Schlaf
(physiologische
Ursachen). Die neuern Forschungen lehren, daß die
Ermüdungsstoffe (ponogene
Substanzen), d. h.
gewisse
Stoffe, die als Nebenerzeugnisse der Thätigkeit unsrer
Muskeln
[* 2] in den betreffenden
Organen und
Geweben gebildet werden,
zu dem
Wechsel des wachenden und schlaf
enden Zustandes in engster Beziehung stehen. Während
Preyer,
Binz
und
Obersteiner unter den besagten
Substanzen der
Milchsäure eine besondere Bedeutung zuerkennen, üben nach
Gautier und
Errera
die Leukomaïne, d. h. gewisse aus dem
Fleische der
Tiere darstellbare
Alkaloide, die ebensowohl durch ihre chemische
Zusammensetzung
wie auch hinsichtlich gewisser andrer
Eigenschaften den Stoffwechselprodukten der
Bakterien
(Ptomaïne und
Toxine) sehr nahe stehen, eine schlaf
erregende
Wirkung dadurch aus, daß sie vermöge ihrer chemischen
Verwandtschaft zum
Sauerstoff
den
Nervenzellen letztern entliehen und auf diese
Weise eine zeitweilige Sauerstoffarmut des
Gehirns herbeiführen.
Neben ihrer sauerstoffentziehenden Einwirkung scheinen die Leukomaïne auf die Gehirnzellen noch eine ähnliche Wirkung auszuüben, wie sie gewissen narkotischen Substanzen (Opium, Morphium, Chloralhydrat u. a.) eigentümlich ist. Der Thatsache, daß die Leukomaïne ebensowohl unmittelbar auf die Gewebe [* 3] und Organe, in denen sie sich anhäufen, wie auch mittelbar durch die Nervenleitung auf die Nervenzentren (Ganglien) einwirken, entspricht eine zweifache Bedeutung des Wortes »Ermüdung«.
Wir müssen unterscheiden zwischen jener
Ermüdung, die von dem in lebhafte Thätigkeit versetzten
Muskel
empfunden wird (einem Zustand, der durch Herabsetzung der
Reizbarkeit des Muskels gekennzeichnet ist), und jener allgemeinen
Ermattung und Müdigkeit, die sich als Schlaf
bedürfnis zu erkennen gibt. Darauf, daß die
Ermüdungsstoffe (Leukomaïne)
auf gewisse Hirnganglien weniger einwirken als auf andre, sind jene
Erscheinungen, welche man als »teilweisen
S.«
(Somnambulismus) bezeichnet, mit
Wahrscheinlichkeit zurückzuführen.
Während im wachenden Zustand stets neue
Mengen von Leukomaïnen erzeugt werden, sinkt während des
Schlafes, wo die
Funktionen
der
Organe ruhen, die
Bildung dieser
Substanzen auf ein sehr geringes
Maß herab, und es wird für den
Körper leicht, sich während
des
Schlafes dieser
Stoffe durch langsame
Verbrennung
(Oxydation) wieder zu entledigen. Unter gewissen Umständen
vermag eine
Vermehrung der
Arbeit (vorausgesetzt, daß dieselbe dazu angethan ist, die Leukomaïne aus den
Geweben zu entfernen)
das
Gefühl der Müdigkeit und Schlaf
fheit zu beseitigen. Darauf
¶
mehr
beruht wohl zum Teil der für die Gesundheit zuträgliche Einfluß der Bewegung in freier Luft. Kohlschütter hat festgestellt,
daß während der ersten Stunde nach dem Einschlafen die Festigkeit
[* 5] des Schlafes in der Regel zu-, dann aber bis zum vollständigen
Erwachen allmählich wieder abnimmt. Letzteres beruht wohl darauf, daß nach und nach mit fortschreitender
Entlastung des Gehirns von Leukomaïnen der Schlaf
oberflächlicher wird. Mit der Theorie von der schlaf
erzeugenden Wirkung
der Leutomaïne steht es auch im Einklang, daß bei besondern Anforderungen, die an den Organismus gestellt werden, sowie bei
besonders lebhaftem Stoffwechsel das Schlaf
bedürfnis ein weit größeres ist, als unter andern Umständen,
daß Kinder und Schwangere weit mehr Schlaf
nötig haben als Erwachsene und nichtschwangere Personen weiblichen Geschlechts.
Daß große Gemütsaufregungen in derselben Weise wie körperliche Anstrengungen eine schlaf
erregende Wirkung äußern, beruht
wohl darauf, daß erstere ebenso wie letztere zur Vermehrung der im Körper sich anhäufenden Ermüdungsstoffe beitragen.
Vgl. Gautier, Sur les alkaloides dérivés de la destruction physiologique des tissues animaux (Par. 1886), Errera, Pourquoi dormons-nous? Communication faite à la Société d'Anthropologie de Bruxelles (1887).