Titel
Rückert
,
1) Friedrich, hervorragender deutscher Dichter, wurde zu Schweinfurt [* 3] geboren, von wo sein Vater, ein Rentbeamter, 1792 nach dem Dorf Oberlauringen in Unterfranken versetzt ward. Die Eindrücke seiner dort verlebten Frühjugend hat in dem 1829 entstandenen Cyklus »Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannssohns« in poetisch-humoristischen Genrebildern dargestellt. Nachdem er auf der lateinischen Schule zu Schweinfurt die akademische Vorbildung erhalten, bezog er 1805 zum Studium der Rechte die Universität Würzburg, [* 4] wo er bis 1809 verweilte, sich jedoch bald ausschließlich den Studien hingab, zu denen ihn sein innerster Beruf zog: philologischen und ästhetischen, von denen er erstere in solcher Ausdehnung [* 5] trieb, daß er später von sich selbst sagen durfte: »Mir lebt jede Sprache, [* 6] die Menschen schreiben«.
Nach einer kurzen Verfolgung der Dozentenlaufbahn in
Jena
[* 7] (seit 1811) und nach einem darauf in
Hanau
[* 8] unternommenen, aber gleichfalls
bald abgegebenen
Anlauf,
[* 9] als Gymnasiallehrer zu wirken (vgl.
Duncker, F. Rückert
als
Professor am
Gymnasium zu
Hanau, 2. Aufl.,
Wiesb. 1880), zog sich Rückert
für eine
Weile ganz von amtlicher Thätigkeit zurück, ließ sich als Privatgelehrter zu
Würzburg
nieder und lebte in den nächsten
Jahren teils hier, teils in
Hildburghausen,
[* 10] teils wieder im Elternhaus. An den großen
Kämpfen
der Befreiungsjahre nahm er durch die »Geharnischten
Sonette« und kriegerische
»Spott- und Ehrenlieder«
Anteil, welche zuerst in den
»Deutschen Gedichten« von
Freimund Reimar (Heidelb. 1814) hervortraten.
Die poetisch-idyllische
Existenz, welche der Dichter führte, mancherlei Herzenserlebnisse in
Leid und
Freud' förderten seine
poetische
Fruchtbarkeit. Die Cyklen:
»Agnes«,
»Amaryllis« u. a., welche später veröffentlicht wurden, entstanden schon in
dieser Zeit. 1815 ging Rückert
auf Anregung des
Ministers v.
Wangenheim nach
Stuttgart,
[* 11] wo er die Redaktion des
poetischen Teils des Cottaschen »Morgenblatts« übernahm, den
»Kranz der Zeit« (Stuttg. 1817) und
»Napoleon, eine politische
Komödie in zwei
Stücken« (das. 1816-1818) erscheinen ließ und sich mit dem
Plan einer
Reihe von Hohenstaufenepopöen trug,
den er später jedoch fallen ließ. Im
Herbst 1817 reiste der Dichter nach
Italien,
[* 12] wo
er den größten
Teil seiner Reisezeit in fruchtbarem
Verkehr mit den deutschen Künstlern zu
Rom
[* 13] verbrachte, und kehrte 1819 über
Wien
[* 14] in die
Heimat zurück.
