(Suicidium), die mit bewußter Absicht vollbrachte gewaltsame Zerstörung des eignen
Lebens. Die
Beweggründe
zum S. sind meist unsittlicher Art. Sehr viele Selbstmorde sind insofern schon lange vorbereitet, als
das ganze Vorleben mit ihnen einen
Abschluß findet. Insbesondere sind es geschlechtliche Unsittlichkeit und
Trunksucht, welche
oft auf ein gewaltsames Lebensende hinsteuern. Doch spielen neben
Leidenschaften und
Lastern auch
Kummer und Sorge über unverschuldetes
Mißgeschick eine nicht geringeRolle.
Dazu kommt der Einfluß von körperlichen und
Geisteskrankheiten, welche übermächtig auf den
Menschen einwirken und ihn zur
Selbsttötung führen.
Da aber eine Feststellung der Zurechnungsfähigkeit des Selbstmörders regelmäßig nicht möglich
ist, so erscheint auch eine Ahndung des Selbstmordes durch unehrliches
Begräbnis und eine Bestrafung des
Versuchs eines solchen
als unstatthaft. Doch gilt letzterer
Grundsatz in
England und
Nordamerika
[* 2] nicht, und in
Ungarn
[* 3] wird auch
die
Beihilfe zum S. bestraft.
Eine scharfe statistische Gruppierung vorgekommener
Fälle nach den
Beweggründen zum S. ist geradezu unmöglich. Die hierüber
vorliegenden
Zahlen sind nur als mehr oder weniger fehlerhafte Näherungswerte zu betrachten. Aber auch eine
statistische Erfassung der Gesamtheit aller Selbstmorde ist mit Schwierigkeiten verknüpft, weil natürlicher
Tod, Ermordung
und Verunglückung vom S. nicht immer zu unterscheiden sind. Immerhin aber bilden die wirklich verzeichneten
Fälle des akuten
Selbstmordes, da gerade bei diesen die Fehlerzahl verhältnismäßig klein ist, ein hinreichendes
Material für wissenschaftliche
Untersuchungen. So konnte denn mit genügender Zuverlässigkeit festgestellt werden, daß im allgemeinen
in
Zeiten zunehmenden Wohlstandes die
Neigung zum S. sich mindert, während eine Verschlechterung, insbesondere eine plötzliche
und unerwartete Zerrüttung der Vermögensverhältnisse, eine
Steigerung derselben hervorruft. Demgemäß weisen auch die
Jahre 1870-73 eine kleinere, dagegen die Folgezeit bis 1879 und 1883 eine größere Zahl von Selbstmorden
auf. Es wurden gezählt in 20
Ländern, welche den größern Teil von
Europa
[* 4] ausmachen (nicht eingerechnet sind die
Pyrenäische
und die
Balkanhalbinsel,
[* 5]
Ungarn und
Holland):
Deutschland
[* 10] teilt diese Eigentümlichkeit mit ganz Zentraleuropa, nur ist dabei unverkennbar, daß die germanischen Staaten,
und unter diesen die von Deutschen bewohnten, die größte Hinneigung zum Selbstmord zeigen. Doch kommt
mitten unter diesen auch das französische Volk (Frankreich und Belgien)
[* 11] mit einer hohen Selbstmordfrequenz in Betracht. Wenn
auch die Bevölkerung
[* 12] gerade in den deutschen Gebieten sehr dicht wohnt, so kann dies der Stammeseigentümlichkeit gegenüber
wohl nicht als ausschlaggebend bezeichnet werden, da ja z. B. in England, Holland etc. die Dichte sehr
groß, aber die Selbstmordziffer weit geringer ist.
