Titel
Schwedische
Litteratur 1880-90.
Man kann diesen Zeitraum in der schwedischen
Litteratur als die
Periode des
Realismus
und der Problemlitteratur bezeichnen. Sie trat als eine starke
Reaktion gegen die bis dahin herrschende,
aber ziemlich ausgelebte
Romantik und den oberflächlichen
Idealismus auf und brach sich mit großer
Kraft
[* 2]
Bahn, eine reiche
Litteraturblüte hervorrufend, obgleich sie oft große Unreife verriet und große Rücksichtslosigkeit walten ließ.
Gegen den Schluß der 70er Jahre begann unter dem Einfluß von drei verschiedenen Seiten eine Reaktion gegen die alte romantische Litteraturrichtung sich geltend zu machen. Des großen norwegischen Dichters Henrik Ibsen Ideen- und Gesellschaftsdramen wurden in Schweden [* 3] ebensoviel als in Norwegen und Dänemark [* 4] gelesen und besprochen. In diesen legte er kühn den Maßstab [* 5] des Absoluten an die relative Wirklichkeit, welche dabei kläglich zu kurz kam. Die Idee in ihrer überirdischen Reinheit und Hoheit neben ihre Offenbarungsform in der Wirklichkeit gestellt, zermalmte dieselbe und deckte ihre Leere auf; so wurde die Liebe in »Kärlighedens Komedie«, die Religion in »Brand«, die Religion und der Staat in »Kejser og Galiläer«, die Persönlichkeit in »Peer Gynt« die Ehe in »Et Dukkehjem«, der Liberalismus, Konservatismus und der herrschende dritte Stand in »De Unges Forbund«, »Samfundets Stötter« und »En Folkefiende«, endlich die Moral der Gesellschaft in diesen und namentlich in »Gjengangere« behandelt.
Solange sich Ibsen mehr an allgemeine Ideen hielt, blieb er noch ziemlich unverstanden, als er jedoch in seinen spätern Stücken in die sozialen Verhältnisse eingriff und das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und ihren Institutionen aufzeigte, übte er sowohl auf die Denkungsart als auf die Litteratur in Schweden den entschiedensten Einfluß. Er öffnete der Gegenwart den Blick dafür, wie wenig die Wirklichkeit dem Ideal entsprach, und gab damit der herrschenden, ziemlich abgeschmackten und äußerlichen Art von Idealismus den Todesstoß. Für das neue Geschlecht der Dichter war es fortan das Erste und Wichtigste, die Wirklichkeit auf ihre Übereinstimmung mit dem Idealen zu prüfen.
Gleichzeitig begann der französische Realismus, vertreten durch Flaubert, die Brüder Goncourt, Daudet und Zola, allgemeiner bekannt zu werden, ebenso wie die Litteraturrichtung, die unter deren Einfluß durch Georg Brandes' kräftige Initiative in Dänemark und Norwegen Boden gewann (J. P. ^[Jens Peter] Jacobsen, Drachman, Schandorph, Kielland u. a.). Man begann das Leben und die Natur an der Quelle [* 6] selbst zu studieren und diese um ihrer selbst willen zu schildern, nicht um eine Reflexion [* 7] oder eine ethische Sentenz zum Worte kommen zu lassen, lernte sich objektiv seinem Vorwurf gegenüberstellen und die Wirklichkeit nehmen, wie sie sich zeigte, von ihrer guten und schlimmen, ihrer schönen und häßlichen Seite, und suchte die verschiedenen Charaktere psychologisch zu erklären, nicht sie ethisch zu verurteilen. In den Schöpfungen der neuen Litteraturrichtung waren die traditionellen Formen und Persönlichkeiten verschwunden, eine größere Natürlichkeit trat an die Stelle des Arrangierten und Gemachten in der Komposition, und Menschen der Gegenwart mit Gefühlen und Gedanken im Gewande der Jetztzeit bewegten sich in denselben.
