Sernfthal
(Kt. Glarus). 2263-516 m. Rechtsseitiges, vom Sernf durchflossenes Nebenthal des Linththales. Es wird von der Bevölkerung des Kantons Glarus auch Kleinthal genannt, im Gegensatz zum Grossthal, dem s. Schwanden liegenden Abschnitt des Linththales. Es hat eine Länge von 22 km und bildet einen auffällig regelmässigen halbkreisförmigen Bogen um den O.-Fuss der Freibergkette herum. Das Sernfthal ist nicht, wie manche andere Alpenthäler, in mehrere übereinanderliegende Thalstufen gegliedert, lässt sich aber doch in drei deutliche Hauptabschnitte einteilen.
Der unterste, 5 km lange Abschnitt erstreckt sich von Schwanden bis nach Engi und stellt eine enge, im ganzen um 250 m ansteigende Thalrinne von V-förmigem Querschnitt dar. Die steilen, von dunkeln Tannenwäldern bedeckten, aus rotem Verrucanokonglomerat gebildeten Abhänge des Gandstocks und des Gufelstocks fallen mit gleichförmiger Böschung zum Sernf hinunter. Bloss im mittleren Teil dieses Thalabschnitts, beim Weiler Wart, weicht der Fuss der n. Thalwand etwas zurück, so dass hier Raum für ein welliges Wiesengelände entsteht.
Bei der Engibrücke (770 m), dicht vor dem Dorfe Engi, betreten wir den mittleren, 8 km langen und bis nach Elm reichenden Thalabschnitt. Statt der engen Waldschlucht sehen wir nun einen 300-500 m breiten, mit grünen Wiesen bedeckten, ziemlich flachen Thalboden vor uns, über den sich von beiden Seiten her zahlreiche kleinere und grössere Bachschuttkegel gelegt haben. Deren grösste sind diejenigen des Mühlebaches bei Engi, des Krauchbaches und des Berglibaches bei Matt. Da die Bäche in stabilem, bisweilen ziemlich stark eingeschnittenem Bette über diese Schuttkegel hinweg liessen, tragen sie gut gepflegte Wiesen und Kartoffeläcker; auch die Dörfer (Engi und Matt) und die zerstreuten Weiler und Höfe stehen fast alle auf solchen Schuttkegeln.
Der Thalgrund wird auf beiden Seiten bis auf 1300-1400 m Höhe von steilen, bewaldeten und von Felsbändern durchzogenen, gleichförmig geneigten Abhängen eingefasst, über denen dann mässiger steile, unregelmässig wellige, mit Alpweiden bedeckte Terrassen gegen die Berggipfel ansteigen. Im dritten Thalabschnitt, der von Elm (982 m) bis in den Hintergrund des Thales reicht, wird die Thalsohle unregelmässiger. Auf dem rechten Ufer des Sernf ist sie von einer Reihe von Bachschuttkegeln, auf dem linken Ufer von hügeligen Moränenmassen bedeckt.
Dann geht sie allmählig in die Alpweiden über, die den Thalhintergrund erfüllen. Auf der NW.-Seite steigen die mit grünen Alpwiesen und dunkeln Wäldern bekleideten Abhänge mässig steil über das Thal empor; im S. und O. dagegen bilden die wilden Felswände des Vorab und des Hausstocks einen imposanten Thalabschluss. Die Kammlinie der Freibergkette hat von der Sohle des Sernfthals einen Horizontalabstand von 3-4 km, während diejenige der Sardonakette, die das Thal im O. begrenzt, 5-8 km von ihr entfernt ist.
