Schuldramen
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eine besondere Abart dramatischer Dichtungen, deren charakteristische Eigentümlichkeit es ist, daß sie entweder ausschließlich oder doch in erster Linie für die theatralische Darstellung in Schulen und durch Schüler bestimmt waren. Zu besonderer Bedeutung gelangten die S. in Deutschland, [* 2] wo sie namentlich im Reformationsjahrhundert emporblühten und neben den Bürgerspielen, mit denen sie sich gelegentlich mischten, ganz entscheidend im reformatorischen Sinn wirkten.
Eine zur Zeit noch fehlende, einigermaßen vollständige Geschichte der S. würde bezüglich der ältesten Anfänge bis auf die mittelalterlichen Spiele und die Beteiligung der ältern Kloster- und Lateinschulen an diesen Spielen zurückgreifen müssen und würde anderseits die mit dem Emporblühen des Humanismus entstehenden lateinischen Dramen und Komödien ins Auge [* 3] zu fassen haben, welche die Bestrebungen und Wanderzüge der Humanisten durch halb Europa [* 4] begleiteten.
Nicht ausschließlich, aber meist an Universitäten und Schulen dargestellt, auf eine Hörerschaft berechnet, welche nicht nur der lateinischen Sprache [* 5] mächtig, sondern auch den geistigen Bestrebungen der Humanisten überhaupt günstig war, beeinflußten diese Schulkomödien die Entwickelung der gesamten dramatischen Dichtung. Vom Ende des 15. Jahrh. an schrieben an vielen neuentstehenden Gymnasien u. Lateinschulen die Schulordnungen die jährlich oder öfter wiederholte Aufführung eines Dramas vor, und eine Reihe der hervorragendsten Schulmänner versuchten sich in eignen Schöpfungen dieser Art, in Neubearbeitung und Lokalisierung vorhandener S. Unter den Schuldramatikern ragten die Niederländer Guilielmus Gnaphäus mit »Acolastus« (der Komödie vom verlornen Sohn),
Georg Macropedius mit dem »Hekastus«, ferner Johannes Sapidus zu Schlettstadt [* 6] mit dem »Lazarus« hervor, alle drei Vorbilder für lange Reihen von Nachahmungen gebend. Vom Anfang der Reformation an begannen sich Schuldrama und Volksdrama einander stark zu nähern. Um im reformatorischen Sinn wirken zu können, wurden einesteils zahlreiche S. deutsch geschrieben oder aus dem Lateinischen übersetzt, andernteils nahmen die dichtenden Geistlichen und Schulmeister für die Aufführung nicht mehr bloß Schüler und Studenten, sondern auch bürgerliche Kreise [* 7] zu Hilfe. Um die Mitte des 16. Jahrh. standen das auf die lateinischen Dramatiker gestützte Schuldrama und das aus den mittelalterlichen Spielen und Fastnachtsschwänken hervorgewachsene Volksdrama überall in Blüte [* 8] und Wechselwirkung.
»Schuldrama und Volksdrama waren wohl in keiner Landschaft völlig getrennt. Aber die Mischungsverhältnisse, die überwiegenden Kompositionsformen und Stoffe zeigten sich dem Ort und der Zeit nach verschieden. Die Schauspiele, die um Luther her entstanden, gehören dem Typus des Schuldramas auf Terentianischer Grundlage an, der sich von hier aus allmählich über ganz Norddeutschland verbreitete.« (Scherer.) Unter den lateinisch dichtenden Schuldramatikern dieser Zeit zeichnen sich Xystus Betulius (Sixt Birk) von Augsburg [* 9] mit seiner »Susanna«, Thomas Naogeorgus (Kirchmair) mit »Pammachius«, »Mercator« und »Hamanus«, Christophorus Stymmelius mit seiner weitverbreiteten »Studentenkomödie« aus. Gegen den Ausgang des 16. Jahrh. beherrschten Nikodemus Frischlin und Kaspar Schonäus mit ihren lateinischen Komödien das Schuldrama. Daneben entstanden fortgesetzt deutsche S.; in Magdeburg [* 10] z. B. war es Gesetz, daß die Schüler des Gymnasiums ¶
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alljährlich ein lateinisches Drama vor den Schulherren, ein deutsches vor Rat und Bürgerschaft aufführten, und beinahe überall, wo ein Gymnasium gedieh, herrschte ein ähnlicher Brauch. Namhafte Dichter, wie Rollenhagen, Barthol. Krüger, Martin Rinkhardt u. a., bethätigten sich als Verfasser deutscher S. Mit den theatralischen Darstellungen, welche vom Ausgang des 16. Jahrh. an die Jesuiten in den von ihnen geleiteten Schulen bewußt pflegten, nahm die neulateinische Dramendichtung einen neuen Aufschwung: zu den alten, überwiegend rhetorischen Elementen gesellten sich neue, die aus der italienischen Pastoral- und Opernpoesie stammten.
