Sibirien,
russ. Sibirj, außer Russisch-Centralasien (s. d.) das ganze zu Rußland gehörige Asien. Die geogr. Westgrenze bildet der Hauptrücken des Uralgebirges. Da aber etwa vom 62. Breitengrade an südlich die europ.-russ. Gouvernements Perm, Ufa und Orenburg mit einem Gebiet von zusammen 239377 qkm auf die Ostseite des Uralgebirges hinüberreichen, so gehört dieser Teil administrativ noch zu Europa, und das sibir. Verwaltungsgebiet beginnt erst östlich davon. Es umfaßt die vier Gouvernements Tobolsk, Tomsk, Jenisseisk und Irkutsk, die vier Gebiete Transbaikalien, Jakutsk, Amur und das Küstengebiet, sowie die Abteilung Sachalin, zusammen mit 12518487,3 qkm (d. i. mehr als das Dreifache des gesamten nichtruss. Europas) und 5066332 E., d. i. 0,40 auf 1 qkm. Die Einteilung in West- und Ostsibirien stammt aus einer Zeit, wo nur die jetzigen Gouvernements Tobolsk, Tomsk (Westsibirien) und Jenisseisk, Irkutsk (Ostsibirien) von Rußland administrativ geordnet waren, und der Name Ostsibirien ist erst später auf alle Erwerbungen im Osten übertragen worden; sie sollten in ihrer jetzigen Ausdehnung richtiger Russisch-Ostasien heißen. (Hierzu 3 Karten: Sibirien I. Übersichtskarte; Sibirien II. Altai-Baikalsee; Sibirien III. Amurgebiet.)
Bodengestaltung, Gewässer. Die Oberfläche ist in Westsibirien eben, in Ostsibirien hügelig und gebirgig. Eine Linie über Semipalatinsk, Barnaul, Tomsk und die sich dann weiterhin im allgemeinen an dem linken Ufer des Jenissei hält, trennt den ebenen vom gebirgigen Teil. Der Norden wird von der Tundra eingesäumt, die namentlich im Westen ungeheure Strecken einnimmt. Den Süden begrenzen das Altaische, das Sajanische, das Jablonoi- und Stanowoigebirge. Nach Norden gehen die Riesenströme Ob mit dem Irtysch, der Jenissei und die Lena, ferner Küstenströme wie Tas, Chatanga, Anabara, Olenek, Jana, Indigirka, Kolyma; nach Osten der Anadyr und Amur. Von den Seen ist der bedeutendste der Baikalsee, auch giebt es viele Salzseen in den Steppen.
Das Klima ist rauh, ausgeprägt kontinental und wird im Süden an der Grenze von Russisch-Centralasien, am Altai und im Amurgebiet gemäßigter. Die kälteste Zone mit mittlerer Jahrestemperatur von -12° C. umschließt das Gebiet der Anabara und den Oberlauf der Indigirka und reicht ins Innere fast bis Jakutsk. Im Winter fällt hier das Thermometer bis -60° C., im Sommer steigt es bis +35° und 40° C. Innerhalb dieses Gebietes, bei Werchojansk, liegt der Kältepol der Erde, wo im Jan. 1885 eine Temperatur von -65° C. beobachtet wurde. In Südsibirien sind zwar die Winter auch streng, aber kürzer und der Schnee schmilzt schon im März. Im allgemeinen gilt das Klima von S. für gesund, und die bedeutende Kälte läßt sich bei vorherrschender Windstille leicht ertragen.
Die Pflanzenwelt ist eintönig aus Graslandschaften mit Birken im Südwesten (Barabásteppe), aus Nadelwäldern (tajgi; Einzahl tajga) mit Birken, Erlen, Weiden in dem breiten Gürtel nördlich vom Altai, vom Sajanischen, Jablonoi- und Stanowoigebirge bis zur nördl. Baumgrenze entwickelt, dann folgt die arktische Tundra. Die Nadelhölzer sind im Süden am reichsten zusammengesetzt im Gebiet der sibir. Tanne mit Zirbelkiefer und Fichte, Lärche; die Lärche hält am weitesten nach Norden aus, sogar noch im Gebiet des sibir. Kältepols. Die Kultur wird früher gehemmt; schon im Wiljujgebiet wird der Kornbau unsicher. Die eintönige Flora wird erst in der Amurprovinz reichhaltig. In S. giebt es weder Eichen noch Buchen.