Daher ist auf der O.-Seite mehr Raum für die Entwicklung von Seitenthälern als auf der W.-Seite. Von der Freibergkette her steigen eine ganze Reihe von kurzen Seitenthälchen ins Sernfthal hinunter; sie münden meist mit einer steilen, schluchtartigen Rinne aus und erweitern sich oben zu breiten, jedoch ziemlich steil ansteigenden, mit Alpweiden und Heuwiesen bedeckten Mulden. Von S. nach N. folgen der Reihe nach die von den rauhen Felsmauern des Kärpfstocks überragten Thälchen von Erbsalp und Bischofalp, die von den Bleitstöcken heruntersteigenden Thälchen der Embächlialp, der Kühbodenalp und der Geissthalalp, das von Berglihorn und Karrenstock überragte Thälchen der Berglialp und die vom Gandstock absteigende, unregelmässige Mulde der Lauelialp, die jedoch zu wenig tief eingeschnitten ist, um ein Thal genannt werden zu können. Die auf der rechten Seite einmündenden Seitenthäler, nämlich das
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gegen den Panixerpass aufsteigende Thal der Jätzalp, das Raminthal, das Krauchthal und das Mühlebachthal, sind alle bedeutend länger, besitzen darum auch ein mässigeres Gefälle und sind tiefer in den Gebirgskörper eingeschnitten; sie münden alle mit engen Schluchten auf das Hauptthal aus. Dieses ist durch zahlreiche Passübergänge mit den benachbarten Thälern verbunden. Ueber die Vorab-Sardonakette führen der Segnespass (2625 m) und der Panixerpass (2407 m) ins Bündner Vorderrheinthal hinüber.
Eine Reihe von Pässen stellen die Verbindung mit dem St. Galler Oberland her, nämlich der Foopass zwischen Elm, dem Weisstannenthal und Mels, der Riesetenpass zwischen Matt und Mels, der Schöneggpass zwischen Matt, dem Schilzbachthal und Flums, die Widersteinerfurkel zwischen Engi, dem Murgthal und Murg am Walensee. Ueber den Richetlipass gelangt man von Elm nach Linthal, und mehrere Uebergänge führen aus dem Sernfthal in das in die Freibergkette eingebettete Niederenthal hinüber.
Die Berge, welche das Sernfthal einrahmen, sind an der Basis aus eozänen und oligozänen Schiefern und Sandsteinen und aus Nummulitenkalkbänken, an den Gipfeln aus Verrucano aufgebaut, der von S. her über jene jüngern Gesteine hinweggeschoben worden ist. Die Ueberschiebungsfläche liegt im S. in der Gipfelregion der Sardonakette, sinkt dann rasch nach N. und NW., verschwindet dicht n. vom Dorf Engi unter der Thalsohle und tritt nahe bei Schwanden (bei der Lokalität Lochseite) an den Ufern des Sernf für eine kurze Strecke nochmals zu Tage. So kommt es, dass im s. Sernfthal die Berge von der Thalsohle bis in die Gipfelregion aus Flysch bestehen und nur auf den höchsten Gipfeln noch von Verrucano gekrönt sind, während umgekehrt im N., zwischen Engi und Schwanden, die Thalwände ganz im Verrucano liegen. (Vergl. «Geologie» in den Artikeln Kanton Glarus und Sardonagruppe).
Dieses geologischen Aufbaues wegen bieten die Berghänge des Sernfthals einen ganz andern Anblick als diejenigen des Linththals und der übrigen glarnerischen Alpenthäler. Statt der von schmalen Gesimsen oder breiten Terrassen unterbrochenen steilen Kalkwände sehen wir hier gleichförmig geneigte, oft bis zum Gipfel mit Vegetation bedeckte Hänge, die von vielen parallelen Runsenzügen durchfurcht sind. Am Vorab, wo zwischen dem Eozän und dem Verrucano eine mehrere hundert m mächtige Malm- und Neokommasse auftritt, sehen wir die Erosionsformen des Flysch mit denjenigen des Kalkgebirges kombiniert. Im Gegensatz zu andern Schiefergebieten fehlen dem Sernfthal verheerende Wildbäche; dafür entstehen an den langen, gleichförmigen Berglehnen oft gefährliche Lawinen.