Da man so nach der Wirklichkeit die Menschen der Gegenwart und die Konflikte, in die sie geraten konnten, zu schildern wußte, so war es natürlich, daß die Darstellung verschiedene brennende Fragen der Gegenwart berühren mußte. Dabei konnten diese Schriftsteller so wenig als Henrik Ibsen sich objektiv verhalten. Er hatte allerdings in seinen Stücken sich damit begnügt, Fragen aufzuwerfen, ohne direkt eine Antwort dafür zu haben, und Probleme in die Debatte zu werfen, aber die Tendenz war doch jedenfalls deutlich sichtbar.
Diese war bei der neuen Litteraturrichtung die gleiche wie bei Ibsen, nämlich das Recht der Persönlichkeit geltend zu machen, das Recht des Individuums gegenüber der Gesellschaft und ihren Institutionen, das Recht der armen Volksklassen auf vollen Anteil an den geistigen und materiellen Gütern der Gesellschaft, das Recht des jüngern Geschlechts gegenüber den alten und traditionellen Anschauungen, das Recht des Weibes auf volle Selbständigkeit innerhalb und außerhalb der Ehe.
Der Ruf nach voller Wahrheit in der Dichtung wurde auf die Forderung voller Wahrheit im Leben ausgedehnt. Man glaubte zu finden, daß die Institutionen der Gesellschaft, die Klassen, Sitten und Konvenienzen der Gesellschaft in vieler Hinsicht sich der freien Entwickelung des Individuums hindernd in den Weg legen, sie zwingen, unwahr zu sein, sie einschnüren und niederdrücken, und daß diese Verhältnisse von Grund aus einer Umwandlung bedürften. Der Geist des Individualismus ging durch die ganze realistische Dichtung und Problemlitteratur. Sie wählte deshalb ihre Stoffe hauptsächlich in der Absicht, ein soziales Gebrechen aufzudecken.
Die Folge davon war, daß diese Litteratur anfangs meist des Lebens Nachtseiten aufsuchte und schilderte: unglückliche Ehe, religiöse und sittliche Heuchelei, Armut und Not, seelische Gebrechen und Unwissenheit, und daß die geschilderten Charaktere solche waren, die entweder in unwahren oder ungesunden Verhältnissen untergingen, oder sich zum Kampfe gegen dieselben, zum Kriege gegen die von der Gesellschaft, der Religion oder der Sitte geheiligten Verhältnisse erhoben.
Dadurch zog sich diese Litteraturrichtung den Vorwurf zu, daß sie mit Vorliebe das Niedrige und Häßliche aufsuche, und daß ihre Lebensanschauung eine pessimistische sei und ihr der Sinn für das Ideale vollständig abgehe. Dieser Vorwurf war indes nur scheinbar berechtigt, denn es lag gerade ein ideales Interesse dem Streben zu Grunde, den mangelnden Sinn für das Ideale in der Wirklichkeit hervorzuheben, und der Glaube an die Entwickelungsfähigkeit der Persönlichkeit, welcher in den meisten Schilderungen sich aussprach, war nichts weniger als pessimistisch.
Dagegen ließ das Interesse für das Individuum diese Dichter gar oft die Bedeutung und Aufgabe der Gesellschaft und ihrer Institutionen verkennen und um der Schwächen willen die Sache selbst verurteilen, verführte verschiedene von ihnen durch die Macht der Konsequenz dazu, sogar gewisse Grundsätze der Sittlichkeit zu verneinen und im Bestehen auf dem abstrakten Rechte die Pflicht und die erziehende Bedeutung, welche im Zwang liegt, sich andern zu fügen, sich nach ihnen zu richten, sich für sie aufzuopfern, zu übersehen. Das war für manchen von diesen Schriftstellern gleichbedeutend mit Heuchelei und Feigheit, und mit größter Bitterkeit wurden namentlich die Gesellschaftsklassen angegriffen, welche als Repräsentanten des Bestehenden galten. Man teilte die Mitglieder der Gesellschaft in eine »obere« und eine »untere« Klasse, und mit ¶
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Entschiedenheit führte die neue Litteraturrichtung das Wort für die letztere, indem sie die Gegensätze zwischen beiden schärfte.