DiesenLändern gegenüber weisen die übrigen romanischen Völker, die Spanier, Italiener und, nach andern Quellen zu schließen,
die Portugiesen und Rumänen, sehr günstige Verhältnisse auf, indem die Selbstmordziffer hier nicht
über 30-40 steigt und oft tief darunter steht. Ähnlich liegt die Sache auch in den Ländern zurückgebliebener Kultur, zu
denen schon einige der vorgenannten zählen, so z. B. in Rußland, auf dem Balkan, ferner bei den Südslawen überhaupt. In der
Mitte zwischen den ungünstigen und günstigen Verhältnissen befinden sich dann jene der Mischstaaten,
wie England-Schottland, Niederlande,
[* 13] und der in ihrer Rasse untereinander verwandten Ungarn und Finnen.
Was nun die Bewegung der Selbstmordziffer in der letzten Zeit anbelangt, so ist in Preußen
[* 14] im neunten Jahrzehnt allerdings
ein Rückgang zu verzeichnen; soll derselbe aber in seiner wahren
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forlaufend
Bedeu-829
tung erkannt und damit jede Überschätzung dieser. Erscheinung vermieden werden, so muß die Entwickelung weiter zurück und
im Vergleich mit den übrigen Staaten verfolgt werden. Die auf Preußen bezüglichen Ziffern lauten folgendermaßen: Jahr Zahl
der Selbstmorde Selbstmorde auf je 100000 Einw. Unter je 100 Selbstmördern waren weibl. G. Zahl
d. Selbstmorde im europ. Rußland 1869 3186 13 19 ? 1870 2963 12 21 164? 1871 2723
11 20 1756 1872 2950 12 20 1698 1873 2826 11 22 1755 1874 3075 12 18 1?5? 1875 3278 13 18 1783 1876 391?
15 19 1747 1877 4330 1? 18 1708 1878 4689 18 18 1758 1879 4547 17 18 2030 1880 4769 18
19 2216 1881 4958 18 18 2046 1882 5072 18 19 2158 1883 6171 22 20 2303 1884 5900 21 20 2392 1885 6028
21 20 2481 1886 6212 22 19 2399 1887 5898 21 20 2379 1888 5393 19 21 ? 1889 5615 19
21 ? Die Abnahme in den 80er Jahren stellt eigentlich mehr einen Beharrungszustand dar, und die Ziffern der ganzen Periode
1880-89 sind bedeutend ungünstiger als jene der Zeit von 1870-79; es darf wohl angenommen werden, daß die Ziffern in nächster
Zeit kaum zu jenem niedrigen Stande zurückkehren werden.
Demnach unterscheidet sich Preußen nicht von den übrigen Staaten, in welchen die Selbstmordziffer (wenn man ihren Verlauf
in größern Zügen beobachtet) im allgemeinen im Steigen begriffen ist. So wächst die Ziffer sehr deutlich in Rußland an
und befolgt denselben Gang
[* 16] auch in Frankreich, wie aus folgender, auf dieses letztgenannte 8and bezüglichen
Tabelle hervorgeht: Perioden Durchnschnittliche Jahresziffer der Selbstmorde Selbstmorde auf je 100000 Einw. (rund) Zunahme,
die erste Ziffer = 100 gesetzt 1826-30 1827 5 100 1831-35 2119 6 130 1836-40 2574 7 148 1841-45 2931 8 170 1846-50
3446 9 199 1851-55 3639 10 209 1856-61 4002 11 230 1861-65 4661 12 270 1866-70 4690 13 286 1871-75
5276 15 302 1876-80 6259 17 359 1881-85 7337 19 421 18586-87 8194 21 471 Hier hat sich die Zahl vervierfacht,
und, in der That, das Steigen der Selbstmordziffer in unserm Jahrhundert ist eine Erscheinung, die für
Europa als allgemein gültig hingestellt werden kann.
