Frage, ein Schlagwort, das zunächst in einem ganz allgemeinen
Sinne aufzufassen ist. Im allgemeinsten
Sinne
wird von einer S. F. gesprochen, wenn man glaubt, daß die Zustände des gesellschaftlichen Zusammenlebens
nicht derartig sind, daß sie dem Ideal einer rationell gestalteten Gesellschaftsordnung sich anzunähern geeignet sind.
Je nach dem Ideal, das jemand für die sociale Gestaltung hat, wird die S. F. für ihn eine andere Form annehmen. Überall,
wo offenbare Schäden am ganzen Gesellschaftskörper hervortreten, wie z. B. Absatzkrisen,
Übervölkerung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, da spricht man von Einzelerscheinungen der S. F.
In einem andern, ebenfalls allgemeinen
Sinne sucht man dann kurz die S. F. in einzelnen Gesellschaftsklassen, und zwar spricht
man überall da von S. F., wenn die ökonomische
Lage gewisser gesellschaftlicher
Klassen nicht den
Ansprüchen genügt, die
die betreffenden
Angehörigen der
Klasse nach ihrer socialen Bedeutung zu stellen sich berechtigt glauben;
oder wenn die ganze
Lage der
Angehörigen der
Klasse oder eines großen
Teils derselben gedrückt ist. In dieser Fassung giebt
es eine S. F. zahlreicher
Stände, des Handwerkerstandes, des
Bauernstandes, des
Arbeiterstandes, des Kaufmannsstandes, der
Frauen u. s. w.
Im engernSinne und zugleich in dem fast allgemein jetzt gebräuchlichen bedeutet die S. F. die Frage
des Lohnarbeiterstandes, d. h. die Frage, wie die
Lage des kapitallosen, im Lohn eines
Arbeitgebers stehenden
Arbeitnehmers
gebessert werden könne. Es ist bei dieser Besserung durchaus nicht allein oder vorwiegend an eine Lohnerhöhung gedacht,
sondern die ganze gesellschaftliche, sittliche, wirtschaftliche und geistige
Hebung
[* 2] des
Arbeiterstandes
ist gemeint. Die S. F. als
Arbeiterfrage in diesem
Sinne ist besonders infolge der gänzlich veränderten
Stellung des
Arbeiters
unter dem Einflusse der
Gewerbefreiheit und der Maschinentechnik hervorgetreten. Nach dem Aufhören des Zunftwesens und mit
Einführung der gewerblichen
Freiheit trat derArbeiter als freier Verkäufer seiner Ware
Arbeitskraft auf
den Markt; gleichzeitig wurde
¶
mehr
die Industrie durch die Maschinentechnik immer großartiger, und die Produktion wurde mehr und mehr eine Weltmarktproduktion.
Durch diese ökonomische Entwicklung ergaben sich für den Arbeiter eine Reihe von Gefahren, die früher bei dem Zunftwesen
und bei der staatlichen Reglementierung der Gewerbe ganz unbekannt waren. Je nachdem die Industrie in einem
Lande zur Entwicklung kam und Gewerbefreiheit eingeführt wurde, traten diese Mißstände zu verschiedenen Zeiten in den verschiedenen
Ländern auf; im allgemeinen ist das Ende des 18. und der Anfang des 19. Jahrh. als der
Beginn des Auftretens der S. F. in diesem Sinne zu bezeichnen.
Als solche Übelstände traten namentlich hervor die durch die Produktion für den Weltmarkt und für
unbekannte Absatzkreise bedingte Unsicherheit des Einkommens;
eine oft übermäßige Arbeitszeit, besonders wenn die Konjunktur
die Ausnutzung der Arbeitskraft vorteilhaft machte;
Nachtarbeit und Sonntagsarbeit im Interesse möglichst gesteigerter Produktion;
gesundheits- und lebensgefährliche Beschäftigung in Fabriken, schlechte und ungesunde Arbeiterwohnungen, moralische Übelstände
durch Zusammenarbeiten von Männern und Frauen in geschlossenen Räumen, große Ausnutzung der Frauen- und Kinderarbeit. -
Gegenüber diesen Übelständen treten verschiedene Richtungen auf, die nach ihrer Art diese S. F. lösen oder doch ihrer
Lösung näher bringen wollen.
