Titel
Russische
[* 2]
Kirche. Die erste nähere Bekanntschaft mit dem
Christentum und zwar nach griechischem
Ritus brachte
Olga (s. d.),
die Gemahlin des
Großfürsten
Igor, nach Rußland. Aber erst ihr Enkel
Wladimir I., der 988 von griechischen
Priestern die
Taufe erhielt, zwang auch sein
Volk zur
Annahme des christlichen
Kultus. In der Hauptstadt
Kiew
[* 3] wurde sofort ein
Metropolit eingesetzt, der unter dem
Patriarchen zu
Konstantinopel
[* 4] stand. Das Höhlenkloster (Petschera) zu
Kiew
ward als Pflanzstätte der russischen
Bischöfe und
Heiligen seit der Mitte des II. Jahrh. der
Mittelpunkt der christianisierenden
Bestrebungen im Zarenreich.
Durch diese ursprüngliche
Verbindung der russischen
mit der griechischen
Kirche ward der russische
Episkopat mit in die Trennung
jener von der lateinischen
Kirche hineingezogen, und die Unionsversuche der
Päpste
Innocenz III. (1208),
Honorius III. (1227) und
Innocenz IV. (1248) sowie später unter
Clemens VIII. (1596) führten zu keinem
Resultat. Die kirchlichen
Verhältnisse der
Russen erlitten aber auch während der Zeit, wo die
Großfürsten unter der Oberherrschaft der
Tataren standen
(1240-81), keine
Störung.
Die Verlegung des Sitzes des
Metropoliten von
Kiew nach
Wladimir (1299), dann (1328) nach
Moskau
[* 5] bahnte die
Befreiung der russischen
Kirche von dem
Patriarchen zu
Konstantinopel an, und nachdem sich
Iwan Wasiljewitsch 1547 von seinem
Metropoliten hatte krönen lassen, erkannte endlich der durch die türkische Herrschaft in seiner Macht bedeutend beeinträchtigte
Patriarch von
Konstantinopel 1589 den russischen
Metropoliten als selbständigen
Patriarchen an. Fortan bestand
die russische
Hierarchie in einem
Patriarchen, einem
Metropoliten und sechs
Erzbischöfen.
Peter d. Gr., dessen
Plänen die Macht
des
Patriarchen mehrfach hinderlich war, und der das protestantische
Jus episcopale des
Landesherrn auf die
griechische Kirche
zu
übertragen gedachte, ließ nach dem
Tode des
Patriarchen
Adrian (1702) dessen
Stuhl unbesetzt, bis das
Volk sich daran gewöhnt hatte, die oberste Leitung der kirchlichen Angelegenheiten einem
Kollegium
¶
mehr
von Prälaten anvertraut zu sehen, und errichtete, nachdem er die Jurisdiktionsrechte des Klerus beschränkt, die Klostergesetze
revidiert hatte, den heiligen dirigierenden Synod als höchste Kirche
nbehörde. Die Grundlagen der hierarchischen Ordnung und
synodalen Oberleitung blieben bestehen; aber der Kirchenverfassung wurde ihre Spitze abgebrochen, indem die kirchliche Oberherrlichkeit
des Patriarchen auf den Zaren überging. Als eine Versammlung Peter d. Gr. um Erhaltung des Patriarchats bat,
sprach er das die ganze Kirchengeschichte Rußlands von nun ab beherrschende Prinzip des Cäsareopapismus mit den Worten aus:
»Hier ist euer Patriarch«.
Katharina II. zog alles Kirchengut an sich (1764), wogegen sie für alle geistlichen Stellen und Stiftungen einen festen, für die niedern Grade äußerst geringen Gehalt auswarf; aber da sie zu gleicher Zeit der Kirche die Versorgung der Invaliden abnahm und auf Staatskosten Priesterseminare gründete, erlitt die Kirche wenigstens keinen bedeutenden materiellen Nachteil. Peter d. Gr. bewilligte 1702 den Katholiken und Protestanten freie Religionsübung im ganzen Reich.
In der That aber bewegte sich die Duldung fremder Konfessionen
[* 7] immer in engen Grenzen.
[* 8] Schon nach der ersten
Teilung Polens (1772) strebte Katharina II. danach, die neugewonnenen Teile Polens durch die Religion fester an Rußland zu ketten,
und es gelang ihr, über eine Million Polen zur Trennung von der römischen Kirche zu bestimmen. Der Kaiser
Nikolaus I. führte auf der Synode zu Polozk (1839) sogar zwei Millionen unierter Griechen zur orthodoxen russischen
Kirche zurück.
Die Protestanten aber wurden namentlich in den Ostseeprovinzen vielfach bedrückt und die lettische und ethnische Landbevölkerung 1845 von
den Popen durch die Vorspiegelung von Landerwerb zum Übertritt zur russischen
Kirche bewogen.
Vgl. Harleß, Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands von 1845 an (2. Aufl., Leipz. 1869);
Wurstenberger, Die Gewissensfreiheit in den Ostseeprovinzen (das. 1872).
Besonders wird innerhalb des kaiserlichen Hauses die russische
Kirche begünstigt: russische Prinzessinnen, die sich mit Fürsten andrer
Konfessionen vermählen, dürfen nie zu deren Glaubensbekenntnis übergehen;
dagegen müssen alle Prinzessinnen, die durch Heirat in die kaiserliche Familie eintreten, das griechische Bekenntnis annehmen.