Die Fauna ist sehr ungleich entwickelt. Der nördlichste Teil enthält rein arktische Formen, Eisbär, Eisfuchs, Vielfraß, Lemminge, Renntiere, die bis ziemlich weit nach Süden gehen, und boreale Vögel. In der mittlern Region gesellen sich Hirsche, Rehe, Wildschweine, Biber, Wölfe, Luchse, Auer- und Birkhühner, in den östlichern Teilen der Tiger und Panther hinzu. Wertvolle Pelztiere sind graues Eichhörnchen, Hermelin und besonders der Zobel. In den südl. Teilen von Westsibirien treten Antilopen und Gazellen sowie wilde Esel auf und im Amurgebiet verschiedentlich mandschurische, selbst ind. Formen von Vögeln und Insekten. Die Flüsse und Binnengewässer des ganzen Gebietes sind sehr reich an Fischen; im Baikalsee finden sich Seehunde und einige andere von Bewohnern des Weißen Meers abstammende Tiere.
Der Reichtum an Mineralien ist sehr bedeutend. An Gold wurden gewonnen (1893) auf zusammen 1036 Wäschen in Westsibirien 201, in Ostsibirien 1776 Pud; an Silber 480, Blei 9860, Kupfer 13298, an Eisen 241720, Gußeisen 120495, Schwefelkies 195996, Steinkohlen 437782, Salz 1753087 Pud. Ferner giebt es Edelsteine der verschiedensten Art, Granit, Sandstein, Mühlsteine, feuerfeste Porzellanerde, Kalk u. a. Bedeutende Graphitlager finden sich am untern Jenissei bei Turuchansk. Die Graphitbergwerke Aliberts, aus denen auch die Fabersche Fabrik in Stein ihr Material bezieht, liegen am Alibertberg (2500 m) westlich von Irkutsk.
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Die Bevölkerung besteht aus 4,1 Mill. Russen, darunter 3,5 Mill. in Westsibirien, ferner aus Burjaten (208000), Jakuten (200000), Tungusen (64000), Mandschuren (14000), Samojeden, Ostjaken, Tataren, Hyperboreern (24000), Chinesen (17000), Koreanern (14000) u. a. Der Religion nach gehört die Mehrzahl der russisch-orthodoxen Kirche an, die in S. sechs Eparchien (Irkutsk, Jakutsk, Jenisseisk, Kamtschatka, Tobolsk und Tomsk) mit je einem Bischof an der Spitze hat; die Fremdvölker sind zum Teil Buddhisten, Mohammedaner und Heiden.
Die Mehrzahl der Russen sind freie Ansiedler. Auf Verbannte kommen etwa 150000, die, mit Ausnahme der zu Zwangsarbeit in den Bergwerken Verurteilten, keinem andern Zwange unterliegen, als daß sie unter Aufsicht stehen. Die russ. Nationalität hält sich überall rein aufrecht, nur unter den Jakuten gehen die russ. Ansiedler nicht selten in der Nationalität der erstern auf. Um Kiachta bildet sich eine neue Abart des Russischen auf chines. Grundlage (der Maimatschinsche Dialekt).
Industrie, Handel, Verkehr. Ackerbau wird überall betrieben, wo es Klima und Bodenbeschaffenheit zuläßt. Im ganzen werden jährlich 85 Mill. Pud Körner erbaut, wovon 12 Mill. ausgeführt werden. Die Viehzucht daneben ist nicht bedeutend. Sehr wichtig dagegen sind, besonders in den kalten Gebieten, die Fischerei und die Jagd. Beträchtlich ist auch die Wald- und Hausindustrie. Die Zahl der Fabriken beträgt (1892) 613 mit 7455 Arbeitern und 9,47 Mill. Produktion, wovon 4,28 Mill. auf Mehlprodukte und 2,05 Mill. auf Gerberei und Lederarbeiten kommen. An Eisenwerken sind nur vier vorhanden.
Der bedeutendste Jahrmarkt ist in Ischim. Über Wladiwostok und andere Häfen des Küstengebietes wurden ausgeführt Waren im Werte von 3 Mill. Rubel (darunter Felle 1 Mill., Produkte der Walfisch- und Walroßfängerei 1½ Mill. Rubel), eingeführt für 118000 Rubel. Über die Landgrenze betrug die Ausfuhr (Felle, Häute, Leder, Juchten, Getreide) 1891: 3,82 Mill., die Einfuhr 13,56 Mill. Rubel. Im Verkehr mit China bildet den Hauptposten die Einfuhr von Thee, von dem (1892) 1,22 Mill. Pud über das Zollamt in Irkutsk gingen.
Über dem Ural nach Europa gehen besonders Thee und Getreide. Auf der Tura wurden 1891 ausgeführt 4,86 Mill., eingeführt 2,3 Mill. Pud Waren. Außer der großen Sibirischen Straße vom Ural nach Irkutsk und deren Abzweigungen nach Buchtarminsk und Tschujsk gab es bisher keine guten Verkehrsstraßen in S. Die Dampfschiffahrt auf den Flüssen ist noch wenig entwickelt. Den Verkehr zur See, von Odessa aus nach Wladiwostok, vermittelt die russ. Freiwillige Flotte. An Eisenbahnen sind vorhanden 60 km der Uralbahn und die Sibirische Eisenbahn (s. d.). Eine Telegraphenlinie (seit 1871) durchzieht ganz S. und setzt sich bis Peking fort.