Als wichtigste socialpolit. Strömungen seien die folgenden aufgeführt:
1) Die Manchesterrichtung. Diese Partei faßt die Arbeiterfrage wesentlich als Lohnfrage auf, so daß
es Aufgabe der Socialpolitik sei, hauptsächlich höhern Lohn zu ermöglichen, dann verschwänden die übrigen Mißstände
größtenteils von selbst. Einen Eingriff der Staatsgewalt zu Gunsten der Arbeiterklasse durch Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung
halten die wenigen Anhänger der extremsten Richtung dieser Partei nicht für notwendig; mit der Selbsthilfe
durch Genossenschaften, Sparkassen, Konsumvereine u.s. w. könnten die Arbeiter auch einen großen Teil der socialen Schwierigkeiten
beseitigen.
2) Im geraden Gegensatz zu dieser Richtung, die in der möglichsten Freiheit das Heil erblickt, steht die socialistische Richtung
auf dem Standpunkte, daß die auf dem Privateigentum und der freien Konkurrenz beruhende Wirtschaftsordnung
überhaupt unfähig sei, in der S. F. irgend etwas Erhebliches zu bessern; diese Mißstände seien eng verknüpft mit der
privatkapitalistischen Produktionsweise, nur die Beseitigung des Privateigentums und die Produktion auf dem Boden des gesellschaftlichen
Eigentums nach gesellschaftlich geregelten Grundsätzen könnte helfen. (S. Socialismus.)
3) In der Mitte zwischen den beiden Extremen des reinen Individualismus und des Socialismus steht die Richtung
der socialenReform. Ohne daß das Privateigentum negiert wird, wird doch von dieser Partei auch der einseitige Grundsatz des
laisser-faire, laisser-aller verpönt; vielmehr müßten Staat und Gesellschaft durch Gesetzgebung und freiwillige Beihilfe
den schweren Mißständen, die unzweifelhaft vorhanden seien, entgegentreten. Diese socialreformatorische
Richtung, die in allen Ländern vertreten ist, und die je nach Zeit und Ort verschiedene Anforderungen an die Gesetzgebung
stellt, ist doch im allgemeinen darin einig, daß besonders durch Arbeitsschutzgesetzgebung, durch Zwangsversicherung, durch
staatliche Beaufsichtigung der Fabriken u. s. w.
zu Gunsten der Arbeiterklasse eingegriffen werden muß.
In Deutschland
[* 4] ist diese Richtung besonders seit Anfang der siebziger Jahre stark ausgebildet; sie hatte zuerst den Spottnamen
Kathedersocialismus (s. d.). In der neuern deutschen socialpolit. Gesetzgebung
ist diese socialreformatorische Richtung klar zum Ausdruck gekommen. In einzelnen Punkten haben die Anhänger der Socialreform
noch viele andere Forderungen aufgestellt; doch herrscht hier nicht in allen Punkten Einigkeit, so in der
Empfehlung der Gewerkvereine (s. d.), der Gewinnbeteiligung (s. d.)
der Arbeiter und der Arbeitslosigkeitsversicherung (s. d.).
Soweit die Richtung der staatlichen Socialpolitik und Socialreform einen religiösen Charakter hat, betrachten sie die Stärkung
der Religiosität als Hauptaufgabe und in zweiter Linie die wirtschaftliche Besserung durch allerlei
sociale Reformmaßregeln. Diese Bestrebungen sind in der evang. und auch in der kath.
Kirche vorhanden. (S. Socialismus, S. 16.)
Litteratur.
Vgl. den Artikel: Die gewerbliche Arbeiterfrage in Schönbergs «Handbuch der polit. Ökonomie» (Tüb.
1891);
Prince-Smith, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (ebd.
1877). - Zur Kennzeichnung der socialistischen Partei: Oldenderg, Die Ziele der deutschen Socialdemokratie
(Lpz. 1891);