Titel
Runen
,
[* 1] die ältesten Schriftzeichen der
Germanen. Sie sind nicht, wie man früher annahm, einheimischen
Ursprungs, sondern um die Zeit von
Christi
Geburt aus dem lateinischen
Alphabet (der Kapitalschrift) hervorgegangen, dessen
Buchstaben man unter prinzipieller Vermeidung der wagerechten und krummen
Linien (diese waren zum Einritzen in
Holz
[* 2] ungeeignet)
umformte und mit bedeutsamen
Namen versah. Das älteste Runen
alphabet (nach den ersten sechs
Buchstaben
futhark genannt) bestand aus 24 Zeichen:
f. u.
th.
a. r.
k. g. w. h.
n. i.
j.
eu (?).
p. z (= weich
s).
s. t.
b. e. m. l. ng.
o. d; dasselbe
läßt sich mit geringen
Abweichungen in der gleichen
Anordnung bei den Nordgermanen
(Brakteat von Vadstena),
Angelsachsen (in der
Themse gefundenes
Messer)
[* 3] und Südgermanen (Charnayspange) nachweisen, war also allen germanischen
Stämmen
gemeinsam, was für die
Goten durch die Beibehaltung einzelner Runen
zeichen in dem
Alphabet des
Ulfilas und durch die in einer
Wiener
Handschrift erhaltenen
Namen der gotischen
Buchstaben, die mit den
Namen der angelsächsischen und
nordischen Runen
übereinstimmen, für die
Franken durch das ausdrückliche
Zeugnis des
Venantius Fortunatus noch besonders erhärtet
wird. Dieses gemeingermanische
Alphabet
[* 1]
(Fig. 1) ist bei den
Angelsachsen durch Hinzufügung neuer Zeichen (welche durch die
reichere
Entwickelung des Vokalismus notwendig wurde) erweitert, bei den Skandinaviern vereinfacht worden, da in den
jüngern
Inschriften nur 16 Zeichen
(f. u. th.
o. runen
k. h.
n.
i.
a.
s. t.
b. l. m. y) verwendet werden, denen man erst ganz spät
noch 7 neue Sproßformen (die sogen. punktierten Runen
) hinzufügte
[* 1]
(Fig.
2-4). Eine eigentümliche
Abart des kürzern
Alphabets sind die sogen. Zweigrunen
, eine Art nordischer
Geheimschrift.
Zuerst sind die Runen
, denen man einen geheimnisvollen Einfluß auf die
Personen oder
Dinge, die ihre
Namen bezeichneten, zuschrieb,
nur zur
Weissagung (beim Losorakel) und zum Zauber gebraucht worden. Hieraus erklärt sich auch der
Name der Runen
(rûna, altnord.
rún,
Plural rúnir, bedeutet
Geheimnis). Über das Losorakel ist uns im 10.
Kapitel der
»Germania«
[* 4] des
Tacitus
ein
Zeugnis erhalten. Man streute mit Runen
(notis quibusdam) bezeichnete hölzerne Stäbchen auf ein weißes
Tuch; darauf wurden
auf gut
Glück drei dieser Stäbchen aufgehoben und gedeutet.
Höchst wahrscheinlich geschah diese Deutung in metrischer Form (in allitterierendem Spruch). Die Verwendung der
Runen
zum Zauber ist besonders im
Norden
[* 5] bezeugt. Es gab Zauberrunen
für bestimmte
Zwecke, so Siegrunen
, Bierrunen, Bergerunen
(zur
Geburtshilfe), Seerunen
(zum
Schutz der
Schiffe),
[* 6] Rederunen
(um klug zu sprechen), Löserunen (bei Gefangenschaft), Runen zum
Besprechen (Stumpfmachen) der
Schwerter
[* 7] u. dgl. Zu zusammenhängender
Schrift sind die Runen
von den
Deutschen
des
Kontinents nur in geringem
Umfang gebraucht worden (die einzigen erhaltenen Runen
denkmäler sind Schmuckgegenstände, die
durch die Runen
den Wert von
Amuletten erhielten, und
Waffen),
[* 8] und auch in
England war ihre Verwendung zu diesem
Zweck nicht häufig
(das umfangreichste Denkmal, die
Inschrift auf dem
Kreuz
[* 9] von Ruthwell, stammt bereits aus christlicher
Zeit). Im skandinavischen
Norden, wo die lateinische
Schrift erst verhältnismäßig spät bekannt wurde, haben die Runen
dagegen
sehr ausgedehnte Verwendung gefunden, besonders zu Grabinschriften auf
Steinen.
