Sünde
,
nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes jede Verletzung eines Gesetzes, wodurch eine Sühne, d. h. eine Verbüßung der Schuld durch Strafe, erforderlich wird; nach theol. Sprachgebrauch jede der Zurechnung fähige und daher Sühne heischende Übertretung göttlicher Gebote. Daher fallen nicht bloß die zur Vollziehung gekommenen Thaten, sondern schon die mit dem erkannten göttlichen Gesetze streitenden Willensbewegungen und Gedanken unter den Begriff der S. Da aber die einzelnen sündigen Gedanken und Handlungen auf einem dem göttlichen Gesetze widerstreitenden innern Zustande des Subjekts beruhen, so unterscheidet man von der einzelnen S. (der S. in concreto) die Sündigkeit als gottwidrige Bestimmtheit des menschlichen Willens.
Letztere setzt, um zurechnungsfähig zu sein, die menschliche Freiheit voraus, ist also in irgend welchem Maße immer zugleich selbstverschuldet. Von der sündigen Willensbethätigung (dem materiale actionis) ist jedoch das Bewußtsein ihrer Sündlichkeit oder das Schuldbewußtsein (das formale actionis) noch zu unterscheiden; denn letzteres tritt oft erst nach der That, manchmal überhaupt nicht ein. Hierauf beruht der Unterschied der S. im objektiven und subjektiven Sinne oder der dem göttlichen Gesetze thatsächlich widersprechenden Beschaffenheit der Handlung oder Willensrichtung und der vom Subjekt selbst zugestandenen Zurechnung.
Bei der Frage, ob die S. vermeidlich sei oder nicht, ist zunächst die S. im subjektiven Sinne gemeint, deren mindestens relative Vermeidlichkeit eine unumstößliche Aussage des sittlichen Selbstbewußtseins ist, worauf überhaupt alle Zurechnung der S. beruht. Andererseits lehrt die Erfahrung, daß die S. immer wieder aus dem anfänglichen Übergewicht der sinnlichen Naturbestimmtheit über den persönlichen Willen hervorgeht und im Gesamtleben als eine objektive Macht des Bösen sich darstellt, deren Einfluß der Einzelne unterliegt.
Das gleichwohl eintretende Schuldbewußtsein aber verrät die gegen ihre Unterdrückung reagierende sittliche
Anlage des
Menschen
und wird zum Motiv eines die
Entwicklung vorwärts treibenden Befreiungstrachtens, das im
Christentum als Erlösungsbedürfnis
auftritt.
In dem Dogma von der Erbsünde
(s. d.) hat die kirchliche
Theologie den Versuch gemacht, sowohl
das
Moment der
Freiheit als das
Moment der
Notwendigkeit in der S. zur Geltung zu
bringen, so jedoch, daß sie die
Freiheit nur
von dem ersten
Menschen vor dem Fall, die
Notwendigkeit aber von der ganzen nachfolgenden
Entwicklung (abgesehen von der
Erlösung)
behauptet, wobei wegen der
Freiheit der ersten S. auch die Schuld derselben sich vererbt haben soll.
Die biblische
Lehre
[* 2] ist in der Behauptung eines absoluten Sünde
nverderbens der Menschheit keineswegs einig, betont aber meistens
beides, den natürlichen
Anlaß der S. in der Schwachheit des Fleisches und die niemals völlig fehlende persönliche Schuld.
Ohne diese letztere irgendwie abzuschwächen, lehrt indes
Paulus, daß der
Mensch vermöge seiner fleischlichen
Natur notwendig unter der Herrschaft der S. stehe, deren Macht durch die Gebote des Gesetzes statt zurückgedrängt, vielmehr
gerade erregt werde, wobei aber das Erwachen des
Bewußtseins von der
Abweichung des Willens vom Gesetz die notwendige Vorbedingnng
für die
Erlösung von der objektiven Sünde
nmacht sei.
Das
Alte Testament unterscheidet Unwissenheitssünden
, die vergeben werden können, und S. «mit
erhobener
Hand»,
[* 3] die als bewußte Verletzungen des göttlichen Bundeszwecks mit Ausrottung aus dem
Volke bedroht werden.
Paulus
hat diese Unterscheidung zurückgestellt, unterscheidet aber von der zum Suchen der Vergebung treibenden Sünde
nschuld noch
den in Selbstgerechtigkeit gegründeten
Ungehorsam gegen den in
Christus offenbarten Gnadenwillen. Dieser
Ungehorsam ist die vom
Heile ausschließende S. Wesentlich etwas anderes besagt die kath. Unterscheidung von
Todsünde (s. d.)
und
Erlaßsünde (s. d.).
Ihren ersten Ursprung nimmt alle S. in der Sinnlichkeit; sie steigert sich aber in dem Maße, als der persönliche Wille, statt von den Fesseln der sinnlichen Natur sich loszuringen, sich selbst in den Dienst der sinnlichen Triebe begiebt, zur persönlichen Sündhaftigkeit, die als Gegensatz der selbstischen Zwecke des Einzelnen gegen die sittlichen Zwecke der Gemeinschaft zur Selbstsucht, als eigenwilliges Sichverschließen des Subjekts gegen die göttlichen Ordnungen zum bewußten Ungehorsam wird, dessen höchste keiner Vergebung fähige Steigerung das Neue Testament als S. wider den Heiligen Geist bezeichnet. -
Vgl. Ernesti, Vom Ursprünge der S. nach Paulinischem Lehrgehalt (2 Bde., Gott. 1862);
Jul. Müller, Die christl. Lehre von der S. (6. Aufl., 2 Bde., Stuttg. 1878; neue Ausg., Brem. 1888);