Die Schuldramatiker der Gesellschaft Jesu steigerten, ihrer ganzen Richtung gemäß, auch den äußerlichen Prunk solcher Darstellungen. Die Rückwirkung davon auf das Schuldrama der Protestanten zeigte sich hauptsächlich in den an der Akademie zu Straßburg, [* 12] die ein eignes Theater [* 13] besaß, veranstalteten Aufführungen. Neben den ältern S. wurden klassische lateinische, ja griechische Dichtungen in Szene gesetzt, für die der klassischen Sprachen Unkundigen durch deutsche Inhaltsangaben und Übersetzungen gesorgt, auch eine bedeutende Zahl von Dramen hier zuerst aufgeführt.
Namentlich die Dichtungen von Paul Crusius, Kaspar Brülovius, Heinr. Hirzwigius erregten in den beiden ersten Jahrzehnten des 17. Jahrh. große Teilnahme. Der Dreißigjährige Krieg wirkte, wie auf alle Kulturverhältnisse, so auch auf die Schulen und ihre Pflege des Dramas zerstörend ein; nach dem Dreißigjährigen Krieg trat das gelehrte Buchdrama in den Vordergrund. Nur wenige Dramatiker dichteten noch unmittelbar für die Schulaufführungen, denen ohnehin jetzt durch die Darstellungen der umherziehenden Berufsschauspieler eine bedenkliche Konkurrenz bereitet wurde.
Gleichwohl versuchten die Schulen zunächst noch sich der neuern deutschen Dramen zu bemächtigen: von den Tragödien und Komödien des Andr. Gryphius, den Tragödien Lohensteins, Hallmanns sind Schüleraufführungen in Breslau, [* 14] Liegnitz, [* 15] Halle, [* 16] Altenburg, [* 17] Annaberg [* 18] etc. nachgewiesen. Der letzte ausschließliche Schuldramatiker war um die Wende des 17. und 18. Jahrh. der Zittauer Rektor Christian Weise, dessen Tragödien und Komödien nach Gödekes Wort »weit und breit in Sachsen [* 19] aufgeführt« wurden, und der Aufschwung, den er dem Schuldrama wiedergegeben, war bis tief ins 18. Jahrh. hinein zu spüren. Die theatralischen Darstellungen der Schüler richteten sich endlich, mangels eigner für ihre besondern Zwecke verfaßter Dramen, auf zufällige Darbietungen der theatralischen Tageslitteratur, traten also in Konkurrenz mit der eigentlichen Schaubühne, was ihren Untergang nicht aufhalten konnte. - Daß auch in andern Ländern als Deutschland das Schuldrama zu einer gewissen Entwickelung gelangte, ist mehrfach nachgewiesen, namentlich für England.
Als Schuldrama darf sicher Nicholas Udalls »Ralph Royster-Doyster« betrachtet werden. Eingehende Untersuchung und Darstellung verdienen jedenfalls noch die lange Rivalität zwischen den Berufsschauspielern und den Choristen von St. Paul u. a., sowie die Versuche, lateinische und der Antike nachgebildete Dramen gegenüber dem Volksdrama der Shakespeareschen Zeit zu behaupten.
Vgl. H. Palm, Christian Weise (Bresl. 1854);
Strauß, [* 20] Nikodem. Frischlin (Frankf. a. M. 1855);
Heiland, Über die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Weimar [* 21] (Weim. 1858);
Reusch, Wilh. Gnaphäus (Elbing [* 22] 1868);
Pilger, Dramatisierungen der Susanna im 16. Jahrhundert (Halle 1879);
Jundt, Die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Straßburg (Straßb. 1881);