Slawische
Sprachen, eine
Familie des großen indogermanischen Sprachstammes (s.
Indogermanen) und in diesem am nächsten
mit dem
Litauischen, entfernter mit den germanischen
Sprachen verwandt (s.
Slawen). Die älteste slawische
Sprache
[* 2] ist das
Kirchenslawische (auch Altslawisch und Altbulgarisch genannt) d. h. die
Sprache, in welche die beiden
Brüder
Cyrillus
und
Methodius, die
Apostel der
Slawen, um die Mitte des 9. Jahrh.
n. Chr. die Evangelien und einige liturgische Werke übersetzten,
und die uns zuerst aus einer
Handschrift des
Evangeliums von Ostromir von 1056 bekannt ist. Wo diese
Sprache
gesprochen wurde,
ist noch streitig; jedenfalls im
Süden des slawischen
Sprachgebiets, nach
Dobrovsky am rechten Donauufer
bis zur Donaumündung, südlich bis ans
Adriatische Meer und nach
Makedonien hinein, während sie nach
Schleicher die
Mutter
der jetzigen
Sprache der
Bulgaren, nach
Miklosich die
Mutter des Slowenischen ist.
Noch heute ist sie bei den slawischen
Völkern des orientalischen
Ritus im
Gottesdienst allgemein im
Gebrauch, allerdings in
einer etwas modernisierten Form. Ebenso ist das auch von den
Serben und
Bulgaren gebrauchte russische
Alphabet nur eine modernisierte
Abart des aus den griechischen Schriftzeichen zurechtgemachten
Alphabets, das
Cyrillus für das
Kirchenslawische
erfand. Das
Kirchenslawische in seiner ältesten Form ist nicht die
Mutter der übrigen slawischen
Sprachen, aber ihre älteste
Schwester und daher für die slawische
Sprachforschung wie für die allgemeine
Sprachvergleichung von der höchsten Bedeutung.
Die wichtigsten neuern
Arbeiten darüber sind: Miklosich,
Lautlehre (3. Bearbeitung,
Wien
[* 3] 1878) und
Formenlehre (das.
1874) der altslowenischen
Sprache;
Dobrovsky, Institutiones linguae slavicae dialecti veteris (das. 1822);
A.
Schleicher,
Formenlehre
der kirchenslawischen
Sprache
(Bonn
[* 4] 1852);
Miklosich, Radices linguae slovenicae veteris dialecti (Leipz. 1845) und Lexicon palaeo-slovenico-graeco-latinum (Wien 1862-65);
Leskien, Handbuch der altbulgarischen Sprache (Weim. 1871).
Die lebenden slawischen
Sprachen sind: Die
russische Sprache, die verbreitetste von allen, nebst den
Dialekten Weißrussisch in
Witebsk,
Minsk etc. und Ruthenisch (Russinisch oder
Kleinrussisch) in Südrußland und dem größten Teil von
Galizien. Sie wird
von etwa 58 Mill.
Menschen gesprochen. Die
polnische Sprache ist besonders durch ihre reiche, schon im 10. Jahrh. beginnende
Litteratur ausgezeichnet; sie wird gegenwärtig noch von
ca. 9-10 Mill.
Menschen gesprochen, von denen
aber sehr viele daneben noch
Deutsch oder
Russisch sprechen, das in
Russisch-Polen dem
Gesetz nach die alleinige offizielle und
Schulsprache ist.
Auch in den angrenzenden Provinzen Deutschlands [* 5] bis an die Elbe hin wurden im frühern Mittelalter s. S. gesprochen, von denen sich außer zahlreichen Ortsnamen (z. B. Rostock, [* 6] Berlin, [* 7] überhaupt die Namen auf -in) ein vereinzelter Überrest in dem erst neuerdings abgestorbenem Polabischen (Elbslawisch) erhalten hat, das mit dem Polnischen nahe verwandt ist. Die böhmische oder tschechische Sprache zeichnete sich namentlich im Mittelalter bis zur Zeit der Hussitenkriege durch eine reiche und wichtige Litteratur aus.
Nahe verwandt damit ist das Wendische oder Sorbenwendische, genauer das Ober- und Untersorbische der Wenden in den beiden Lausitzen, an der Spree hin, das heutzutage nur noch von ca. 130,000 Individuen gesprochen wird, von denen ein Drittel sächsische, zwei Drittel preußische Unterthanen sind. In sehr nahen Beziehungen zum Tschechischen steht auch das Slowakische, das sich durch Mähren [* 8] bis nach den Karpathen hin ausdehnt, übrigens fast ohne alle Litteratur ist. Das Tschechische u. Slowakische wird von etwa 6½ Mill. Menschen gesprochen. Zu welcher Gruppe die einst in Niederösterreich, Steiermark [* 9] und andern österreichischen Provinzen, vereinzelt auch in Bayern [* 10] (Baireuth [* 11] und Oberfranken) angesiedeltem Slawen gehörten, ist schwer zu entscheiden, da eine beträchtliche Anzahl von Ortsnamen die einzigen von ihnen zurückgelassenen Spuren sind. Jedenfalls gehört ¶
mehr
das Slowenische, in Kärnten, Steiermark, Krain
[* 13] und Istrien von ca. 1,200,000 Menschen gesprochen, zu den südslawischen
Sprachen.
