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Selbstverstümmelung, s. Verstümmelung. Bei Tieren findet sich S. oder Autotomie, das (scheinbar) freiwillige Abwerfen von Körper- teilen, bei einer ganzen Neihe sehr verschiedener Klassen und ist eine ausgezeichnete Schutzvorrich- tung: das Tier giebt einen Teil seines Körpers preis, um sein Leben zu retten. Am bekanntesten sind in dieser Hinsicht die Eidechsen und Blindschleichen, die'das Gn've ihres Schwanzes, wenn es rauh an- gefaßt ist, dem Angreifer in der Hand lassen.
Die Loslösung geschieht nicht da, wo zwei Schwanzwirbel aneinander stoßen, sondern quer durch den Kör- per der Schwanzwirbel, die vom siebenten an eine nicht verknöcherte quere Knorpclscheidewand besitzen. Sonst kommt S. noch vor bei Krebsen und Krabben, Spinnen, Weberknechten, Ringelwürmern, Echino- dermen, seltener bei Insekten, Mollusken und Cölcnteraten. Krabben werfen auf mechan., chem., elektrische und thermische Reize sehr leicht ihre bei- den Scheren und die nächstfolgenden vier Veinpaarc ab, ja man kann sie veranlassen, sich aller zehn Er- tremitüten zugleich zu begeben.
Der Bruch geschieht nicht, wie man glauben sollte, in irgend einem Gelenk, wo Veinabschnitte sich vereinigen, sondern ausnahmslos quer durch den Oberschenkel. Unser Flußlrebs kann bloß die Scheren, nicht aber seine Beine abwerfen. Der Reiz muß ein gewalt- samer fein, bevor die Tiere sich selbst verstümmeln. Klemmen sie sich durch Zufall irgendwie mit einem Bein ein, oder werden sie mittels über die Glied- maßen geschlagener Häkchen befestigt, so mühen sie sich wohl ab frei zu kommen, aber ohne ihre Beine abzuwerfen.
Meist, vielleicht immer ist S. mit Ne- gcnerationsvermögen verbunden: der verlorene Teil wächst nach. Die S. kann (bei Ningelwürmcrn und Cölenteraten, wohl auch bei Seesternen) auch infolge des Negenerationsvermögens eine Art der Fort- pflanzung werden und zwar zufällig oder typisch, indem die durch S. hervorgebrachten Stücke zu voll- ständigen neuen Individuen auswachsen. Selbstverwaltung (engl. 86ll-ß0V6i-nm6iit) .Die S. ist ein Hauptstück der modernen Entwicklung des Verwaltungsrechts und als solches zuerst in Eng- land ausgebildet worden.
Die mittelalterlichen und altgerman. Einrichtungen, so weiten Spielraum sie thatsächlich der S. ließen, können nicht unter den heutigen Begriff S. gestellt werden. Dieser hat viel- mehr zur Voraussetzung den Begriff des souveränen Staates, wie er sich nach dem Westfälischen Frieden ausbildete. Im fouveränen Staate kann die Ver- waltung eine völlig centralisiertc Staatsverwaltung sein und wird dies sein müssen, bis die Souveräni- tät der Staatsgewalt ein das ganze Volk durch- dringendes Princip geworden ist.
Dies war in Preußen der Standpunkt unter dem. Großen Kur- fürsten, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich d. Gr. Ist dagegen die Anerkennung der Souveränität des Staates selbstverständliche Grundlage des Etaats- rechts und Staatslebens geworden, ist ferner der Kulturstandpunkt der Bevölkerung ein entsprechend hoher, so ist es eine gesunde und richtige Politik, die Bürger selbst zur Erledigung der ^taatsaufgavcn heranzuziehen. Dies ist der Kernpunkt der S. Re- gelmäßig werden die Ämter der S. als unentgelt- liche Ehrenämter verwaltet, doch ist dies nicht be- grifflich notwendig.