Schon in den letzten 70er Jahren und zu Anfang der 80er Jahre traten die hervorragendsten Schriftsteller dieser Richtung auf. In der Poesie war es Albert Ulrik Bååth, der mit seinen »Dikter« (1879) und »Nya dikter« (1881) einen neuen Ton anschlug. Die Form war eine andre, als man sie bisher gewohnt gewesen. Die landläufigen poetischen Bilder und Ausdrücke waren verschwunden und neue, kräftigere, aus der umgebenden Wirklichkeit und dem Alltagsleben genommen, an die Stelle getreten.
Worte aus der Alltagssprache, die früher in der Poesie nicht für präsentabel galten, wagte er unerschrocken zu gebrauchen und vermengte sie sogar ab und zu mit Worten aus den Dialekten, da die Staatssprache prägnanter Ausdrücke für das, was er bezeichnen wollte, entbehrte. Ebenso war die Versbildung in gewisser Weise neu: wie in der altnordischen Poesie bildete hier die Betonung [* 9] die rhythmische Grundlage. Zwar klang die Form hart und derb, aber das Frische und Originelle in derselben wog diesen Mangel auf.
Der Inhalt war gleichfalls neu. In den Nationalgesängen lieh der Dichter seiner Liebe zu dem heutigen Schweden Worte und forderte zur Hebung [* 10] des Volksgeistes namentlich durch die Verbreitung der Aufklärung in allen Schichten auf. Er malte Bilder, schilderte Stimmungen aus der Natur um ihrer selbst willen und zeichnete mit Vorliebe seine Heimat, die Schonensche Ebene, die sonst für unschön und unpoetisch gegolten. In Bildern und Situationen stellte er in scharfem Kontrast nebeneinander thatenloses Träumen und thatkräftiges Arbeiten, Reichtum und Armut, Überfluß und Elend, unthätiges Genußleben und harten Kampf ums Dasein, Unsittlichkeit unter konventioneller Tugendmaske, Funken von höherm Leben bei den Tiefgesunkenen oder von der Gesellschaft Ausgestoßenen.
Auch erotische Gedichte neuer Art finden sich, kleine Bilder und Situationen, in welchen verschiedene Stimmungen aus der Geschichte der Liebe vorkommen: ihre ersten Träume, ihr Glück, erwachender Zweifel, Schmerz, Kummer und Verzweiflung. Bååth gehörte jedoch nie zu den Extremen dieser Richtung. Bitterkeit und Ungerechtigkeit führen nie das Wort in seiner Dichtung; er greift nie mit kalter Hand [* 11] in des Lebens zarte Verhältnisse. In seiner dritten Gedichtsammlung: »Vid allfarväg« (1884), herrscht eine mildere Stimmung, er hebt nicht mit so großer Schärfe wie früher die sozialen Kontraste hervor, sondern sucht die Lichtpunkte auch in des Ärmsten Leben auf. Er schildert hier mit Vorliebe die Ruhe von der Arbeit, die Luft an der Arbeit und die Genügsamkeit und sieht in der Liebe des Lebens Bedeutung und in der pflichttreuen Arbeit seine erhaltende Macht. Die Form ist hier durchgearbeitet und vollendet, ohne an Ursprünglichkeit, Frische und Kraft verloren zu haben.
Gegen den Schluß der 70er Jahre trat auf dem Boden des Dramas und der Erzählung August Strindberg auf. In dem Schauspiel »Mäster
Olof«, mit dem schwedischen
Reformator Olaus Petri als Träger
[* 12] des Stückes, zeichnet er keck und kräftig
den Kampf der neuen Zeit gegen die alte. Bei dem Reformator läßt er jedoch bald das Glühen für Wahrheit erkalten und die
Ideen ein Kompromiß mit der Staatsrücksicht und eigennütziger Berechnung eingehen, während die rücksichtslose Konsequenz
von einem Wiedertäufer vertreten wird, der deutlich die Sympathien des Dichters hat. Es war augenscheinlich,
daß er in der Gärungszeit der Reformation seine eigne Zeit und in dem Kampfe
gegen die alte Kirche den Streit des jüngern
Geschlechts gegen die gleichzeitigen abgestorbenen Formen für das Ideal zu zeichnen suchte.