Die Schrift geht entweder von links nach rechts oder umgekehrt, zuweilen auch in beiden Richtungen abwechselnd. Die ältesten Denkmäler (die Zwinge von Thorsbjärg, das Diadem von Straarup u. a.) gehören wahrscheinlich dem 5. Jahrh. an; das berühmte »goldene Horn« von Gallehus bei Tondern, die Steine von Tune, Strand, Varnum, Tanum u. a. stammen aus dem 6. Jahrh.
Vgl.
Fr.
Burg, Die ältern nordischen Runen
schriften (Berl. 1885).
Die Inschriften im kürzern Alphabet beginnen etwa um 800 (z. B. die Steine von Helnäs und Flemlöse auf Fünen). Ganz sicher datierbar sind jedoch erst die zweifellos jüngern Jällingesteine ^[richtig: Jellingesteine] aus dem 10. Jahrh. Sie sind besonders zahlreich in
[* 1] ^[Abb.: Fig. 1. Das gemein-germanische Runenalphabet.
Fig. 2. Angelsächsische Runen (nach der Inschrift des Kreuzes von Ruthwell). Die hier stehenden Zeichen, durch () eingeschlossen, sind aus dem Alphabet des Runenliedes hinzugefügt.
Fig. 3. Das jüngere nordische Runenalphabet.
Fig. 4. Das jüngste nordische Runenalphabet mit den »punktierten« Runen (nach dem Codex runicus). ¶
mehr
Schweden [* 11] und reichen bis in späte Zeit hinab, auf Gotland bis ins 16. Jahrh.; einige (z. B. der Karlevistein auf Öland und der Rökstein in Ostgotland) enthalten stabreimende Verse. Der Gebrauch der Runen zu litterarischen Zwecken (in Handschriften) ist selten und nur als eine gelehrte Spielerei zu bezeichnen (das umfangreichste Denkmal, der sogen. »Codex runicus« mit dem schonischen Recht aus dem 14. Jahrh., ist faksimiliert hrsg. von P. G. Thorsen, Kopenh. 1877). Besonders lange wurden Runen auf Kalenderstäben gebraucht. - Von älterer Litteratur seien nur erwähnt: Worm, Runir (Kopenh. 1636);
Göransson, Bautil (mit Abbildungen, Stockh. 1750);
Brynjulfsson, Periculum runologicum (Kopenh. 1823).
Liljegren gab in »Run-Lära« (Stockh. 1832) und »Run-Urkunder« (das. 1833) eine gute Zusammenstellung. Zur Orientierung empfiehlt sich: v. Liliencron und Müllenhoff, Zur Runenlehre (Halle [* 12] 1852). Über das Alphabet handelten: Kirchhoff, Das gotische Runenalphabet (2. Aufl., Berl. 1854), und Zacher, Das gotische Alphabet Vulfilas' und das Runenalphabet (Leipz. 1855). Unter den neuesten Schriften ist die bedeutendste Ludv. Wimmers Buch »Runeskriftens oprindelse ok udvikling i norden« (Kopenh. 1874; deutsch von Holthausen, Berl. 1887). Die große Sammlung von Stephens: »The old northern runic monuments of Scandinavia and England« (Lond. u. Kopenh. 1866-84, 3 Bde.; abgekürzte Ausg. 1884, 3 Bde.) ist wertvoll durch ihre vorzüglichen Abbildungen, dagegen sind die Deutungen der Runeninschriften fast sämtlich verfehlt.
Ergänzt wird dieses Werk für die speziell schwedischen (jüngern) Inschriften durch Dybeck, Svenska Run-Urkunder (Stockh. 1855-59) und Sverikes Run-Urkunder (das. 1860-76), für die dänischen Inschriften durch P. G. Thorsen, »De danske Rune-Mindesmærker« (Kopenh. 1864-81). Eine neue, groß angelegte Sammlung der dänischen Runeninschriften wird seit längerer Zeit von Wimmer vorbereitet, eine Monographie über die südgermanischen Runen von Rud. Henning. Sonst haben sich um die Runenkunde verdient gemacht: W. Grimm (1821, 1828), Lauth (1857), K. Hofmann (Münch. 1866), Fr. Dietrich;
im Norden: F. Magnusen, Worsaae, Munch, Rafn, Thomsen, Bugge, Gislason, auch Jessen u. a. Ein Wörterbuch schrieb Dieterich (»Runensprachschatz«, Stockh. u. Leipz. 1844).
Vgl. Bugge, Übersicht über die Runenlitteratur (in »Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft« 1875, Bd. 8).