Schulze
-Delitzsch
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Hermann, Begründer der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (s. d.), geb. zu Delitzsch, [* 2] studierte in Leipzig [* 3] und Halle [* 4] Jura, wurde 1830 Auskultator in Naumburg [* 5] a. S., 1838 Assessor am Kammergericht zu Berlin [* 6] und kehrte 1841 als Patrimonialrichter nach seiner Vaterstadt zurück. 1848 vertrat S. den Wahlkreis Delitzsch in der Nationalversammlung zu Berlin, wo er zum Vorsitzenden des Ausschusses zur Untersuchung des Notstandes der arbeitenden Klassen ernannt wurde.
Dabei gewann er die Überzeugung, daß die Hebung der durch die Konkurrenz der Großindustrie hart bedrängten Kleingewerbe nur durch die Beschaffung von Kapital und andern Mitteln des Großbetriebes im Wege der Association zu erreichen sei. 1849 begründete er in seiner Vaterstadt die erste Rohstoffgenossenschaft für Schuhmacher und Tischler. Inzwischen war er zum Mitglied der nach der octroyierten Verfassung von 1849 berufenen Zweiten Kammer gewählt worden, nach deren Auflösung er wegen Teilnahme an dem Steuerverweigerungsbeschlusse von 1848 verklagt, auf seine glänzende Verteidigungsrede jedoch freigesprochen und an das Kreisgericht zu Wreschen (Posen) [* 7] versetzt wurde. Doch nahm er bald seine Entlassung und kehrte nach Delitzsch zurück, wo er die Weiterentwicklung des Gedankens einer Hebung [* 8] der arbeitenden Klassen ¶
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auf der Basis wirtschaftlicher Selbsthilfe wieder aufnahm. Unter seinem Einfluß entstanden zunächst in Delitzsch, Eilenburg, [* 10] Halle, Bitterfeld [* 11] und im Königreich Sachsen [* 12] Genossenschaften zur billigern Beschaffung von Rohstoffen und Halbfabrikaten, Lebens- und Genußmitteln, ferner sog. Volksbanken, die aus kleinen Einzahlungen und fortgesetzten Spareinlagen der Teilhaber sowie aus empfangenen Darlehnen Geldvorschüsse gegen etwas höhere Zinsen gewährten und den Nutzen dem Guthaben der Mitglieder zuwachsen ließen. (S. Vorschuß- und Kreditvereine.)
Durch zahlreiche populäre Schriften wirkte S. zugleich für die Ausbreitung seines wirtschaftlichen Princips und trat namentlich der stürmischen Propaganda Lassalles für Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe entgegen. Auf dem ersten Vereinstage deutscher Vorschußvereine, welcher vom 14. bis in Weimar [* 13] abgehalten wurde, übertrug man S. die Stellung eines «Anwalts» des Genossenschaftswesens, welche er bis zu seinem Tode bekleidete. Seit 1859 beteiligte er sich auch wieder an polit.
Angelegenheiten; er wirkte mit an der Stiftung des Nationalvereins und nahm 1861 ein Mandat für Berlin zum preuß. Abgeordnetenhause an, wo er, ebenso wie im Reichstage (1867‒74 für Berlin, seit 1874 für Wiesbaden), [* 14] der Fortschrittspartei angehörte. Er starb zu Potsdam. [* 15] In Delitzsch wurde ihm 1891 ein Denkmal errichtet. Von seinen zahlreichen Schriften seien genannt: «Associationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter» (Lpz. 1853),
«Vorschuß- und Kreditvereine als Volksbanken» (5. Aufl., ebd. 1876),
«Jahresbericht über die deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften» (ebd. 1859‒82),
«Die Gesetzgebung über Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften» (Berl. 1869),
«Neue vollständige Anweisung für Vorschuß- und Kreditvereine» (Lpz. 1870). –