Seide
,
[* 2] der von der
Seidenraupe aus dem
Sekret ihrer
Spinndrüse gefertigte
Faden,
[* 3] aus welchem sie behufs der
Verpuppung
einen
Kokon spinnt. Das aus zwei feinen Öffnungen unter dem
Munde der
Raupe austretende honigdicke
Sekret vereinigt sich zu
einem einzigen massiven
Faden, der an der
Luft sofort erhärtet. Die
Raupe erzeugt zuerst ein lockeres,
grobes, durchsichtiges Gespinst
(Flockseide) und innerhalb desselben den dichten, eiförmigen, 33-36
mm langen
Kokon
(Galette)
von 20-25
mm
Durchmesser, dessen innerste
Schicht von pergamentartiger
Beschaffenheit ist. Da nun weder die letztere
Schicht noch
das äußere lose Fädengewirr technisch nutzbar ist, so erhält man von den
ca. 3700
m, aus welchen der
ganze
Kokon besteht, nur etwa 300-600, seltener 900 m brauchbare S. Von frischen
Kokons wiegen durchschnittlich 540 (von den
größten 360, von den kleinsten 1200) 1 kg. Die rohe S. ist weiß, blaß- oder hochgelb, zuweilen
auch rötlichgelb; von dem einfachen Kokonfaden wiegen 2570-3650 m 1
g; er ist bemerkbar abgeplattet,
von 0,013-0,026
mm
Dicke, läßt sich um 15-20 Proz. seiner
Länge ausdehnen und reißt bei einer Belastung mit 43,62 kg pro
QMillimeter (ein Drittel der
Festigkeit
[* 4] besten Eisendrahts). Er ist völlig strukturlos und besteht aus etwa 66 Proz. stickstoffhaltiger
Seide
nsubstanz
(Fibroin), welche mit oberflächlich anhängenden
Stoffen verunreinigt ist.
Letztere bestehen aus leimartiger, in Wasser, nicht in Alkohol löslicher Substanz, Seidenleim (gleichsam ein Hydroxyd des Fibroins), aus Fett und Wachs (1-1,5 Proz.). Die gelbe S. enthält 1/30 Proz. harzartigen, gelben, in Alkohol und heißem Seifenwasser löslichen Farbstoffs. Die von diesen Verunreinigungen befreite S. hat ein spezifisches Gewicht von 1,3, löst sich in Kupferoxydammoniak und beim Kochen mit Kalilauge, in konzentrierter Schwefelsäure, [* 5] Salpetersäure und Salzsäure, wenig in Essigsäure und tritt, aus ihren Lösungen abgeschieden, stets in Fadenform auf. Rohe S. hinterläßt etwa 0,6 Proz. Asche.
Da der auskriechende Schmetterling [* 6] mittels eines durch den Mund abgesonderten Saftes den Kokon befeuchtet, erweicht und durchbohrt, so muß die Puppe vor dem Auskriechen getötet werden. Dies geschieht in einem Backofen oder in einer geheizten Kammer bei einer Temperatur von 57-75° C., auch durch Wasserdampf, indem man die Kokons nach dem Abpflücken der Flockseide in locker geflochtenen Körben etwa 10 Minuten auf einen Kessel mit kochendem Wasser setzt. Nachdem die Kokons alsdann sorgfältig sortiert sind, werden sie abgehaspelt (Spinnen). [* 7]
Man legt sie in heißes
Wasser und schlägt sie mit einem kleinen
Besen oder mechanisch bewegten
Bürsten oder tränkt sie in
Netzbeuteln mit warmem
Wasser und schüttelt sie dann, um auf die eine oder die andre
Weise den Anfang
des Kokonfadens, der sich an die
Reiser oder Netzmaschen anhängt, zu finden. Die
Kokons werden dann in warmes
Wasser (25-27°)
gebracht und die
Fäden von 3-8, selbst 15-20
Kokons, je nach der
Stärke
[* 8] der darzustellenden S., bereinigt, indem man sie durch
gläserne
Ringe leitet.
Mittels des vom
Wasser erweichten
Seidenleims kleben die Kokonfäden zusammen und
bilden, ohne eine Drehung erhalten zu haben, einen starken Seide
nfaden, der sofort auf einen
Haspel gewickelt wird. 10-16
kg frische, grüne
Kokons oder 7-9 kg gebackene geben 1 kg gehaspelte S., was auf 1
Kokon 150-180 (bis 240)
mg oder 1/8 vom
Gewicht des ganzen
Kokons (mit der
Puppe) beträgt.