Hier wohnte er während der nächsten Jahre abwechselnd bei seinen Eltern zu Ebern in Franken, zu Koburg, [* 15] Nürnberg [* 16] und an andern Orten, bis ihm durch seine Verheiratung (mit Luise Wiethaus-Fischer, der Tochter des Archivars Fischer) in Neuses bei Koburg ein stilles und anmutiges Poetenasyl beschieden wurde, in welchem er den größten Teil seiner spätern Tage verlebte. 1826 folgte er einem Ruf als Professor der orientalischen Sprachen u. Litteraturen nach Erlangen [* 17] (vgl. Reuter, F. in Erlangen, Hamb. 1888). Seine Muse wie seine wissenschaftlichen Studien hatten sich inzwischen, hauptsächlich auf Anregung Joseph v. Hammers, dem Orient mit Vorliebe zugewendet. Als Ergebnisse dieser Studien traten zunächst seine Dichtungen »Östliche Rosen« (Leipz. 1822) hervor;
dann folgten »Die Verwandlungen des Abu Seid von Serug oder die Makamen des Hariri« (Stuttg. 1826, 7. Aufl. 1878);
»Nal und Damajanti, eine indische Geschichte« (Frankf. 1828, 5. Aufl. 1874);
»Hebräische Propheten«, übersetzt und erläutert (Leipz. 1831);
»Schiking, chinesisches Liederbuch, gesammelt von Confucius, dem Deutschen angeeignet« (Altona [* 18] 1833);
»Sieben Bücher morgenländischer Sagen und Geschichten« (Stuttg. 1837, 2 Bde.);
»Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenland« (Berl. 1837-38, 2 Bde.);
»Rostem und Suhrab«, Heldengeschichte in 12 Büchern (Erlang. 1838; 2. Aufl., Stuttg. 1846),
»Brahmanische Erzählungen« (Leipz. 1839; daraus als Sonderabdruck »Sawitri«, das. 1866);
»Leben Jesu, Evangelienharmonie in gebundener Rede« (Stuttg. 1839);
»Amrilkais, der Dichter und König« (das. 1843);
»Hamâsa, oder: Die ältesten arabischen
Volkslieder, gesammelt von
Abu Temmâm, übersetzt und erläutert« (das.
1846, 2 Bde.) u. a. Nach
Friedrich
Wilhelms IV. Thronbesteigung in
Preußen
[* 19] wurde Rückert
1841 nach
Berlin
[* 20] berufen, wo er, sich wenig
heimisch fühlend, mit häufigen
Unterbrechungen bis 1848 wohnte, um dann auf immer nach seinem Ruhesitz
in
Neuses zurückzukehren.
In den Jahrzehnten vor und nach der Berufung in die preußische Residenz blieb der Dichter, wovon seine »Haus- und Jahreslieder« Zeugnis ablegten, gleich produktiv. Seinem Volk wurde er durch die schönsten seiner Gedichte, namentlich durch die Lieder des 1821 entstandenen »Liebesfrühlings« (Sonderabdruck, Frankf. 1844; 14. Aufl. 1888) und das tiefsinnige und reiche Lehrgedicht »Die Weisheit des Brahmanen« (Leipz. 1836-39, 6 Bdchn.; 12. Aufl. 1886),
beständig teurer. Von geringer Bedeutung sind und darum fast völlig unbekannt blieben die dramatischen
Versuche des
Dichters:
»Saul und
David« (Stuttg. 1844);
»Herodes der
Große« (das. 1844);
»Kaiser
Heinrich IV.« (Frankf.
1844, 2
Tle.) und »Cristofero
Colombo«
[* 21] (das. 1845). Nach ruhigem, an
Ehren reichem
Alter starb der Dichter in
Neuses,
wo ihm 1869 ein Denkmal (Kolossalbüste von
Conrad) errichtet ward. Rückerts
Bedeutung liegt in der seltenen
Verbindung unmittelbarster,
tief aus dem
Herzen quellender
Lyrik und lehrhafter Beschaulichkeit, so zwar, daß er, beide Gebiete beherrschend,
auf beiden eine
Fülle der
Produktion entfaltet hat.
