Sittlichkeitsverbrechen
130 Wörter, 1'064 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Sittlichkeitsverbrechen,
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Sittlichkeitsverbrechen
und Sittlichke
itsvergehen, strafbare Handlungen, welche durch unerlaubte Befriedigung des
Geschlechtstriebes, Anreizung der Sinnlichkeit, Vermittelung unerlaubten Geschlechtsverkehrs, Verletzung der Schamhaftigkeit
begangen werden. Onanie, auch gemeinschaftlich begangen, wird nicht bestraft. Im übrigen wird das Sittlichke
itsverbrechen
teils von einer Person, an einer andern oder an einem Tier begangen, wie die Notzucht, die Sodomie, teils von zwei Personen gemeinschaftlich,
wie der Ehebruch, die Päderastie, die Blutschande.
Doch sind auch in diesem Falle nicht immer beide Personen, wennschon bei einer gemeinschaftlichen unsittlichen Handlung beteiligt, strafbar, z. B. wenn der eine Teil noch nicht strafmündig ist. Aus naheliegenden Gründen bleiben Verwandte und Verschwägerte absteigender Linie wegen Blutschande straflos, wenn sie noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht haben, ebenso das noch nicht 16 J. alte Mädchen, welches zum Beischlaf verführt ist. (S. auch Unzucht.)
(Sittlichkeitsverbrechen, Unzuchtsdelikte, Fleischesverbrechen, Delicta carnis), strafbare Handlungen, welche in einer gesetzwidrigen Befriedigung des Geschlechtstriebs bestehen. Das ältere Recht betrachtete den außerehelichen Geschlechtsverkehr überhaupt als strafbar, wenigstens insofern er mit einer sonst ehrbaren Frauensperson gepflogen wurde, daher denn auch die freiwillige, außereheliche Schwächung (stuprum voluntarium) nach dem römischen Recht nicht nur an der Geschwächten, sondern auch an dem Stuprator gestraft und im Mittelalter, nachdem die Geistlichkeit dies Delikt vor ihr Forum [* 3] gezogen hatte, an der gefallenen Frauensperson durch die Strafe der öffentlichen Kirchenbuße geahndet wurde.
Das moderne Strafrecht erachtet den außerehelichen Geschlechtsverkehr an und für sich nicht mehr als strafbar. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch insbesondere bestraft Weibspersonen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, nur dann mit Strafe (Haft bis zu sechs Wochen), wenn sie unter polizeiliche Aufsicht gestellt sind und den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln, oder wenn sie gewerbsmäßige Unzucht treiben, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein.
Dagegen werden im deutschen Strafgesetzbuch folgende unsittliche Handlungen als Unzuchtsverbrechen behandelt und bestraft: Blutschande, d. h. der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie, zwischen Geschwistern und zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie (s. Inzest);
Notzucht (stuprum violentum), d. h. die Nötigung einer Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (das frühere Erfordernis eines Strafantrags bei diesem Verbrechen ist durch die Novelle zum Strafgesetzbuch vom beseitigt);
Schändung (stuprum non voluntarium nec violentum), d. h. der außereheliche Beischlaf mit einer geisteskranken oder einer in willen- oder bewußtlosem Zustand befindlichen Frauensperson, wobei es als Notzucht bestraft wird, wenn der Thäter die Frauensperson absichtlich in diesen Zustand versetzt hat.
Ferner gehören hierher; unzüchtige Handlungen, welche Vormünder mit ihren Pflegebefohlenen, Eltern mit ihren Kindern, Geistliche, Lehrer und Erzieher mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen, Beamte mit Personen, gegen die sie eine Untersuchung zu führen haben, oder welche ihrer Obhut anvertraut sind, Beamte, Ärzte und andre Medizinalpersonen, welche in Gefängnissen oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder andern Hilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestellt sind, mit den hier aufgenommenen Personen vornehmen; unzüchtige Handlungen, welche mit Gewalt an einer Frauensperson vorgenommen werden, oder zu deren Duldung dieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben genötigt wird; endlich unzüchtige Handlungen mit Personen unter 14 Jahren. In allen diesen Fällen tritt die strafrechtliche Verfolgung von Amts wegen ein. Dagegen wird die Verleitung einer Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs durch Vorspiegelung einer Trauung oder durch Erregung oder Benutzung eines andern Irrtums, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, nur auf Antrag bestraft. Außerdem gehören zu den Unzuchtsverbrechen des Reichsstrafgesetzbuchs: die widernatürliche Unzucht, welche entweder zwischen Personen männlichen Geschlechts ¶
(Päderastie), oder von Menschen mit Tieren (Sodomie) begangen wird; die Mädchenschändung, d. h. die Verführung eines unbescholtenen Mädchens, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, zum Beischlaf (Antragsdelikt); die Verletzung der Schamhaftigkeit durch unzüchtige Handlungen, durch welche ein öffentliches Ärgernis gegeben wird, oder durch unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welche verkauft, verteilt oder sonst verbreitet oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausgestellt oder angeschlagen werden. Auch die Kuppelei (s. d.) wird von dem deutschen Strafgesetzbuch unter den Unzuchtsverbrechen mit aufgeführt, ebenso die Doppelehe oder Bigamie (s. d.) und der Ehebruch (s. d.).
Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 171-184, 361, Nr. 6; Österreichisches, 125 ff., 500 ff.