Man zählt in der russischen
Kirche
gegen 12 Mill. Sektierer (s. Raskolniken).
Die Glaubenslehre der russischen
Kirche blieb trotz ihrer Emanzipation von der Obhut der griechischen Kirche im wesentlichen
die der letztern (vgl. Griechische Kirche und Katechismus). Der heilige dirigierende Synod bestand anfangs
aus zwölf Mitgliedern; später ist diese Zahl bald vermehrt, bald vermindert worden. Dieselben werden vom Kaiser aus den
Bischöfen, Archimandriten, Igumenen (Hegumenen) und Protopopen ernannt. Auch ist ihnen ein weltliches Mitglied als oberster
Prokurator der Krone mit dem Recht eines unbedingten Veto beigegeben.
Der Synod hat seinen Sitz in Petersburg.
[* 9] Der russische
Klerus besteht aus Kloster geistlichen, auch nach ihrer Kleidung die »schwarze
Geistlichkeit« genannt, welche allein zu den höhern geistlichen Würden gelangen und zum Cölibat verpflichtet sind, und aus
Weltgeistlichen, im Gegensatz zu jenen, trotz ihrer braunen Kleidung, die »weiße Geistlichkeit« genannt,
welche bloß die niedern geistlichen Stellen bekleiden können und sich verheiraten dürfen, aber nur einmal.
Die Ordensgeistlichkeit besteht aus drei Klassen, nämlich:
1) Archierei, zu denen sämtliche Bischöfe gehören, welche alle dem heiligen Synod zu Petersburg unterworfen sind;
2) Archimandriten (Äbten) und Igumenen (Prioren), aus denen die Bischöfe genommen werden;
3) Mönchen, welche in den Klöstern und Seminaren verschiedene Ämter verwalten. In den Mönchsklöstern herrscht meist die Regel des heil. Basilius. Unter den Weltgeistlichen haben die Protopopen oder Protoierei den höchsten Rang und sind die Aufseher der übrigen, nämlich der Popen oder Priester. Die Diakonen, Unterdiakonen, Lektoren, Küster, Sänger etc. erhalten ebenfalls eine Art von Weihe, aber keine priesterliche. Die gesamte Geistlichkeit wird vom Staat besoldet, welcher beispielsweise 1882 für 39,000 Popen 6,397,000 Rubel ausgab.
Dieser Klerus ist frei von Abgaben, steht in geistlichen Dingen unter der Jurisdiktion der Bischöfe und des heiligen Synods, in Zivil- und Kriminalsachen aber unter der der weltlichen Gerichte. Für Bildung des Klerus ist erst unter Alexander II. einiges geschehen; besonders der niedere ist sehr unwissend und größtenteils auf landwirtschaftliche Thätigkeit angewiesen. Aber auch die litterarische Produktion innerhalb der höhern Geistlichkeit beschränkt sich auf Werke, welche der Liturgie und dem populären Religionsunterricht dienen.
Eine wissenschaftliche Theologie beginnt erst in letzter Zeit und nur ganz vereinzelt aufzutreten. Die russischen
Kirchen sind
viereckig und haben eine große Kuppel in der Mitte, die von vier kleinern Kuppeln umgeben ist. Die Glockentürme stehen abgesondert
von der Kirche. Man betet stehend oder auf dem Angesicht liegend. Das Priestergebet wird durch den Gemeindegesang
unterbrochen, der aber eigentlich nur aus drei Sätzen besteht: »Gospodj pomiluj!« (»Herr erbarme dich unser!«),
»Gospodj pomolimssa!«
(»Herr, wir bitten dich!«) und »Podal Gospodj!« (»Gib
das, Herr!«). Die in der alten slawischen Kirchensprache abgefaßte Liturgie zeichnet sich durch die Kraft
[* 10] der dabei üblichen
Gebete aus. Die Messe wird nur einmal des Tags gefeiert, und bei der Kommunion werden Brot
[* 11] und Wein im Kelch
gemischt und mit einem Löffel gereicht. Die Feste der russischen
Kirche sind im allgemeinen die der andern christlichen Konfessionen;
eigentümlich sind nur die Feier des Festes der Wasserweihe (Jordansfest), welches jährlich 6. Jan., am Tag der
Mitte zwischen Ostern und Pfingsten und 1. Aug. stattfindet, und bei welchem die Heiligenbilder in das Wasser getaucht werden, daher
auch der Name »Götterwaschung«; das Gedächtnis aller im Kriege gefallenen Soldaten 21. Okt. und die Pferdeweihe 9. Mai. Am ersten
Fastensonntag, dem sogen. orthodoxen Sonntag, wird noch jetzt alljährlich unter großem Zulauf des Volkes
über alle politischen und kirchlichen Ketzereien ein allgemeiner Fluch ausgesprochen.
Das Predigen ist selten, daher die wenigsten Kirchen Kanzeln haben. Die Strenge des Fastens wird jetzt mehrfach durch Dispensationen gemildert.
Vgl. Murawjew, Geschichte der russischen Kirche (deutsch von König, Karlsr. 1857);
Boissard, L'Église de la Russie (Par. 1866-67, 2 Bde.);
Philaret, Die Kirche Rußlands (deutsch, Frankf. a. M. 1872, 2 Bde.);
Makarij, Geschichte der russischen Kirche (Petersb. 1848-83, 12 Bde.);
Basarow, Die russisch-orthodoxe Kirche (Stuttg. 1873).