Allen Rückert
schen Gedichten eigentümlich sind der Gedankenreichtum u. die unvergleichliche
Sprachgewalt. Die
Gabe poetischer »Sinnigkeit«, das
Vermögen, in großen und kleinen
Dingen dieser
Welt die lebendige
Idee zu
schauen, haben wenige Dichter in gleichem, hat wohl keiner in reicherm
Maß besessen als Rückert
und wiederum
in Bezug auf die Fähigkeit, die mit dem
Auge
[* 22] der
Seele erschauten
Ideen in das Gewand der
Sprache mannigfaltig einzukleiden,
findet sich unter allen
Poeten der europäischen Litteratur schwerlich einer seinesgleichen; in sprachlicher Meisterschaft
dürften ihm nur die durch den
Reichtum und die
Fülle ihrer Sprachformen dem deutschen Dichter gegenüber
begünstigtern orientalischen zu vergleichen sein. Beide
Eigenschaften, der Ideenreichtum und die Sprachvirtuosität, in ihrer
Vereinigung erklären die große
Fruchtbarkeit Rückerts.
Diese entfaltet sich in fast jeder der von dem Dichter versuchten
poetischen
Gattungen, zumeist aber in der eigentlichen Reflexionsdichtung, wie denn die
»Weisheit des
Brahmanen«
allein schon eine wahrhaft unermeßliche
Fülle geistvoller und tiefsinniger
¶
mehr
Gedanken enthält. Aber auch in dem reinen Lied, in der poetischen Erzählung, in den Formen des Sonetts, der Terzine, Oktave etc.
hat Rückert
einen fast unerschöpflichen Stimmungs- und Formenreichtum zu Tage gelegt. Zwar ist nicht zu leugnen, daß uns unter
der fast unübersehbaren Menge seiner kleinern und größern Gedichte vieles begegnet, dem höhere Bedeutung
mangelt. Je nachdem die eine oder die andre Seite der oben erwähnten Hauptelemente der Begabung Rückerts
in seinem Schaffen
überwiegend hervertritt, erscheinen die schwächern seiner Erzeugnisse als mehr oder weniger inhaltsarme Sprachspielereien
oder als mehr oder weniger kühle Reflexionspoesien.
Seine Sprachvirtuosität, die z. B. in den Nachbildungen der Haririschen Makamen an wortbildender, wortfindender
und wortzwingender Geschicklichkeit das Unglaubliche verwirklicht, verführte den Dichter nicht selten zu Künsteleien, die
staunenerregend, aber nicht eigentlich poetisch wirken, und anderseits trifft man häufig bei Rückert
auf gnomische
Gedichte, die nicht viel mehr als in Verse gebrachte geistreiche Pointen heißen können. Trafen aber in
seinem Schaffen beide Elemente mit der echten Poetenstimmung schöpferischer Begeisterung zusammen, so waren Kunstwerke edelster
Art und höchster Vollendung die Frucht dieser Vereinigung.
Rückerts
höchste Meisterschaft besteht darin, daß er dem scheinbar Unbedeutendsten eine poetische Bedeutung abzugewinnen
verstand, wie sich das besonders in seinen »Haus- und Jahresliedern« bekundet, in denen an das Geringste
und Unscheinbarste in ungezwungener Verknüpfung überaus liebliche und bedeutende Ideen gereiht erscheinen. Aber auch das
Großartige und Tiefsinnige war dem Dichter mit Künstleraugen zu ergründen und mit Prophetenmund zu verkünden verliehen.
Rückerts
»Gesammelte Gedichte« erschienen Erlangen 1834-38, 6 Bände; Frankfurt
[* 24] a. M. 1843, 3 Bände; eine Auswahl
derselben das. 1841 (22. Aufl. 1886). Eine Gesamtausgabe seiner »Poetischen Werke« umfaßt 12 Bände (Frankf. 1867-69 u. 1881).
Nach dem Tode des Dichters erschienen aus seinem Nachlaß: »Lieder und Sprüche« (Frankf. 1866);
»Aus Friedrich Rückerts
Nachlaß«
(Leipz. 1867, Übersetzungen von 20 Idyllen des Theokrit, von Aristophanes' »Vögeln« und der »Sakuntala«
des Kalidasa enthaltend);
»Kindertotenlieder« (Frankf. 1872; neue Ausg. u. d. T.: »Leid und Lied«, das. 1881);
die Übersetzung von Saadis »Bostan« (hrsg. von Pertsch, Leipz. 1882);
Teile einer Übersetzung des Korans (hrsg., von A. Müller, Frankf. 1888) und »Poetisches Tagebuch, 1850-1866« (das. 1888).