Die gehaspelte S. (rohe S.,
Grège-, Rohseide
,
Grezseide) wird meist gezwirnt
, indem man zwei und mehr
Fäden durch Zusammendrehen
vereinigt. Aber auch wenn dies nicht geschieht, muß der
Faden der Rohseide
eine Drehung erhalten; er wird dadurch runder,
dichter und verliert die
Eigenschaft, beim spätern
Entschälen in einzelne Kokonfäden zu zerfallen. Das
Zwirnen
(Filieren,
Moulinieren) ist eine sehr einfache
Operation, die auf
Spulmaschinen, Dubliermaschinen und Zwirn
maschinen (Spinnmühlen, Filatorien)
ausgeführt wird. Nach den Verschiedenheiten in der
Zusammensetzung und Drehung der
Fäden unterscheidet man: Organsin (Orsoyseide
,
Kettenseide), aus den schönsten
Kokons, aus 2, seltener 3
Fäden gezwirnt
, deren jeder aus 3-8
¶
mehr
Kokonfäden besteht und vor dem Zusammenzwirnen
einzeln sehr stark gedreht ist; dient zur Kette der meisten seidenen
Stoffe.
Tramseide (Trama, Einschlagseide), aus geringern Kokons, besteht entweder aus nur einem mäßig gedrehten oder aus 2-3 nicht
gedrehten, schwach zusammengezwirnten
Rohseidefäden, deren jeder aus 3-12 Kokonfäden gebildet ist; dient zum Einschlag,
zu Schnüren etc. Marabutseide besteht aus drei (selten zwei) Fäden weißer Rohseide, die nach Art der
Trama gezwirnt
, dann ohne vorhergehendes Kochen oder Entschälen gefärbt und schließlich sehr scharf gezwirnt
sind, hat peitschenschnurartige
Härte, wird in der Weberei
[* 10] benutzt.
Soie ondée, aus einem groben und einem feinen Rohseidefaden gezwirnt
, von welchen der erstere in Schraubenwindungen
um den letztern sich herumlegt; dient zu leichten Modestoffen. Pelseide (Pelo), aus den geringsten Kokons gewonnen, ist ein
einziger grober, gedrehter Rohseidefaden aus 8, 10 oder mehr Kokonfäden, dient als Grundlage zu Gold- und Silbergespinsten
und wird mit geplättetem Draht
[* 11] umwickelt. Nähseide (Cusir) ist aus 2, 4, auch 6 gedrehten oder ungedrehten
Rohseidefäden (à 3-42 Kokonfäden) zusammengezwirnt.
Strickseide, der vorigen ähnlich, aber dicker und schwächer gezwirnt
, weil sie weich sein muß, enthält 3 bis etwa 18 Rohseidefäden.
Kordonnierte S., bestehend aus schönen Rohseidefäden, die man zunächst rechts dreht, worauf 4-8 Fäden links zusammengezwirnt
und 3 gezwirnte Fäden durch eine Zwirnung rechts vereinigt werden, ist drall und derb, sehr rund und
glatt, schnurähnlich, dient zu gestrickten, gehäkelten Arbeiten etc. Stickseide (flache S., Plattseide) ist ein schwach gedrehter
einfacher Rohseidefaden oder aus 2-10 und mehr nicht gedrehten Rohseidefäden durch eine sehr schwache Drehung gebildet.
Der ganze Faden breitet sich flach aus, und man kann nach dem Kochen und Färben die einzelnen Kokonfäden
unterscheiden. Die aus den Seidenfilatorien (Seidenmühlen) hervorgehende S. heißt filierte oder moulinierte S. im Gegensatz
zur Rohseide.
Zur Bestimmung der Feinheit der filierten S. (Titrierung) gibt man das Gewicht einer bestimmten Fadenlänge an und zwar das Gewicht einer Strähne von 9600 Pariser Aunes (11,400 m) in Deniers (à 24 Gran). [* 12] Ein Denier ist beim französischen Seidengewicht = 1,275, beim piemontesischen = 1,281, beim mailändischen = 1,224 Gran. Man haspelt ein Gebind von 400 Aunes (475 m) ab und bestimmt dessen Gewicht in Gran. So viel Gran die Probe wiegt, so viel Deniers wiegen 9600 Aunes. In Frankreich setzt man die 400 Aunes rund = 480-500 m. Der einfache Kokonfaden wiegt 2-3,5 Deniers, feinste ungezwirnte Rohseide 7-10, feinste Organsin 21-24, gröbste 50-85, feinste Trama 12-24, gröbste 60-80 Deniers.
