Ruthenen
(Russinen,
Rußniaken), slaw. Volksstamm im östlichen
Galizien, in der
Bukowina und im nordöstlichen
Ungarn,
[* 3] zu beiden Seiten der
Karpathen, zählt 3,160,000
Seelen (2,800,000 in
Galizien und der
Bukowina, 360,000 in
Ungarn) und bildet
einen Teil der
Kleinrussen (s.
Russen). Sich selbst nennen die Ruthenen
Rusy. Die Gebirgsbewohner, zumal die
Stämme der Bojken und
Huzulen, unterscheiden sich durch ovale Gesichtsbildung und schlanken Körperbau von den untersetzten
Bewohnern des
Flachlandes, den Podolaken, deren breites, viereckiges
Gesicht
[* 4] an die ehemalige tatarische Überflutung des
Landes
erinnert.
Trotz des großen Bodenreichtums erscheinen die letztern in Wohnung und Kleidung viel verwahrloster als die Gebirgsbewohner. Im allgemeinen aber sind die ein kräftiger Menschenschlag von mittlerer Körpergröße und wenn auch nicht muskulös (infolge der meist vegetabilischen Nahrung), doch ausdauernd und gegen Strapazen abgehärtet. Sie sind fast durchweg Ackerbauer, im Gebirge auch Viehzüchter, Hirten, Holzschläger, Köhler u. dgl., halten im Ackerbau fest am Hergebrachten und Ererbten, sind ihrer Kirche (der griechisch-unierten) in hohem Grad zugethan und pietätvoll gegen die Verstorbenen.
Daneben charakterisieren sie sich durch Fatalismus, Passivität und Hang zu ruhigem, beschaulichem Leben. In ihren Liedern sind sie sehr poetisch, aber auch schwermütig, im Verkehr mit Fremden artig, aber verschlossen, im häuslichen Leben zeremoniell. Sie sind geistig begabt und besitzen mannigfache technische Fertigkeiten, weshalb auch die Hausindustrie bei ihnen von Bedeutung ist. Bei der fortwährenden Zerstückelung des Bodens wächst jedoch das Landproletariat; auch der Mangel an eigentlicher Industrie, die Ausbeutung durch die Juden und die stark verbreitete Trunksucht tragen zur steigenden Verarmung des Volkes bei.
Während die Ruthenen
eines eigentlichen Bürgerstands entbehren, besitzen sie einen zahlreichen
intelligenten Beamtenstand, der meist treu zum
Volk hält und sich um die
Hebung
[* 5] desselben verdient gemacht hat, und eine sehr
geachtete
Geistlichkeit, welche die politische
Führung des
Volkes in
Händen hat. Im
Sinn der
Volksbildung wirken die beiden
Vereine
Proswita und Kaczkowski. Seit 1848 fing die ruthenische
Sprache
[* 6] und Litteratur, welche jahrhundertelang
von der polnischen
Aristokratie unterdrückt worden ist, sich einigermaßen zu entwickeln an (s.
Kleinrussische Sprache und
Litteratur).
Gegenwärtig verfügen die Ruthenen
über mehrere
Zeitschriften, ein
Theater,
[* 7] einige
Mittelschulen und Universitätslehrkanzeln. Gegenüber
den galizischen sind die ungarischen in jeder Beziehung viel mehr zurückgeblieben.
Vgl.
Bidermann, Die
ungarischen Ruthenen
(Innsbr. 1863-68, 2 Bde.);
Szujski, Die Polen und in Galizien (Teschen 1882);
Kupczanko, Die
Schicksale der Ruthenen
(Leipz. 1887).
Einen Katalog der ruthenischen Litteratur seit 1800 bearbeitete Kotula (Lemb. 1878).