Der Roman »Röda rummet« (1879) schilderte in einer Reihe von Bildern aus dem Leben des jüngern Geschlechts in Stockholm [* 13] das Bohemientreiben der jüngern Schriftsteller- und Künstlergeneration. Die Hauptperson ist ein Wahrheitsfanatiker, der findet, daß nichts das ist, wofür es sich ausgibt, der offen seine Meinung ausspricht, deshalb auf allen Seiten anstößt, als gesellschaftsgefährlich angesehen wird, und dem es trotz aller Kenntnisse und Talente nicht gelingt, sich eine Stellung in der Welt zu machen.
Die meisterhafte Zeichnung der Naturbilder und Interieurs, die mit kräftigem Realismus und treuer Anschaulichkeit ausgeführt sind, die lebendigen, unmittelbar aus dem Leben geschöpften Züge, die treffenden psychologischen Beobachtungen sowie der Geist der Frische und des Lebens, der durch das Buch ging, waren etwas Neues und machten großes Aufsehen, obgleich die Komposition sehr schwach und der Gedanke unklar war, ein Geist der Bitterkeit durch das Buch wehte, außerdem auch unnötig rohe Schilderungen vorkamen.
Eine außerordentliche Produktivität brachte eine Arbeit um die andre zu stande. Infolgedessen waren
die meisten bei all ihren großen Verdiensten, die sie in verschiedener Richtung hatten, zu wenig durchgearbeitet. Das Schauspiel
»Gillets hemlighet« (1880
) und »Herr Bengts husfru« (1883) folgten sich rasch. In »Svenska
öden och äfventyr« bot er eine Reihe von historischen Erzählungen mit Stoffen aus verschiedenen Perioden.
In dem ganzen äußern Apparat zeigten sie eine gute Zeitfärbung, aber die handelnden Personen waren doch immer verkleidete
Menschen von heute, und unter der historischen Tracht sah man die scharfe Kritik gegen die Anschauungen und sozialen Verhältnisse
der Gegenwart durchschimmern.
In der Forderung der Freiheit und des Rechts des Individuums trieb er es so weit, daß er die ganze Gesellschaft verdammte und in der Kultur eine bösartige Entartung erblickte; Kultur war für ihn Unnatur. Der Individualismus trieb die Konsequenz noch weiter. In »Giftas« (1885) greift er einzelne von den Fesseln an, welche die Sittlichkeit der schrankenlosen Freiheit auflegt. In dieser übrigens sehr talentvollen Arbeit, welche dem Verfasser wegen Verhöhnung des Nachtmahls eine Strafklage zuzog, von welcher er jedoch freigesprochen wurde, greift er mit den Waffen [* 14] des Humors die übertriebenen Ansprüche der Frauen auf Selbständigkeit in der Ehe an, welche von einer Gruppe namentlich der neuern Litteraturrichtung angehörenden Schriftstellerinnen unter dem Einfluß von Ibsens »Et Dukkehjem« geltend gemacht worden. In seinem »Nya riket« (1882),
seinen »Dikter« (1883),
»Utopier«
(1885) u. a. legt Strindberg dieselbe strenge Kritik an das Bestehende und entwickelt ein ganz eminentes Talent. Aber der Ton
wird in allen seinen Arbeiten aus dieser Zeit immer bitterer, und seine Polemik richtet sich häufig in
mehr oder minder versteckten Anspielungen gegen die Person, statt gegen die Sache. Auch artet der rücksichtslose Realismus in
seinen Schilderungen nicht selten in Roheit aus. Ein Versuch in schwedischer
Kulturgeschichte: »Svenska folket i helg och söken«,
der 1881 zu erscheinen begonnen, in welchem das Leben der untern Volksschichten geschildert werden sollte,
und in welchem auch dieselben Tendenzen wie in seinen belletristischen Arbeiten hervortreten, wurde von ihm selbst als mißglückt
erkannt. Besser fiel eine andre kulturhistorische Arbeit
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aus: »Gamla Stockholm«, die er in Verbindung mit Claës Lundin herausgab.