Einzelne derselben stürzen fast alljährlich bis in den Sernf hinunter oder überschütten die Landstrasse, wie z. B. die von der Geissthalalp herunterkommende Meissenbodenlawine zwischen Matt und Elm. Das Sernfthal ist das einzige unter den glarnerischen Seitenthälern, in welchem zu eigentlichen Dörfern vereinigte Siedelungen liegen. Wir treffen hier drei Dörfer (Engi, Matt und Elm) und mehrere kleine Weiler und Häusergruppen. Deren wichtigste sind Wart (zwischen Schwanden und Engi), Brummbach, Schwändi und Sulzbach (zwischen Matt und Elm), und Hintersteinibach s. Elm.
Die Weissenberge am Abhang des Gulderstocks ob Matt sind die am höchsten gelegenen das ganze Jahr bewohnten Siedelungen des Kantons Glarus. Abgesehen von dem im untersten Teil des Thales liegenden Weiler Wart, der zur Gemeinde Sool und zur Kirchgemeinde Schwanden gehört, bilden die Ortschaften des Sernfthals die drei Gemeinden Engi, Matt und Elm und die beiden Kirchgemeinden Matt und Elm. Sie zählen im ganzen 2763 fast ausschliesslich reformierte Einwohner. Aus der Abgeschlossenheit des Thales erklärt es sich, dass seine Bewohner hinsichtlich Sprache, Kleidung und Volkssitten manche Eigentümlichkeiten aus früherer Zeit bewahrt haben.
Die Bevölkerung von Elm zeichnet sich durch hohen, kräftigen Wuchs aus. Die Bauern tragen hier auch Sonntags den blauen oder grauen «Lismer», ein gestricktes Wams. Viehzucht und Alpwirtschaft waren lange Zeit die einzige Erwerbsquelle der Bevölkerung des Sernfthals und spielen hier jetzt noch eine wichtige Rolle, namentlich in Elm, dessen Rassenviehzucht berühmt ist. Seit Jahrhunderten trieben die Elmer Bauern im Herbst ganze Herden von Jungvieh über den «Bündnerberg» (Panixerpass) auf die tessinischen und oberitalienischen Märkte.
Dieser Welschlandhandel hat jedoch in neuester Zeit der grossen Reisekosten und finanzieller Misserfolge wegen aufgehört. Das Vieh wird jetzt auf die inländischen Märkte gebracht oder von den fremden Händlern an Ort und Stelle aufgekauft. Die Alpen des Sernfthals liefern jährlich rund 40000 kg Käse, 60000 kg Zieger und 25000 kg Butter. Der Obstbau ist im Sernfthal ohne Bedeutung, und der Ackerbau beschränkt sich auf den Anbau der Kartoffel. Kleine Kartoffelgärten fehlen auch den höchst gelegenen Höfen nicht.
Die Industrie fand schon vor Jahrhunderten Eingang. Im 17. Jahrhundert beschäftigte die Wollweberei und im 18. Jahrhundert die Baumwollspinnerei als Hausindustrie zahlreiche Hände. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts ging jedoch diese Verdienstquelle verloren, und es herrschte bis gegen 1850 Not und Armut im Thale, namentlich in Engi, so dass zahlreiche Einwohner sich zur Auswanderung nach Amerika entschlossen. Eine Periode neuen Aufschwungs begann mit der Eröffnung der Baumwollwebereien in Engi (1852 und 1864), die jetzt etwa 330 Arbeiter beschäftigen und die Haupterwerbsquelle dieses Dorfes bilden, und der Spinnerei in Matt (1867), die 80 Arbeiter zählt.