Die serbische Sprache in Serbien
[* 14] und Südungarn bildet mit dem Kroatischen, Dalmatischen und Slawonischen eine besondere Gruppe,
die von ca. 6 Mill. Menschen gesprochen und jetzt meistens als Serbokroatisch (früher auch Illyrisch) bezeichnet
wird. Der Unterschied zwischen diesen litterarisch wenig hervorragenden Dialekten, welche ganz Serbien, Bosnien,
[* 15] die Herzegowina,
Montenegro, ein Stück von Südungarn, Slawonien, Kroatien und den größten Teil von Istrien und Dalmatien einnehmen, ist gering;
aber die Verständigung wird sehr erschwert durch den Gebrauch verschiedener Alphabete, der wieder mit dem religiösen Schisma
zusammenhängt.
Die Serben bedienen sich des russischen
, die Bewohner von Kroatien, Dalmatien, Slawonien etc. dagegen des lateinischen Alphabets
mit einigen, jedoch verschiedenen Modifikationen. Daneben kommt in der Kirchensprache bei letztern auch das aus dem Cyrillischen
verschnörkelte glagolitische Alphabet zur Anwendung. In Bosnien ist jetzt von der österreichischen Regierung das lateinische
Alphabet eingeführt worden an Stelle des unter der türkischen Herrschaft gebrauchten Cyrillischen.
Während das Serbokroatische sich durch hohe Altertümlichkeit auszeichnet, ist die bulgarische Sprache die modernste und
abgeschliffenste der slawischen
Sprachen. Sie erstreckt sich durch den größten Teil der Türkei
[* 16] über eine Bevölkerung
[* 17] von
ca. 6 Mill., ist aber erst in den letzten Jahrzehnten zu litterarischer Kultur gelangt. Die Verwandtschaftsverhältnisse
der slawischen
Sprachen unter sich veranschaulicht der nachstehende Stammbaum:
Slawische Ursprache. | |
---|---|
Westliche Abteilung: | Südöstliche Abteilung: |
1) Polnisch und Polabisch; | 1) Russisch und Weißrussisch; |
2) Tschechisch nebst Slowakisch und Sorbisch. | 2) Ruthenisch (Kleinrussisch); |
3) Kirchenslawisch, später Bulgarisch und Slowenisch; | |
4) Serbokroatisch. |
Ein gemeinsamer Charakterzug aller slawischen
Sprachen, den sie nur mit den lettischen, teilweise auch mit den iranischen
teilen, ist eine entschiedene Vorliebe für Zischlaute; mit den lettischen und germanischen Sprachen haben sie, wenigstens
bis zu einem gewissen Grade, die Lautverschiebung (s. d.) und die Unterscheidung zwischen bestimmtem und
unbestimmtem Adjektivum (vgl. unser »der Mann ist gut«
neben »guter Mann«) gemein.
Vgl. Miklosich, Vergleichende Grammatik der slawischen
Sprachen (Wien 1852-1874, 4 Bde.) und zahlreiche
Abhandlungen desselben in den Denkschriften der Wiener Akademie (1860 ff.);
Derselbe, Dictionaire ^[richtig: Dictionnaire] abrégé de six langues slaves (das. 1885);
Derselbe, Etymologisches Wörterbuch der slawischen
Sprachen (das. 1886);
Hassenkamp, Über den Zusammenhang des lettoslawischen
und germanischen Sprachstammes (gekrönte Preisschrift, Leipz.
1876);
»Archiv für slawische
Philologie«, herausgegeben von Jagić, Leskien und Nehring (Berl. 1876 ff.). -
Die Hauptwerke über die Geschichte der slawischen Litteraturen, worüber die betreffenden Artikel zu vergleichen, sind: Safarik, Geschichte der slawischen Sprache und Litteratur nach allen Mundarten (Ofen 1826; 2. Abdr., Prag [* 18] 1869);
Derselbe, Geschichte der südslawischen Litteratur (Prag 1865, 3 Bde.);
Eichhoff, Histoire de la langue et de la littérature des Slaves (Par. 1839);
Mickiewicz, Vorlesungen über slawische Litteratur und Zustände (2. Ausg., Leipz. 1849, 4 Bde.);
Talvj, Handbuch einer Geschichte der slawischen Sprachen und Litteratur (deutsch, das. 1852);
Pypin und Spasowicz, Geschichte der slawischen Litteraturen (deutsch, das. 1880 ff.);
Courrière, Histoire de la littérature contemporaine chez les Slaves (Par. 1879);
Krek, Einleitung in die slawische Litteraturgeschichte (2. Aufl., Graz [* 19] 1887).