Strindbergs Forderung der Wahrheit in der Dichtung führte ihn zuletzt zu der Ansicht, daß nur die Selbstbiographie Wert habe, da ein Schriftsteller nur das mit voller Wahrheit wiedergeben könne, was er selbst gedacht, gekannt und erlebt habe. In »Tjensteqvinnans son« (1886-87) gab er deshalb eine ziemlich unverhüllte Selbstbiographie voll Einseitigkeit, Ungerechtigkeit und Gehässigkeit, eine sehr schwache Arbeit, welche sich nur aus den schwierigen Verhältnissen erklären läßt, in denen der Verfasser in seiner unfreiwilligen Verbannung lebte. Sein Ansehen richtete er jedoch durch seine vortrefflichen Schilderungen des Volkslebens in »Hemsöborna« (1887) und »Skärkarlslif« (1888) wieder her.
Von 1888 an hat sich eine neue Gedankenrichtung in Strindbergs Schaffen geltend gemacht. Statt der hohen Auffassung vom Weibe tritt jetzt die zu Tage, das Weib sei ein tief unter dem Manne stehendes Wesen und befinde sich in einem Entwickelungsstadium, das er bereits hinter sich habe, auf einer Stufe zwischen Kind und Mann, dem Wilden und dem Kulturmenschen. Die frühere demokratische Lebensauffassung ist einer aristokratischen, der Nietzscheschen ähnlichen gewichen, nach welcher die Menschheit um ihrer meist entwickelten Individuen willen, welche herrschen sollen, da ist, und das frühere Verdammen der Kultur hat solcherweise der höchsten Auffassung derselben Platz gemacht.
Die Konflikte in seinen spätern Werken entstehen durch das, was er »hjärnornas kamp« (Kampf der Gehirne) nennt, d. h. den Kampf, durch den sich der »Übermensch« (Nietzsche) zum Herrn der niedern Individuen macht, seine Ansichten und Lebensanschauungen ihnen eintränkt und sie seinen Zielen dienstbar macht. Diese Ideen hat er durchgeführt in Novellensammlungen, in Schilderungen (»Bland franska bönder«, 1889),
in Romanen (»Tschandala«, 1889; »I hafsbandet« 1890),
in Schauspielen (»Fadern«, »Fröken Jutie«, »Kamraterna«, 1888) etc., in welchen das wirkliche Genie und die Ausartungen des Genies nebeneinander zum Vorschein kommen. In diesen dramatischen Arbeiten will der Verfasser nebenbei eine neue Form für das Schauspiel zur Geltung bringen, die hauptsächlich darin besteht, daß die Exposition fehlt: man wird unmittelbar auf den Höhepunkt der Handlung geführt, und das Ganze entwickelt sich in Einem Akte, ein weiterer Versuch, der Dichtung eine größere Ähnlichkeit [* 16] mit der Wirklichkeit zu geben.
Das Schaffen Strindbergs trägt das Gepräge eines eminenten Talents: Kraft und Anschaulichkeit in der Zeichnung und Charakteristik, dramatische Spannung in der Entwickelung der Handlung und große Lebenswahrheit, zu gleicher Zeit aber Mangel an Einheit im ganzen, große Einseitigkeit in den Ansichten, Ungerechtigkeit, ja oft Gehässigkeit gegen andrer Anschauungen und äußerste Rücksichtslosigkeit in der Darstellung, die nicht selten roh und cynisch wird. Manche seiner Arbeiten, in denen die Mängel weniger hervortreten, wie »Mäster Olof«, »Svenska öden och äfventyr« und »Skärkarlslif«, sind doch Meisterwerke.