Auf den internationalen Kongressen von 1873 und 1874 wurde beschlossen, die Feinheitsnummer der Seidengespinste durch den zehnfachen Wert der Zahl auszudrücken, welche das absolute Gewicht eines Fadenstücks von 1 m Länge in Milligrammen darstellt; als Einheitslänge soll hierbei 500 m, als Einheitsgewicht 0,05 g angenommen werden. Die S. ist ungemein hygroskopisch; sie nimmt in Kellern 30 Proz. Feuchtigkeit auf, ohne eigentlich Nässe zu zeigen, und je nach der Beschaffenheit des Aufbewahrungsorts und der Luft schwankt ihr Gewicht leicht um mehrere Prozent. Um nun dem Seidenhandel mehr Sicherheit zu geben, wird die S. in besondern Anstalten (Konditionieranstalten) probeweise bei 20-30° getrocknet und danach ihr Wert bestimmt. Richtig konditionierte S. enthält 9-10 Proz. Feuchtigkeit; man trocknet aber auch eine Probe bei 110°, wägt sie und schlägt zu dem Gewicht dieser absolut trocknen S. 10 Proz. hinzu.
Rohe S. ist hart, rauh, steif und ohne Glanz (ungekochte, unentschälte S., écru) und wird zu Gaze und Blonden verarbeitet; meist aber wird sie entschält, d. h. von dem Seidenleim und Farbstoff befreit, wodurch sie glänzend und weich wird (gekochte, entschälte, linde S.) und sich leichter und besser färbt. Man behandelt sie zu dem Zweck mit starker Seifenlösung bei 90° (Degummieren), windet die Strähnen aus, bringt je 20-30 kg in einen leinenen Sack, kocht sie in schwächerer Seifenlösung, spült und trocknet.
Gute S. erleidet hierbei einen Gewichtsverlust von 27 Proz.; die Kokonfäden sind wieder vollständig voneinander getrennt, und die S. erscheint daher lockerer, gleichsam aufgequollen. Gelbe S. ist nun weiß und kann auch mit hellen Farben gefärbt werden; die weiß zu verarbeitende wird mit schwefliger Säure vollständig gebleicht und dann mit Indigolösung gebläut oder mit Orlean schwach rötlich gefärbt (Chinesischweiß). Rohe S. kann ohne Entschälung gebleicht werden, indem man sie 48 Stunden mit einem Gemisch aus 1 Teil Salzsäure und 23 Teilen Weingeist digeriert.
Florettseide (Fleurett, Filoselle, Florett) wird aus den Seidenabfällen (Galettseide) bereitet und besteht nicht, gleich der gehaspelten S., aus ununterbrochenen langen Fäden, sondern aus mehr oder weniger kurzen, durch einen wirklichen Spinnprozeß zu Fäden vereinigten Fasern. Die Abfälle bestehen aus der Flockseide und den pergamentartigen innern Häutchen der Kokons (beide Sorten werden als Strusi bezeichnet) sowie aus beschädigten oder durchgebissenen Kokons. 8-10 kg Kokons liefern etwa 1 kg gehaspelte S. und 1-2 kg Abfälle.
Die Strusi werden 8-10 Tage in Wasser maceriert und dann gewaschen; die Kokons kocht man mit Seifenwasser und wäscht sie dann ebenfalls; das so gewonnene Material wird nun wie Baumwolle [* 13] gekrempelt und gesponnen. Bisweilen zerschneidet man auch das Material zunächst in Längen von 40-70 mm, oder man hechelt oder kämmt die langen Sorten, wie Flachs oder lange Wolle, auf der Dressingmaschine und erhält als Abfall Stumpen- oder Seidenwerg. Zum Spinnen dient das Handrad oder Maschinen, wie sie bei der Baumwoll-, Flachs- oder Kammwollspinnerei benutzt werden. Die Gespinste (Seidengarn) kommen als Chappe, Crescentin, Galettam, Galette in den Handel; auch die Abfälle bei der Florettseidenfabrikation (Strazza) werden ebenfalls noch versponnen. Man benutzt die Gespinste zu Geweben, Hutfelbel, groben Bändern und Schnüren, als Stickseide, auch zum Stricken und in der Strumpfwirkerei. Für gewisse Waren wird Florettseide auch mit Baumwolle oder Wolle versponnen.
Seidenbau und Seidenmanufaktur wurden zuerst in China [* 14] betrieben; schon 4000 Jahre v. Chr. war die S. den Chinesen bekannt, doch geschieht der Seidenzucht erst 2602 Erwähnung. Eine chinesische Kaiserstochter verpflanzte die Seidenzucht 140 v. Chr. nach Japan und eine andre im 6. Jahrh. nach Tibet. Nach Ritter wanderte die Zucht wohl in der Sassanidenperiode nach Sogdiana, Baktriana und Iran und kam von dort nach Serinda. Bei den Griechen spricht zuerst Aristoteles von der S. und der Seidenraupe, und zwar scheint Alexander durch seinen Feldzug diese Kenntnis vermittelt zu haben. Ward nun schon hier die S. ein beliebter Gegenstand des Luxus, ¶
mehr
so spielte sie bei den Römern eine noch viel größere Rolle, und trotz wiederholter Verbote gegen das Tragen seidener Kleider nahm der Luxus immer mehr überhand. Vielleicht schon unter Tiberius, sicher aber 220 wurde Rohseide nach Italien [* 16] gebracht und dort zu halb- und ganzseidenen Stoffen verarbeitet. Unter Justinianus (555) brachten persische Mönche Seideneier und Maulbeersamen aus Serinda nach Konstantinopel, [* 17] und nun erblühte bald in jeder griechischen Stadt Seidenbau.
