Titel
Sankt
[* 2] Gallen, einer der nordöstlichen Kantone der Schweiz, [* 3] grenzt östlich an Österreich [* 4] und Graubünden, südlich an Graubünden, Glarus und Schwyz, westlich an Zürich, [* 5] nördlich an Thurgau und umschließt den Kanton Appenzell. [* 6] Der Flächeninhalt beträgt 2019 qkm (36,7 QM.). Orographisch betrachtet, bietet das Land das Bild eines Ringes von ¶
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Thälern, die das Appenzeller Hochland einrahmen. Dieser Ring ist einfach im O. und N., dort die rheinischen Halbthäler Werdenberg und Rheinthal, hier die Abdachung zum Bodensee und zur Thur (die sogen. Alte Landschaft oder das Fürstenland) umfassend; auf der Süd- und Westseite liegt dem Hochkern zunächst das Toggenburg an, dem sich auf der Südseite des Churfirstenzugs ein äußeres Thal, [* 8] das Linthsystem entlang, anlegt. Ist dieses im Sarganser Land, d. h. an der Graubündner und Glarner Grenze, zweiseitig, sogar zum Teil direktes Rheingebiet, so wird es in der Unterhälfte des Walensees einseitig: Gaster und Seebezirk. So umfaßt der Kanton S. die hochalpinen Gebiete der Sardonagruppe (s. d.) und die subalpinen der Appenzeller Alpen (s. d.), in jener 3249 m (Ringelspitz), in diesen 2504 m (Säntis) ansteigend, während der aus dem flachen Fürstenland aufragende Tannenberg 901 m Höhe hat und das Niveau der tiefsten Teile (Zürich- und Bodensee) resp. 409 und 398 m hoch liegt.
Angesichts solcher Terrainform ist einerseits der Verlauf der großen Straßenzüge, resp. der Eisenbahnen gegeben, anderseits eine größere Zahl paßartiger Ein- und Übergänge notwendig. Die letztern, soweit es den appenzellischen Hochlandskern betrifft, führen teils in dessen Hinterland (von Peterzell, Degersheim, Goßau und Winkeln aus), teils in das Mittel- und Vorderland hinauf, hauptsächlich von St. Gallen und Altstätten aus (s. Stoß und Ruppen).
Das Toggenburg korrespondiert mit dem Tößthal über die Hulftegg (997 m), mit dem Linthgebiet über den Hummelwald und mit dem Werdenberg durch den Paß [* 9] von Wildhaus (1104 m), alle drei gleich den früher genannten fahrbar, während der Kunkels, der begangenste Paß des Sarganser Landes (1351 m), höchstens Karren [* 10] zugänglich ist. Es ergibt sich aus dieser Darstellung, daß der Kanton S. teils direktes Rhein- und Bodenseegebiet (Taminathal, Werdenberg und Rheinthal), teils Thurgebiet (Toggenburg und Fürstenland zum größern Teil), teils Linthgebiet (Sarganser Land zum großen Teil, Gaster und Seebezirk) ist. Die drei großen Bassins des Boden-, Walen- u. Zürichsees gehören teilweise dem Kanton S. an.
Der Kanton zählt (1880) 210,491 Einw. Durchweg deutscher Sprache, [* 11] ist die Bevölkerung [* 12] in Charakter und Sitte ziemlich verschieden: betriebsam, intelligent, praktisch, wohlhabend in den vorzugsweise industriellen Bezirken (Toggenburg), weniger aufgeweckt und weniger bildsam, langsamer und stetiger in den vorwiegend agrikolen und alpinen Bezirken (Fürstenland, Linth- und Rheingebiet). Entsprechend der geschichtlichen Entwickelung der einzelnen Landschaften, ist der Kanton konfessionell geteilt, zu 3/5 katholisch und 2/5 protestantisch. Im Fürstenland und Linthgebiet, auch in Alt-Toggenburg und Ober-Rheinthal herrscht das katholische Bekenntnis; die Reformierten überwiegen in der Hauptstadt, im Neu-, Ober- und Unter-Toggenburg, im Unter-Rheinthal, am entschiedensten in Werdenberg.
