Titel
Sehen.
[* 1] Am S. sind beteiligt 1) die in der Netzhaut ausgebreiteten letzten Endigungen des Sehnerven (Stäbchen- und Zapfenschicht), die auf die Einwirkung von Lichtstrahlen durch eine bestimmte Erregung reagieren;
2) die Sehnerven, deren Fasern die Erregung nach den Gehirnteilen leiten, in denen sie wurzeln;
3) diese Gehirnteile selbst, in denen die Erregung in Lichtempfindung umgesetzt wird. Während die Erregung durch Lichtstrahlen keinem andern Nerven, [* 2] sondern ausschließlich der erwähnten Netzhautschicht zukommt, ruft jede andersartige (mechan., elektrische, thermische, chem.) Reizung der beim S. beteiligten Substanzen immer nur dieselbe Erregungsform, nämlich die Lichtempfindung, hervor. Bei den vollkommenem Tieren bilden nun die Querschnitte der Stäbchen und Zapfen [* 3] ein sehr feines Mosaik und wird das von einem jeden Punkte eines leuchtenden Objekts ausgehende Licht [* 4] auf ein Feldchen dieses Mosaiks konzentriert und die dadurch hervorgerufene Erregung gesondert zum Gehirn [* 5] geleitet, das demnach ebenso viele Einzeleindrücke erhält, als Feldchen des Mosaiks vom Licht getroffen werden.
Das auf der Netzhaut entworfene Mosaikbild eines Objekts, das desto mehr einem kontinuierlichen Bilde gleichen muß, je feiner und zahlreicher die Feldchen sind, kommt in dieser Weise zur Anschauung. Über die Weise, in der die Wirkung der Lichtstrahlen in Lichtempfindung umgesetzt wird, weiß man nur, daß eine chem. Einwirkung auf das von Boll und Kühne entdeckte Sehrot (Sehpurpur), d. i. eine die Netzhaut durchdringende blaßrote, durch Einwirkung des Lichts erblassende Substanz, eine Hauptrolle spielt.
Wenigstens läßt sich an einem unter besondern Vorsichtsmaßregeln herausgenommenen Auge [* 6] die Form der Objekte, die sich unmittelbar vorher auf der Netzhaut abbildeten, in einem blassen Bilde erkennen (Photogramm). Die Lösung der rein physik. Aufgabe, auf der Netzhaut Bilder der Sehobjekte zu entwerfen, vollzieht sich in der Tierwelt nach einem dreifachen Typus. Bei dem ersten, den musivisch zusammengesetzten Augen der Krebse und Insekten [* 7] (s. beistehende [* 1] Fig. 1), endet die Netzhaut mit einem halbkugeligen Körper g, auf dessen Oberfläche seine cylindrische, radienartig angeordnete Röhrchen r sitzen, an deren Boden die feinen Sehnervenfasern enden und die durch für Licht unempfindliche Scheidewände getrennt sind.
Die Sonderung der Lichteindrücke und die Entstehung eines Mosaikbildes ist nun dadurch gegeben, daß nur solche Punkte der Außenwelt die Nervenfaser eines Röhrchens erregen können, die in der geradlinigen Fortsetzung desselben liegen. Neben den eben geschilderten einfach musivischen Augen giebt es auch dioptrisch musivische, in denen die einzelnen Röhrchen mit kleinen, das Licht sammelnden, linsenähnlichen Körpern (c der [* 1] Figur) kombiniert sind und eine gewisse Accommodation dadurch ermöglicht wird, daß durch die Wirkung von Muskelfasern die Distanz der Endnervenfaser von diesem Körper veränderlich ist.
Der zweite nach Leuckart nur im Auge eines Kopffüßers vorkommende Typus beruht auf dem Princip des kleinsten Loches (s. Fig. 2). Im vordern Abschnitt des Auges findet sich eine kleine Öffnung, durch welche die Lichtstrahlen A alpha und B beta auf die dunkle Hinterwand des Auges fallen und dort ein Bild alpha beta des Objekts entwerfen. Der dritte Typus, die dioptrisch kollektiven Augen, beruhen auf dem Princip der Camera obscura. [* 8] Sie finden sich bei den Wirbeltieren,und als ihr Prototyp kann das menschliche Auge (s.d., [* 1] Fig. 3 und Tafel: Das Auge des Menschen, Bd. 2, S. 104) gelten.
Hier machen es die
Anordnung der brechenden Medien und ihre
Beziehungen zur
Pupille möglich, daß nicht
nur die in der Richtungslinie oo des
Auges liegenden Objekte, sondern auch ein
Teil der daneben liegenden auf der in Form einer
Kugelschale ausgebreiteten Netzhaut sich abbilden, so Punkt
A in alpha, Punkt
B in beta (c ist der Kreuzungspunkt
der Richtungsstrahlen). Die Gesamtheit dieser Eindrücke bildet das
Gesichtsfeld des
Auges. Da jedoch der gelbe Fleck, der
am hintern Ende der
Augenachse
(Blicklinie) liegt, ein wesentlich feineres Unterscheidungsvermögen besitzt als die excentrischen
Netzhautteile, so richtet das
Auge seine
Achse stets auf den Objektpunkt, der scharf gesehen
werden soll,
und schneiden sich beim binokularen S. die beiden
Blicklinien in diesem Punkte. Die
Bilder, welche die beiden gelben Flecke
mehr
erhalten, verschmelzen dann zu einem einzigen, d. h. der fixierte Punkt wird einfach gesehen
,
wie alle Punkte, die sich auf gleichwertigen und identischen Stellen der beiden Netzhäute abbilden. Der Eindruck des Körperlichen,
der Tiefendimension, entsteht nun dadurch, daß beide Augen von einem körperlichen Gegenstande nicht ganz gleiche, sondern
etwas verschiedene Bilder erhalten, und es läßt sich, wenn man die letztern als Flächenbilder den betreffenden
Augen im Stereoskop
[* 10] (s. d.) vorführt, künstlich die Täuschung des Körperlichsehens
hervorrufen. Beim binokularen S. unterrichtet uns das Muskelgefühl über den Grad der Konvergenz der Augenachsen und damit über
die Entfernung des gesehenen
Punktes, und aus dieser Entfernung und der Größe des erhaltenen Netzhautbildes
bilden wir uns ein Urteil über die Größe eines gesehenen
Objekts.
Bei den niedersten Tieren beschränkt sich das S. größtenteils auf die Unterscheidung von Hell und Dunkel. Die oft in großer Anzahl vorhandenen und häufig an beweglichen Körperteilen angebrachten Augen bestehen nur aus einem Pigmentflecke oder einem zapfenartigen Gebilde, dem bei manchen Arten linsenförmige Körper von starkem Lichtbrechungsvermögen eingelagert sind.
Über elektrisches oder telegraphisches Fernsehen
s. Elektrisches Sehen.
[* 11]
Vgl. Bernstein, [* 12] Die fünf Sinne des Menschen (2. Aufl., Lpz. 1880);
Classen, Die Physiologie des Gesichtssinnes (Braunschw. 1876);
Le [* 13] Conte, Die Lehre [* 14] vom S. (Lpz. 1883);
Wundt, Physiol. Psychologie (3. Aufl., 2 Bde., ebd. 1887);