Wohl ist es richtig, daß die Verzeichnungen immer vollständiger werden, aber damit kann die Zunahme nur etwas abgeschwächt,
jedoch nicht weggeleugnet werden. Um dies im allgemeinen nachzuweisen, werden im folgenden die Ziffern der Selbstmorde zu Ende
der 30er und zu Anfang der 80er Jahre in den wichtigsten europäischen Staaten einander gegenübergestellt;
mit der einzigen Ausnahme von Norwegen
[* 17] zeigt sich überall eine Zunahme. Es war die Anzahl der Selbstmorde auf 1 Mill. Einwohner:
1. Periode 2. PeriodePreußen 102 186 Sachsen 150 391 Württemberg 107 366 Bayern 55 134 Österreich 45 161 Schweden
66 92 Norwegen 109 67 Dänemark 213 251 Frankreich 70 190 Belgien 46 103 England 62 76 Aus der früher angeführten
Tabelle der Selbstmorde in Preußen in der Zeit von 1869-89 können wir eine zweite sehr ungünstige Erscheinung entnehmen; wir
sehen nämlich, daß in den 80er Jahren das weibliche Geschlecht stärker (mit 19 20 Proz.) unter den
Selbstmördern vertreten ist, als dies in den 70er Jahren der Fall war; in dieser letztgenannten Zeit betrug der Prozentsatz
im allgemeinen nur 18-19 und war nur unmittelbar nach dem deutsch-französischen Kriege bis zum Jahre 1873 ein höherer.
Für die Zeit des neunten Jahrzehnts sind wir, Dank der offiziellen preußischen Statistik, im stande,
in das Wesen der Selbstmorde tiefere Einblicke zu gewinnen; so zunächst, was die sogen. Ursachen anbelangt. Es ist bisher gelungen,
bis auf 18 Proz. aller Fälle die Ursachen, welche zum Selbstmord geführt haben, nach größern Gruppen festzustellen, und zwar
wurden als solche verzeichnet, gereiht nach der Häufigkeit ihres Auftretens im J. 1889: Selbstmordursachen
Zahl der Selbstmorde 1883 1885 1887 1889 Geisteskrankheiten 1505 1582 1559 Kummer 814 766 646 KörperlicheLeiden 446
477 519 Lebensüberdruß 655 611 592 Reue, Scham 489 435 455 Laster 638 659 606 Leidenschaften 175 168 193 Ärger
und Streit 208 145 181 Trauer 29 23 32 Andre bekannte Gründe 56 62 29 Unbekannt gebliebene Gründe 1156 1100 1086 Annähernd
ein Viertel aller Selbstmorde wurden infolge von nachgewiesener Geistesstörung unternommen; inwieweit sonst die Sinnesverwirrung
bei Selbstmorden als Begleitumstand auftritt, wird die Statistik wohl nie ergründen können.
Dann folgen als häufigste Ursachen Lebensüberdruß im allgemeinen, körperliche Leiden
[* 18] oder Kummer, Reue,
Scham u. dgl. mit ungefähr je 10-12 Proz. der
Fälle. Unter der Bezeichnung »Leidenschaften« sind auch die Selbstmordfälle aus »unglücklicher
Liebe« inbegriffen. Allerdings verhalten sich die beiden Geschlechter hinsichtlich der Ursachen, welche den Mann, resp. das
Weib zum freiwilligen Tode treiben, in wesentlich verschiedener Weise. Von je 100 Selbstentleibungen wurden
verübt aus: Selbstmordursachen 1885 männl. Geschl. weibl. Geschl. 1889 männl. Geschl.
weibl. Geschl. Lebensüberdruß 10,4 9,0
10,0 7,8 Laster 12,9 3,1 10,1 1,3
Kummer 13,8 8,3 12,7 6,8
Geisteskrankheit 21,9 43,3 21,9
38,6 Körperlichen Leiden 7,8 8,4 9,6
11,6 Leidenschaften 2,3 4,9 2,5 6,2
Trauer 0,4 0,4 0,5 0,9
Reue, Scham 7,3 6,8 9,0 8,7
Ärger, Streit 2,6 1,7 2,8 2,3
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