Seit ist der katholische Kantonsteil von der Diözese Chur [* 13] abgelöst und bildet ein eignes, direkt unter dem Papst stehendes Bistum. Noch bestehen 13 Klöster (darunter 3 Kapuzinerklöster, die übrigen Frauenklöster). Mannigfaltig, wie das Land und das Klima, [* 14] ist auch die Beschäftigung der Bewohner; es wechseln ackerbautreibende mit Hirten- und Industriegebieten. Der Feldbau, beschränkt auf die flachern Landschaften, vermag bei weitem nicht den Bedarf an Getreide [* 15] zu decken.
Mais wird in Sargans, Werdenberg und Rheinthal gebaut. Die Rebe, auf die Thäler des Rheins und der Linth beschränkt (nur 7,3 qkm), liefert ein ausgezeichnetes Getränk (Berneck). Der Obstbau ist ebenfalls ungenügend, am stärksten im Fürstenland, Rheinthal und Gaster. St. Gallen, Wyl und Altstätten haben große Obstmärkte. Auch die Waldungen (331,2 qkm) genügen dem Bedürfnis nicht; doch schickt das Oberland viel Holz [* 16] nach Zürich und Glarus. Viel Rindvieh findet sich hauptsächlich im Toggenburg und Gaster.
Letzteres hat den schönen Schwyzer Schlag, kleiner ist die Toggenburger Rasse. Der Vieh-, Butter- und Käsemarkt von Lichtensteig (und Wyl) ist stark besucht. Auch Ziegen und Schafe [* 17] sind häufig sowie Pferde [* 18] vom Schwyzer Schlag. Starke Schweinezucht hat Gaster, Seidenzucht das Sarganser Land. Von besonderer Bedeutung ist die Pfäferser Therme (s. Pfäfers und Ragaz). Mörschwyl (an der Bahn St. Gallen-Rorschach) liefert etwas Schieferkohlen; in Uznach ist der Vorrat erschöpft.
Schöne Sandsteine werden bei Rorschach und Bolligen (am obern Zürichsee) gebrochen. Mels liefert ausgezeichnete Mühlsteine [* 19] u. Ofenplatten, Pfäfers Dachschiefer, Degersheim (im untern Toggenburg) eine vielverwendete Nagelfluh. Das Eisenbergwerk am Gonzen (s. d.) ist nicht mehr im Betrieb. Die Baumwollindustrie hat sich auf den Trümmern ihres Vorgängers, des Linnengewerbes, erhoben. Die Spindelzahl beläuft sich auf 275,000; es arbeiten mechanische Webereien (für glatte und bunte Artikel), viele Handwebstühle, namentlich auch Färbereien und Druckereien. Im Toggenburg findet sich diese Thätigkeit durch eine ausgiebige Wasserkraft gefördert, und hier ist Wattwyl der Zentralpunkt.
Ein besonderer Zweig ist das Sticken (Brodieren); die Fabrikanten Außer-Rodens und St. Gallens beschäftigen die Handsticker von Inner-Roden (namentlich für die feine Stickerei), von Ober-Rheinthal und Werdenberg, und sie haben überdies die Maschinenstickerei eingeführt. Jaconets (mi-doubles) und Musseline kommen in mannigfach façonnierten, broschierten, gestreiften, karierten und glatten Geweben vor. Die Zahl der Stickmaschinen ist auf 7000 gestiegen.
Der große Verkehrsplatz des Kantons ist die Hauptstadt (s. unten). Mit dem Bodenseehafen Rorschach ist sie durch eine Linie der Vereinigten [* 20] Schweizerbahnen verbunden (Steigung bis 20 pro Mille). In Rorschach knüpfen die Nordostbahnlinie nach Romanshorn-Konstanz und die Zahnbahn nach Heiden (90 pro Mille Steigung) an sowie die Dampferkurse des Bodensees; die Vereinigten Schweizerbahnen selbst führen das Rheinthal aufwärts nach Altstätten-Sargans-Chur und von Sargans die Linthlinie nach Wesen-Rapperswyl-Uster-Zürich.
Die Toggenburger Bahn verbindet Kappel-Ebnat mit Wattwyl-Lichtensteig-Wyl. Das heutige Schulwesen des Kantons S. gehört zu den regenerierten. Über der Primarstufe der Volksschule (419 Lehrer und gegen 30,000 Schüler) folgt die fakultative der Sekundarschule. Das staatliche Lehrerseminar, für beide Konfessionen [* 21] gemeinsam, befindet sich in Marienberg bei Rorschach. Als höhere Lehranstalt besteht die Kantonsschule zu St. Gallen; sie zerfällt in ein Gymnasium und eine Industrieschule.
