunismus« (S. 990) angegebenen Werken von Stein, Sudre, Hildebrand, Marlo, Schäffle, Meyer: L. Reybaud, Études sur les réformateurs (6. Aufl., Par. 1849, 2 Bde.);
E. Jäger, Der moderne S. (Berl. 1873);
Derselbe, Geschichte des S. in Frankreich (das. 1876, Bd. 1);
Schuster, Die Sozialdemokratie (2. Aufl., Stuttg. 1876);
Mehring, Die deutsche Sozialdemokratie (3. Aufl., Brem. 1879);
v. Scheel, Unsre sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878);
Schäffle, Quintessenz des S. (8. Aufl. 1885);
E. de Laveleye, Le socialisme contemporaine (4. Aufl., Par. 1889; deutsch, Tübing. 1884);
Zacher, Die rote Internationale (Berl. 1884);
Kleinwächter, Grundlagen und Ziele des sogen. wissenschaftlichen S. (Innsbr. 1885);
Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885);
Zander, Die sozialpolitischen Gesetze des Deutschen Reichs (Kattowitz 1887);
Dawson, German socialism (Lond. 1888);
Semler, Geschichte des S. und Kommunismus in Nordamerika (Leipz. 1880);
»S. und Anarchismus in England und Nordamerika während der Jahre 1883-86« (Berl. 1887);
v. Scheel, S. und Kommunismus, in Schönbergs »Handbuch der politischen Ökonomie« (2. Aufl., Tübing. 1885, Bd. 1, S. 107 ff.);
Schönberg, Gewerbliche Arbeiterfrage (ebenda, Bd. 2).