Die Tonschiefer des Sernfthales werden gegenwärtig in drei Bergwerken ausgebeutet. Deren ältestes liegt s. Engi auf der W.-Seite des Thales. Es besteht schon seit Jahrhunderten und wird seit 1844 vom Kanton betrieben und heisst darum der Landesplattenberg. Zwei andere Schieferbrüche sind in neuerer Zeit bei Elm am W.-Fuss der Vorabkette angelegt worden. Der im Jahr 1870 eröffnete Schieferbruch am Tschingelberg veranlasste durch seinen unrichtigen Betrieb den Bergsturz von Elm (1881) und ist im Jahr 1890 an der gleichen Stelle aufs neue in Betrieb gesetzt worden.
Alle Plattenberge des Sernfthales beschäftigen etwa 200 Arbeiter. Sie liefern in Engi vorwiegend Dachschiefer und Tischplatten, in Elm mehr kleine Schiefertafeln. Die Schiefer von Engi schliessen eine interessante Fauna ein, von der bisher 27 Fischarten, 2 Schildkröten und 2 Vögel bekannt geworden sind. Auch der Fremdenverkehr ist in neuerer Zeit für das Sernfthal von ziemlicher Bedeutung geworden. Elm, dessen Umgebung durch einen reichen Wechsel von grossartigen und lieblichen Landschaftsbildern ausgezeichnet ist und Gelegenheit zu vielen interessanten Hochgebirgstouren, lohnenden Exkursionen und Passübergängen bietet, wird immer mehr von Touristen und Kurgästen aufgesucht und hat Aussicht, ein gut besuchter Fremdenort zu werden.
Bis ins 19. Jahrhundert führte bloss ein holpriger Saumpfad von Schwanden auf dem linker Ufer des Flusses ins Sernfthal hinein. Auf die wiederholten Petitionen der Sernfthalgemeinden beschloss die Landsgemeinde 1821 den Bau einer Strasse von Schwanden bis Matt auf dem rechten Ufer des Sernf und 1835 die Fortsetzung derselben bis Elm. Das Teilstück Schwanden-Engi wurde jedoch so planlos und unzweckmässig ausgeführt, dass man sich 1848 entschliessen musste, dasselbe durch eine neue Strasse zu ersetzen.
Seit dem Bau der Eisenbahnlinie Glarus-Linthal (1879) strebten die Behörden und Industriellen des Sernfthales nach einer Bahnverbindung mit dem Hauptthal. Die Landsgemeinde des Jahres 1892 erteilte dem Initiativkomite, das an der Verwirklichung des Projektes arbeitete, die Konzession zur Benutzung der Landstrasse für eine elektrische Schmalspurbahn Schwanden-Elm und für Verwendung der Wasserkraft des Sernf zwischen Engi und Wart. Allein langwierige Anstände zwischen dem Sernfthal und der Gemeinde Schwanden wegen Benutzung dieser Wasserkraft verzögerten die Ausführung des Werkes.
Erst 1903 wurde es in Angriff genommen, nachdem man sich entschlossen hatte, für den Betrieb der Bahn die Wasserkraft des Mühlebaches zu verwenden. Die Verbreiterung der Strasse erforderte auf der Strecke Schwanden-Engi ziemlich umfangreiche Felssprengungen. Im August 1905 wurde die elektrische Bahn eröffnet. Ihre Erstellungskosten betrugen 1600000 Fr., woran der Kanton 750000 Fr., die drei Gemeinden 205000 Fr. und Private des Sernfthals 45000 Fr. à fonds perdu leisteten. Das neue Verkehrsmittel wird für die wirtschaftliche Entwicklung des Sernfthals, namentlich auch für die
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Hebung seines Fremdenverkehrs, von wohltätiger Wirkung sein. An geschichtlichen Erinnerungen ist das Sernfthal nicht reich. Die am meisten hervortretenden Ereignisse sind der Durchzug der Armee Suwarows und ihr Uebergang über den Panixerpass am 5.-7. Oktober 1799, sowie der furchtbare Bergsturz von Elm am Urkundliche Namensform 1300: Serniftal. Vergl. Frey, Karl. Aus den Bergen des Sernfthals. Zürich 1904.
[J. Oberholzer.]