Auch bestehen bei St. Gallen eine Taubstummenanstalt, in Pfäfers eine kantonale Irrenheilanstalt, und im ganzen Kanton gibt es 6 Rettungsanstalten sowie im Toggenburg eine Zwangsarbeitsanstalt. Die öffentlichen Bibliotheken zählen 150,000 Bände; die bedeutendsten sind die Stiftsbibliothek (ca. 30,000 Bde.) und die Vadianische oder Bürgerblibliothek ^[richtig: Bürgerbibliothek] (40,000 Bde.) zu St. Gallen. Die Verfassung des Kantons datiert vom (mit Partialrevision vom ¶
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und wurde durch die Bundesversammlung garantiert. Zufolge derselben ist der Kanton ein demokratischer Freistaat und Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Sie enthält die in den Schweizer Kantonalverfassungen üblichen Grundrechte und teilt den Kanton in 15 Bezirke. Die Legislative und die Oberaufsicht der gesamten Landesverwaltung ist einem Großen Rat übertragen, der gemeindeweise auf drei Jahre gewählt wird, je ein Mitglied auf 1200 Seelen, aber so, daß jede Gemeinde wenigstens Ein Mitglied zu wählen hat.
Die von ihm erlassenen Gesetze unterliegen der Volksabstimmung, sofern 6000 Bürger es verlangen. Die oberste Exekutivbehörde ist ein Regierungsrat von 7 Mitgliedern, welche vom Großen Rat auf eine Amtsdauer von drei Jahren gewählt werden; der Präsident führt den Titel Landammann. Die oberste richterliche Behörde ist ein ebenfalls vom Großen Rat, aber auf sechs Jahre gewähltes Kantongericht von 9 Mitgliedern. In den Bezirken bestehen je ein Bezirksammann (für die Exekutive) und ein Bezirksgericht, in den Gemeinden ein Gemeinderat, dessen Präsident den Titel Gemeindeammann führt, und ein Vermittler.
Die Staatsrechnung von 1886 zeigt an Einnahmen 2,741,356 Frank, an Ausgaben 2,560,323 Fr., also einen Überschuß von 181,033 Fr. Unter den Einnahmen erscheinen als größter Posten die direkten Abgaben (1,082,913 Fr.), unter den Ausgaben das Bauwesen (740,443 Fr.), Erziehung (333,658 Fr.) und Militär (298,767 Fr.). Ende 1886 Aktiva: 30,304,824 Fr., Passiva: 23,045,473, also das Staatsvermögen: 7,259,351 Fr. Zu diesem unmittelbaren Staatsgut kommen noch 28 Separatfonds mit 7,978,219 Fr., so daß der gesamte Vermögensbestand sich auf 15,237,570 Fr. beläuft.
Die Hauptstadt Sankt Gallen
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an der Steinach, 676 m ü. M., am Eingang in die Bergregion gelegen, hat alpenartige Umgebung. Die ehemaligen Klostergebäude sind in Regierungslokale, Schulen, Wohnungen etc. umgewandelt. Zusammen mit der doppelt getürmten, gewaltigen Kathedrale (Stiftskirche, 1756 bis 1766 im italienischen Stil erbaut), dem Zeughaus, der Kinderkapelle etc. umstehen dieselben den umfangreichen viereckigen Klosterhof. Noch immer beherbergen sie die berühmte Stiftsbibliothek, welche 1500 Handschriften (darunter viele sehr alte und ausgezeichnete, zum Teil aus dem 6. Jahrhundert) nebst Münzsammlung und Inkunabeln enthält.
In der Nähe des Klosters erhebt die geschmackvoll restaurierte reformierte Hauptkirche St. Laurenz (1851-53 restauriert) ihren schlanken gotischen Turm. [* 23] Andre sehenswürdige Gebäude sind: das Rathaus, das Bürgerspital, das Kantonsspital, das Kantonsschulgebäude auf dem Brühl, das Museum mit naturhistorischen Sammlungen, den Sammlungen des Historischen Vereins und der Gemäldesammlung des Kunstvereins, die Strafanstalt St. Jakob, das Postgebäude bei dem Bahnhof.