Neben Bååth und Strindberg war Frau Anne Charlotte Leffler-Edgren, Duchessa Cajanello, die vornehmste Repräsentantin des Realismus, Individualismus und der Problemlitteratur. Sie trat 1882 mit einer Novellensammlung: »Ur lifvet«, auf, welcher mehrere mit gleichem Titel und verschiedene Schauspiele (»Hur man gör godt«, 1885) folgten. Mit großer Wahrheitstreue, mit guter Charakteristik und in einem vorzüglichen Stil hat sie Menschen und Verhältnisse der Gegenwart geschildert und verschiedene soziale Fragen, so namentlich die Frage von den Rechten der Frau und der Ehe, sowie den Gegensatz zwischen Reichtum und Armut behandelt. Im übrigen wird diese Richtung von den größtenteils sehr produktiven Autoren, wie Georg Nordensvan, Gustaf af Gejerstam, Oscar Levertin, Tor Hedberg, Frau Alfhild Agrell, Fräulein Matilda Roos, Daniel Sten (Frau Ina Lange), Ernst Ahlgren (Frau Victoria [* 17] Benedictsson) u. a., vertreten. Einige Schriftsteller, wie Ola Hansson und Stella Cleve, [* 18] gefielen sich in Schilderungen von nervösem und hysterischem Sensualismus. Das Volksleben wurde in der neuen Richtung von einigen der genannten Autoren, wie Gejerstam und Frau Agrell, und außerdem von Henrik Wranér und Johannes Sundblad sowie in ganz vorzüglicher Weise von August Bondeson geschildert.
Die Unreife, welche anfangs die Produkte der neuen Richtung charakterisierte, wich bald einer sehr großen Sicherheit und Anschaulichkeit in der Zeichnung, und in der Mitte der 80er Jahre beherrschte diese Richtung beinahe vollständig die Litteratur. Fleißiges Studium der innern und äußern Verhältnisse des Lebens, ernstes Streben, sich in die verschiedenen Lebenszustände und die unter diesen aufgewachsenen Charaktere zu versetzen, war an die Stelle mehr oder minder freier Phantasiegebilde getreten, und manche soziale und ethische Frage wurde der Gegenwart ans Herz gelegt. In einer reichen Litteratur von Kritiken in Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren und Büchern wurden die Ideen der neuen Litteratur entwickelt.
Aber die Mängel dieser Richtung, welche anfangs weniger bemerkt worden, kamen bald zu Tage, als sie die herrschende wurde. Vor allem war es der Mangel an Phantasie und Erfindungsgabe. Dieselben Stoffe, dieselben sozialen und ethischen Fragen kamen immer wieder, und gewisse Charaktere begannen stereotyp zu werden. Das Publikum begann ebenfalls zu ermüden, weil es in diesen Dichtungen nur mit verschrobenen, gedrückten Verhältnissen und verkehrten Charakteren Bekanntschaft machte, und bei dem trostlosen Ton, der meist in den Schilderungen herrschte, sich nach Erhebung und Lebensfreude in der Dichtung sehnte. In demselben Maße, wie die Schriftsteller älter wurden und größere Reife gewannen, erweiterte sich auch ihre eigne Lebensanschauung und sammelten sie größere Lebenserfahrung.
Sie sahen ein, daß vieles von den Mängeln im Leben von allgemein menschlichen Ursachen herrührt und nicht die Folge der Schlechtigkeit der sozialen Institutionen oder der herrschenden Gesellschaftsklassen war; sie bekamen einen klareren Blick für das Bestehende im Leben. Ihre Schöpfungen begannen die scharfe aggressive Form, die sie bisher gehabt, den urteilenden und verurteilenden Ton, der vorher in ihnen geherrscht, zu verlieren. Der Realismus begann für sie das zu werden, was er eigentlich ist, eine Kunstform, und als seine erste Aufgabe begannen sie die Schilderung und Erklärung irgend einer Seite des Lebens aufzustellen. Es war ums Jahr 1888, daß diese Richtung allgemein wurde.
Bååth hatte bereits in seiner Gedichtsammlung »Vid allfarväg« (1884) sich in der vollen Reise seiner Dichterkraft gezeigt und des Lebens bestehende und erhaltende Mächte in größerer Dichtung zur Geltung gebracht. In »Marit Vallkulla« (1887) schildert er auf dem Hintergrund eines Hexenprozesses zu Ende des 17. Jahrh. Natur und Volk Dalekarliens und ¶