Bildungswesen. S. hat 1 Universität (in Tomsk), 5 Gymnasien, 4 Progymnasien, 3 Realschulen, 5 Geistliche Seminare, 9 Geistliche Schulen; für Mädchen: 6 Gymnasien, 19 Progymnasien, 1 Institut, 3 Schulen des Heiligen Synod;
Abteilungen der Russischen Geographischen Gesellschaft in Irkutsk (seit 1851) und Omsk (seit 1877), eine Gesellschaft zur Erforschung des Amurgebietes (seit 1886) in Wladiwostok und (1893) 24 Zeitungen.
Geschichte. Den Grund zur Eroberung S.s legte der Kosakenführer Jermak (s. d.) Timofejew dadurch, daß er 1581 die Hauptstadt des Chan Kutschum, Isker oder Sibir, am Irtysch einnahm und das gewonnene Land dem Zaren Iwan IV. schenkte, der nun den Titel eines Zar von S. annahm. Unter Feodor I. Iwanowitsch kam dann das Land der Ostjaken bis zur Mündung des Ob hinzu. Von da gelangten die Russen an den Fluß Tas und gründeten dort 1601 die Stadt Mangaseja. Südlich kamen sie den Ob aufwärts durch den Ket zum Jenissei und gründeten 1618 Jenisseisk.
Diese beiden Orte bildeten nun die Stützpunkte für das weitere Vordringen der russ. Kosaken und Industriellen. Die Mangasejer kamen durch die Tundra und auf der Niedern Tunguska zur untern Lena, die Jenisseier gelangten ebendahin von Süden her und setzten, als Mangaseja um 1632 verfiel, die weitern Erforschungen und Eroberungen allein fort. Schon 1640 gelangten sie an das heutige Ochotsk, 1644 an die Amurmündung, 1648-49 umfuhr Deshnew das Ostkap und lief in die Anadyrmündung ein. (S. Rußland, S. 90 b.)
Die wissenschaftlichen Forschungsreisen begannen mit Bering; in neuerer Zeit haben sich verdient gemacht die Russen Wrangell, Bunge, Gebler, Helmersen, Bulitschew, Middendorf, Schmidt, Maximowitsch, Schrenck, Radde, Maak, Baron Maydell, Poljakow, Jadrinzew, Tscherskij, Tschekanowskij; die ethnogr. Verhältnisse sind besonders durch Castrén, Schrenck, Böhtlingk und Schiefner aufgeklärt worden. Von deutschen Forschern sind zu nennen: Ledebour, Messerschmid, Pallas, Georgi, Gmelin, Erman, A. von Humboldt (1829, mit Ehrenberg und Rose), C. Cotta, Brehm, Finsch, Graf Waldenburg-Zeil (1876), außerdem der Norweger Hansteen, die Engländer Atkinson, Lansdell, der Schwede Nordenskiöld, die Amerikaner Kennan, Schütze, der Italiener Sommier u. a. -
Vgl. außer den Schriften Kennans (s. d.): Wenjukow, Die russ.-asiat. Grenzlande (deutsch, Lpz. 1874);
Sachot, La Sibérie orientale (Par. 1875);
Sammlung histor.-statist.
Nachrichten über S. und die Grenzländer (russisch, Bd. 1, Petersb. 1875);
Kohn und Andree, S. und das Amurgebiet (2. Aufl., 2 Bde., Lpz. 1876);
Lansdell, Through Siberia (4. Aufl., Lond. 1883; deutsch, 2 Bde., Jena 1882);
Joest, Aus Japan nach Deutschland durch S. (Köln 1882);
Gilder, Ice-pack and Tundra (Lond. 1883; deutsch u. d. T. «In Eis und Schnee», Lpz. 1883);
Radloff, Aus S. (2 Bde., Lpz. 1884);
Jadrinzew, S., geogr., ethnogr. und histor.
Studien (deutsch von Petri, Jena 1886); Slowzow, Histor. Übersicht S.s (russisch, Petersb. 1886); Sommier, Un estate in Siberia (Flor. 1886); Meshow, Sibir. Bibliographie (russisch, 4 Bde., Petersb. 1891-92);
Siberia and the great Sibirian railway (ebd. 1893);
de Windt, Siberia as it is (Lond. 1892);
Baron Maydell, Reisen und Forschungen im Jakutischen Gebiet 1861-71 (Petersb. 1894);
Marsden, Reise zu den Aussätzigen in S. (Lpz. 1894);
Sibir. Briefe. Von O. O. Eingeführt von P. von Kügelgen (ebd. 1894).
(S. auch Rußland [Litteratur und Karten].)