In der Nähe des letztern und selbst auf den steilen Anhöhen des engen Thals, in dem die Stadt liegt, haben sich neue Viertel erhoben. Die Zahl der Einwohner beträgt (1888) 27,910. S. hat sich nicht bloß zum Viktualienmarkt aufgeschwungen, wo Ober-Thurgau und Fürstenland ihre Bodenerzeugnisse zum Verkauf ausstellen und das Appenzeller Land einen Teil seines Bedarfs kauft; auch die umliegenden Industriebezirke bringen ihre Manufakturen dahin, damit die St. Galler Kaufleute den Export derselben übernehmen.
St. Gallens Warenhandel ist ein ungemein ausgedehnter und vielseitiger. Die Artikel finden schon in den meisten europäischen Ländern großen Absatz; viel bedeutender jedoch ist der Export nach den außereuropäischen Erdteilen, besonders nach Amerika, [* 24] auch nach Ostindien, [* 25] für einzelne Branchen auch nach den mediterranen Häfen der Levante, als Alexandria, Smyrna, Beirut etc. Es arbeiten hier zwei Zettelbanken, die Bank in S. mit 4½ und die St. Gallische Kantonalbank mit 6 Mill. Frank eingezahltem Kapital, ferner die Deutsch-Schweizerische (3 Mill. Fr.) und die St. Gallische Kreditanstalt (1,6 Mill. Fr.). Lohnende Ausflüge führen auf den Freudenberg und andre umliegende Aussichtspunkte.
Geschichte der Stadt und des Kantons St. Gallen.
Die Stadt S. ist aus dem Kloster und dieses aus der Zelle [* 26] des heil. Gallus hervorgegangen, der sich hier 614 als Einsiedler niederließ. Das Kloster, das 720 die Regel des heil. Benedikt erhielt, ward von Karl Martell zur Abtei erhoben. Ludwig der Fromme erklärte es für unabhängig vom Gaugrafen und Bischof, und mit Abt Gozbert (816-837), dem Gründer der berühmten Bibliothek, begann seine litterarische und künstlerische Blütezeit. Nach einem noch erhaltenen Bauriß von 830 zählte es 40 Firste, und durch den Sprachforscher Notker III., die als Dichter und Chronisten berühmten Ekkeharde, den Musiker Notker Labeo, den Bildschnitzer Tuotilo u. a. erhob sich die Klosterschule zu einer der ersten des Reichs.
Gegen Ende des 11. Jahrh. verblich dieser litterarische Glanz; aber die Äbte von S. thaten sich durch kriegerischen Eifer für die Sache des Kaisers hervor, wofür sie 1206 zu Reichsfürsten erhoben wurden. Ihre Besitzungen reichten vom Züricher See bis Ulm; [* 27] aber zwiespältige Abtswahlen und unglückliche Fehden mit König Rudolf von Habsburg brachen gegen Ende des Jahrhunderts ihre Macht. In diese Zeit fällt auch die Emanzipation der allmählich um das Kloster entstandenen, im 10. Jahrh. mit Mauern umgebenen und durch das Leinwandgewerbe blühenden Stadt S. von der geistlichen Herrschaft.
Nachdem ihr Rudolf von Habsburg 1291 die Unveräußerlichkeit der Reichsvogtei zugestanden, beseitigte sie durch Einführung einer Zunftverfassung 1353 den Einfluß des Abtes auf die städtische Regierung fast gänzlich, erwarb 1415 mit dem Blutbann und Münzrecht die völlige Souveränität und wurde als zugewandter Ort in den ewigen Bund der Eidgenossen aufgenommen, unter deren Vermittelung sie sich 1457 durch Bezahlung von 7000 Gulden von allen Ansprüchen des Abtes für immer befreite.
Inzwischen hatte sich auch der Abt durch ein ewiges Schutzbündnis mit Zürich, Luzern, [* 28] Schwyz und Glarus als zugewandtes Glied [* 29] in die Eidgenossenschaft aufnehmen lassen. 1468 vermehrte sich der Besitz des Klosters durch die Erwerbung der Grafschaft Toggenburg. Ein Versuch des Abtes, seinen Sitz nach Rorschach zu verlegen, scheiterte an dem Widerstand der St. Galler und Appenzeller, welche den Neubau zerstörten; ein daran sich schließender Aufstand der Gotteshausleute wurde durch die vier Schirmorte der Abtei unterdrückt, die auch der Stadt S. und Appenzell [* 30] schwere Kontributionen auferlegten (Rorschacher Klostersturm 1489-90). Die Reformation erlangte unter dem Einfluß des berühmten Humanisten Vadian (Joachim von Watt)