Die zuerst in den »Wiener Jahrbüchern der Litteratur« (1827-28) veröffentlichten philologischen Abhandlungen wurden von Pertsch unter dem Titel: »Grammatik, Poetik und Rhetorik der Perser« (Gotha [* 25] 1874) neu herausgegeben.
Vgl. Fortlage, Rückert
und seine Werke (Frankf.
1867);
Beyer, Friedrich Rückert.
Ein biographisches Denkmal (das. 1868);
Derselbe, Neue Mitteilungen über Friedr. Rückert (Leipz. 1872-73, 2 Bde.);
Derselbe, nachgelassene Gedichte Rückerts und neue Beiträge zu dessen Leben u. Schriften (Wien 1877);
Boxberger, Rückert-Studien (Gotha 1878);
Amelie Sohr, Heinrich Rückert (der Sohn des Dichters, dessen Biographie vieles auf den Vater Bezügliche enthält, Weim. 1881).
2) Leopold Immanuel, protest. Theolog, geb. 1797 zu Großhennersdorf in der Oberlausitz, ward 1819 Diakonus in seinem Geburtsort, 1825 Subrektor und 1840 Konrektor am Gymnasium in Zittau [* 26] und folgte 1844 einem Ruf als Professor der Theologie nach Jena, wo er als Geheimer Kirchenrat starb. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: mehrfach aufgelegte Kommentare über die Briefe Pauli an die Römer, [* 27] Galater, Epheser, Korinther;
ferner »Theologie« (Leipz. 1851-52, 2 Bde.);
»Das Abendmahl, sein Wesen und seine Geschichte in der alten Kirche« (das. 1856);
»Ein Büchlein von der Kirche« (Jena 1857);
»Der Rationalismus« (das. 1859);
»Kleine Aufsätze« (Berl. 1861).
3) Heinrich, deutscher Geschichtschreiber und Germanist, Sohn von Rückert 1), geb. zu Koburg, studierte 1840-44 in Erlangen, Bonn [* 28] und Berlin Philologie, habilitierte sich 1845 in Jena für Geschichte und deutsche Altertumskunde, ward 1852 Professor zu Breslau [* 29] und starb daselbst Er hat sich unter anderm durch folgende Werke bekannt gemacht: »Annalen der deutschen Geschichte« (Leipz. 1850, 3 Bde.; 2. Aufl. als »Deutsche [* 30] Geschichte« 1861 und ergänzt 1873);
»Geschichte des Mittelalters« (Stuttg. 1853);
»Geschichte der Neuzeit« (das. 1854);
»Allgemeine Weltgeschichte« (mit Flegler, das. 1861);
»Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung« (Leipz. 1857, 2 Tle.);
»Kulturgeschichte des deutschen Volkes in der Zeit des Übergangs aus dem Heidentum in das Christentum« (das. 1853-54, 2 Bde.).
Ferner sind zu erwähnen seine Ausgaben von Werken der ältern deutschen Litteratur, so vom »Leben des heil. Ludwig, Landgrafen von Thüringen« (Leipz. 1851),
von »Der welsche Gast des Thomasin von Zirclaria« (Quedlinb. 1852),
vom »Marienleben des Bruders Philipp vom Kartäuserorden« (das. 1853) sowie vom »Lohengrin« (das. 1858),
»König Rother« (Leipz. 1874),
»Heliand« (das. 1876) und die »Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache« (das. 1875, 2 Bde.). Aus seinem Nachlaß gab Pietsch heraus: »Entwurf einer systematischen Darstellung der schlesischen Mundart im Mittelalter« (Paderb. 1878).
Vgl. Amelie Sohr und Reifferscheid, Heinrich in seinem Leben und seinen kleinern Schriften (Weim. 1877-80, 3 Bde.).