Die Aufgaben der S. sind dem- nach ihrem Inhalt nach Aufgaben der Staatsver- waltung, und es ist ein verhängnisvoller Irrtum, einen Gegensatz von S. und Staatsverwaltung an- zunehmen, während der Unterschied doch nur in dem formalen Umstand liegt, daß letztere durch besoldete Staatsbeamte, erstere in der Hauptsache durch frei gewählte Organe des Volks geführt wird. Freilich bat dies formale Moment eine ungeheure materielle Bedeutung, indem auf diesem Wege die direkte Mit- arbeit und Teilnahme des Volks am Etaatsleben vielleicht noch in sehr viel hiZherm Grade angeregt, befördert und erhalten wird als durch die parla- mentarischen Institutionen.
Dies erkannte mit ge- nialem Scharfblick der Reichsfreiherr vom Stein nach der Katastrophe des preuß. Staates von 1806, und dieser Gedanke ist der rote Faden, welcher sich durch die großartigen Reformen zieht, durch welche Stein den zusammengestürzten Staat wieder auf- baute. In diesem Sinne darf man Stein den Vater der S. in Preußen und indirekt in Deutschland nen- nen. Dabei wahrte doch Stein mit Strenge die specifisch preuh. Traditionen im Gegensatz zu Vincke, welcher einfach die engl. Einrichtungen auf Preußen übertragen wissen wollte.
Derjenige Staatsmann, welcher am meisten und besten die Steinschen Ideen aufnahm und gesetzgeberisch verarbeitete, war Echröt- ter. Das erste große, in seinen Grundlagen bewährt gebliebene und für ganz Deutschland vorbildlich ge- wordene Selbstverwaltungsgesetz für Preußen war die Städteordnung von 1808. Der Entwurf einer Kreisordnung und damit die Einführung der S. fürs platte Land fand damals keinen Abschluß, nach- dem Stein von der Leitung der Geschäfte hatte zurücktreten müssen; der Versuch, in die Vezirks- regierungen Elemente der S. einzufügen, machte völliges Fiasko. Erst durch die Kreisordnung (s. d.) von 1872 und die Provinzialordnung (s. d.) von 1875 wurden diese Probleme ihrer Lösung zugeführt und zugleich durch Einrichtung einer in drei In- stanzen gegliederten Verwaltungsgerichtsbarkeit (s. d.) die Wirksamkeit der S. durch die Garantien des jeder Willkür entrückten gerichtlichen Verfahrens gesichert. - In England bestehen die Einrichtungen der S., insbesondere das Friedensrichteramt, seit Jahrhunderten, und dort liegt in ihnen der Schwer- punkt der Verwaltung überhaupt. (S. Großbritan- nien und Irland, Bd. 8, S. 415 a.) Den Gegensatz hierzu bildet Frankreich ls. d., Bd. 7, S. 71 d), wo die ^. keinen breiten Umfang gewinnen konnte und die cäsarischen Verwaltungseinrichtungen Napo- leons I. im wesentlichen heute noch bestehen.
Die deutschen Staaten haben in den letzten Jahrzehnten viele und segensreiche Arbeit an die Durchführung der S. gewendet; immerhin sind die Einrichtungen, ausgenommen die S. der Städte, welche überall nach dem Vorbild der Steinschen Städteordnung gestaltet ist, nicht unwesentlich verschiedene. Die Autonomie (s. d.) ist ein Ausfluß der S.; die Volks- vertretung hat, weil grundfätzlich nicht zur Füh- rung der Verwaltung berufen, mit der S. keinen unmittelbaren Zusammenhang.
Die S. steht unter Aufsicht und Kontrolle des Staates. Weitaus die wichtigsten Arbeiten für Kenntnis und Verständnis der S. sind die epochemachenden Schriften von Gneist (s. d.) über engl. Verwaltungs- recht;
für die Steinfche Epoche am besten: E. Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter ^tein und Hardenberg (Lpz. 1881);
für die Begriffs- bestimmung der S. vgl. die ausgezeichnete Erörte- rung von Laband in seinem Staatsrecht, Bd. 1 (2. Aufl., Freib. i. Vr. 1888);
außerdem die Lehr- uno Handbücher des Verwaltungsrechts, besonders