Von dort aus betrieb Venedig, [* 18] von Indien und Persien [* 19] aus Phönikien Seidenhandel. Im 8. Jahrh. gelangte der Seidenbau durch die Araber nach Spanien, [* 20] ohne sich aber dort bedeutend zu entwickeln. 1130 kam er nach Sizilien [* 21] und breitete sich von da bald über Florenz, [* 22] Bologna, Venedig und Mailand [* 23] aus; Venedig aber spielte im 15. und 16. Jahrh. in der Seidenindustrie die erste Rolle. Nach Frankreich soll der erste Maulbeerbaum 1268 gekommen sein; 1345 bestanden in Marseille [* 24] und Montpellier [* 25] Seidenmanufakturen, und unter Ludwig XI. und den folgenden Herrschern fand der Seidenbau kräftige Unterstützung. 1667 übertraf Frankreich in der Seidenindustrie alle Länder, durch die Auswanderung der Hugenotten aber erhielt dieselbe einen starken Stoß und verbreitete sich nun auch über andre Länder Europas. In Deutschland [* 26] war die S. schon sehr früh bekannt durch den Handel, den die Ostseereiche über Kiew [* 27] mit den Völkern am Schwarzen Meer trieben. Im 10. Jahrh. wurde S. in Mainz [* 28] verwebt, und bald erblühte in Augsburg, [* 29] Nürnberg [* 30] etc. eine bedeutende Seidenindustrie. In Berlin [* 31] gab es 1580 sehr viele Seidenmanufakturen.
Die ersten Raupen zur Zucht scheinen 1599 nach Deutschland gekommen zu sein; 1670 bildete sich in Bayern [* 32] die erste Seidenbaugesellschaft, und unter Friedrich II. erblühte das Seidengewerbe in der Mark, bei Halberstadt, [* 33] Magdeburg [* 34] und in Pommern, [* 35] gewann indes keinen festen Boden und verfiel wieder während der Napoleonischen Kriege. Erst in neuester Zeit ward dieser Industriezweig von neuem angeregt, kam indes zu keiner rechten Entwickelung, da die Raupenkrankheit in den 50er Jahren die europäische Produktion um mehr als die Hälfte verminderte und von weitern Bemühungen abhielt.
Hauptsächlich ist die europäische Seidenzucht gegenwärtig in Italien, Spanien (Murcia, [* 36] Valencia), [* 37] Portugal, Griechenland [* 38] und der Türkei, [* 39] in einigen Teilen Frankreichs (Gard, Ardèche, Drôme, Vaucluse) und Österreichs (Südtirol, Görzer Gebiet, Istrien, [* 40] Dalmatien), in Südrußland und der Schweiz [* 41] (Tessin und Graubünden) entwickelt. Die Produktion betrug 1885 in Italien 2,457,000 kg, in Österreich-Ungarn [* 42] 168,000, in Frankreich 535,000, in Spanien 56,000, in der Türkei 100,000, in Griechenland 20,000, in ganz Europa [* 43] 3,340,000 kg. Die Ernte [* 44] in China schätzt man auf 9,440,000 kg, sie betrug in Japan 3,520,000, in Kleinasien und Transkaukasien 430,000, in Ostindien [* 45] 423,000, in Persien 400,000; die Ausfuhr aus Siam 66,000 kg, die Gesamtproduktion 17,619,000 kg. Die größte Seidenindustrie haben Frankreich, England, Italien und die Schweiz.
Vgl. Quatrefages, Essai sur l'histoire de la sériciculture (Par. 1860);
Duseigneur-Kléber, Le [* 46] cocon de soie (2. Aufl., das. 1875);
Clugnet, Géographie de la soie (Lyon [* 47] 1877);
Bavier, Japans Seidenzucht, Seidenhandel und Seidenindustrie (Zürich [* 48] 1874);
Brocket, Silk-industry in America (New York 1876);
Persoz, Essai sur le conditionnement, le titrage et le décreusage de la soie (Par. 1878);
Moyret, Traité de la teinture des soies (Lyon 1879);
Nat. Rondot, l'art de la soie (2. Aufl., Par. 1885-87, 2 Bde.);
A. Rondot, Essai sur le commerce de la soie en France (das. 1883);
Giraud, Les origines de la soie, son histoire chez les peuples de l'Orient (das. 1883);
Morand, Carte séricicole de la region italique, etc. (Lyon 1878);
Kalesse, Geschichte der Seidenwebkunst (Leipz. 1883).