Schamanismus
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das Religionssystem der meisten niedern Naturvölker, deren Priester (Schamanen) sich als Zauberer und Herren über die Natur gebärden. Den Namen leitet man von Çramana, der indischen Bezeichnung für buddhistische Büßer, ab. Ursprünglich legte man den Namen Schamane nur den priesterlichen Wunderärzten der nordasiatischen Stämme, welche Zauberkuren treiben und die Vermittelung zwischen den Menschen und Göttern unternehmen, bei. Dieselben empfangen Offenbarungen über Zukünftiges und versetzen sich, indem sie mit Trommeln und Klappern ihre Gesänge begleiten, in einen Zustand nervöser Aufregung, der sich bis zu krampfhaften Zuckungen steigert, und in denen sie angeblich mit den Göttern und den Geistern der Verstorbenen verkehren.
Ähnlich wie die Schamanen Sibiriens verfahren die Medizinmänner Nordamerikas, die Piajes oder Zauberpriester der Südamerikaner und die Fetischmänner oder N'gangas in Afrika, [* 3] welche vermittelst ihrer Künste angeblich Regen herbeilocken. Wird eine Erkrankung der Einwirkung eines Zauberers zugeschrieben, so muß auch der Tod, selbst wenn er bei Altersschwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste herbeigeführt worden sein. Daher findet man überall, wo der S. sein Unwesen treibt, den Wahn, daß der Mensch eigentlich unsterblich sei und nur böser Zauber sein Dasein verkürze. Am schwersten leiden unter solchen Anschauungen die Südafrikaner, bei denen der Fetischmann stets nach dem Urheber eines Todesfalls befragt wird.
Ihm wird ein höheres Wesen zugetraut, wie denn alle Zeichendeuterei, alles Orakelwesen, auch das Geisterklopfen unsrer Tage zum System des S. gehören. Gegen die von dem Schamanen ermittelten Urheber der Krankheit wird dann gewöhnlich eine Art Gottesgericht (s. Ordalien) durch Verzehren einer giftigen Rinde oder Frucht eingeleitet. Der letzte Grundgedanke des S. beruht auf der Vorstellung, daß der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne.
Beides geschieht durch Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und geheimnisvollen Kraftsprüchen, auch manchmal durch narkotische Tränke und Hypnotisierung. Dieser Selbstbetrug hängt sich an alles Rituelle und Symbolische und ist überall thätig, wo von einer sinnbildlichen Handlung eine bestimmte, aber eigentlich nichts weniger als notwendige Wirkung erwartet wird. Viel wird auch das Gebet schamanistisch mißbraucht, indem es zur Zauberformel wird, sobald man seinen Worten irgend eine Wirkung auf den göttlichen Willen zuschreibt.
Die Buddhisten ersannen sogar die Gebetmaschinen (s. d.), die, in Bewegung gesetzt und das Gebet unendlich vervielfältigend, die Gottheit überlisten sollen, indem man ihr zumutet, bei jeder Umdrehung die Gebete als gesprochen in Empfang zu nehmen. Auch der Opferdienst, aus dem reinen Gefühl des Dankes entsprungen, vermag schamanistisch zu entarten. Die Gottheit erscheint dann als der beschenkte Teil, und der Geber erwartet für seine Wohlthaten eine Gegenleistung. Am verderblichsten wirkt die Verirrung, wenn sich zu dem Opfer noch symbolisches Gepränge gesellt.
Nirgends hat ein solcher Selbstbetrug verständige Denker so überwältigt als in Indien, denn an der Spitze aller Schamanen, methodisch geschult, verfeinert durch Gedankentiefe, gestützt auf tausendjährige Übung, stehen die Brahmanen (s. d.), denen allein der geheime Sinn und die Wirkungskraft der Bräuche und Sprüche bekannt war, und die sich schließlich selbst übermenschliche Eigenschaften beimaßen und zu fleischgewordenen Göttern erhoben. Alle Völker unterlagen auf einer bestimmten Zivilisationsstufe dem S., wenige haben ihn völlig abgestreift; wir selbst sind die Hexenprozesse erst seit kurzem los geworden und haben hier und da noch Nachklänge. Der sittlichen Erziehung des Menschen durch die Religion begegnet nirgends eine größere Gefahr als in dem schamanistischen Wahn.
Vgl. Radloff, Das Schamanentum und sein Kultus (Leipz. 1885).