Rouen
(spr. ruāng), Hauptstadt des franz. Departements Niederseine, ehemalige Hauptstadt der Normandie, in geographisch bevorzugter Lage am rechten Ufer der Seine, deren Thal hier zwar eng ist, mittels zweier Seitenthäler aber Raum zur Ausdehnung der Stadt bietet. Diese liegt unterhalb der Vereinigung der Seine mit allen größern Nebenflüssen, an einem Punkt, bis zu welchem die Flut das Vordringen von Seeschiffen, wie sie bis in die neueste Zeit üblich waren, gestattete, gleichzeitig aber durch die Windungen des Flusses von der Seeseite geschützt, so daß Rouen bis in die letzten Jahrhunderte, namentlich aber im Mittelalter, der Punkt war, durch welchen das ganze Seinebecken mit der überseeischen Außenwelt verkehrte. Die Seeleute von Rouen gehören zu den Entdeckern Frankreichs an entlegenen Küsten. Erst seitdem die Schiffe größer geworden, ist Havre in dieser Hinsicht an die Stelle von Rouen getreten, das sich durch Baggerungen nur ein für Schiffe von 5 in Tiefgang genügendes Fahrwasser zu erhalten vermocht hat und somit noch immer ein für kleinere Seeschiffe zugänglicher Hafen ist. Den Verlust hat es durch Industrie wie durch Schienenwege zu ersetzen gewußt, die es mit Paris und Havre, mit Fécamp, Dieppe, Tréport, Granville und Cherbourg sowie zahlreichen Binnenplätzen in mehr oder weniger direkte Verbindung setzen. hat 6 Vorstädte, von denen St.-Sever am linken Ufer der Seine liegt und mit der Stadt durch eine steinerne, über die Insel Lacroix führende Brücke (von 1829) mit sechs Bogen und eine Hängebrücke verbunden ist. Das frühere altertümliche und charakteristische Aussehen von Rouen, seine alten Straßen und Häuser sind der modernen Umgestaltung der Stadt größtenteils zum Opfer gefallen. Es hat einen Gürtel von Boulevards, welche die Stelle der alten Festungswerke einnehmen, Kais in einer Ausdehnung von mehr als 2 km und 36 Plätze, darunter den Platz des Stadthauses mit einer bronzenen Reiterstatue Napoleons I., den alten Marktplatz, die Place de la Pucelle mit Denkmal der Jeanne d'Arc auf einem Brunnen u. a. Unter den Kirchen, deren Zahl seit der französischen Revolution von 37 auf 14 (dem Gottesdienst gewidmete) herabgesunken ist, sind die hervorragendsten die Kathedrale (Notre Dame) und die Kirche St.-Ouen, zwei gotische Bauwerke, erstere dem Stil des 13., letztere dem des 14. Jahrh. angehörend. Der Bau der Kathedrale ist nach ihrer 1200 erfolgten Zerstörung unter Johann ohne Land wieder aufgenommen worden; die 1509-30 errichtete Fassade hat zwar im Lauf der Zeit sehr gelitten, übt aber, wie auch die beiden Seitenportale, eine imponierende Wirkung aus und ist mit unzähligen fein ausgeführten, wenngleich halb zerstörten Skulpturen geschmückt. Die Kathedrale hat drei Türme, von denen der über dem Kreuz der Kirche emporsteigende Mittelturm (Tour de Pierre) mit in neuester Zeit aufgesetzter eiserner Pyramide, 150 m hoch, nur dem Kölner Dom an Höhe nachsteht. Das Innere der Kirche (Länge 136 m) enthält wertvolle Glasmalereien und 25 Kapellen, darunter die der heiligen Jungfrau mit schönen Grabdenkmälern, insbesondere dem prachtvollen, durch Diana von Poitiers ihrem Gemahl Ludwig von Brézé errichteten Denkmal und dem ebenso schönen Doppelmonument der beiden Kardinäle von Amboise (1518). Ein glänzendes Muster der spätern Gotik ist die Kirche St.-Ouen, welche im wesentlichen 1318-39 erbaut worden ist. Den reich ausgestatteten Turm (87 m hoch) über der Kreuzung fügte man gegen Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrh. hinzu. Unter den andern Kirchen ist die der spätesten Epoche des gotischen Stils angehörende Kirche St.-Maclou (aus dem 15. Jahrh.) zu erwähnen. Das interessanteste der weltlichen Gebäude ist der Justizpalast (1493-99 erbaut), ein prächtiges, spätgotisches Bauwerk mit reichverzierter Fassade, mit dem großen, kühn gewölbten Saal der Anwalte (salle des procureurs) und einem schönen Saal für den Assisenhof. Bemerkenswert sind außerdem: das erzbischöfliche Palais (aus dem 15. Jahrh.); das Stadthaus, ein modernisierter Trakt der Abtei St.-Ouen, in welchem auch die Bibliothek und die reichhaltige Gemäldegalerie untergebracht sind; der gotische Uhrturm (von 1389), der sogen. Turm der Jeanne d'Arc, Rest des alten von Philipp August erbauten Schlosses; das Hôtel du Bourgtheroulde (aus dem 15. Jahrh.) mit schönem Hof und Reliefs, insbesondere Darstellung der Zusammenkunft Franz' I. mit Heinrich VIII.; drei Theater, das Zollamtsgebäude und viele andre moderne Bauwerke, die den Staats-, den Militär-, den städtischen Behörden und dem Handel dienen. Eine Statue Corneilles (von David d'Angers) steht auf der Brücke, eine von Boieldieu (von Dantan) auf dem Börsenkai. Ferner hat die Stadt 36 Fontänen, eine neue Wasserleitung und kalte eisenhaltige Mineralquellen sowie außer den Boulevards und mehreren Squares schöne Spaziergänge. Für den Lokalverkehr besteht ein Tramway.
Die Zahl der Einwohner von Rouen beläuft sich auf (1886) 100,043 (als Gemeinde 107,163). Ihre Hauptbeschäftigung ist Industrie und Handel; in ersterer Beziehung vor allem die Baumwollindustrie, für welche Rouen gegenwärtig in ganz Frankreich den ersten Rang behauptet. In der Stadt und Umgebung sind etwa 160 Spinnereien mit 1,400,000 Spindeln im Betrieb, welche vorwiegend Garne in gröbern Nummern (in neuerer Zeit meist aus ostindischer Baumwolle) erzeugen. Die Baumwollweberei, welche hauptsächlich auf dem Land betrieben wird, in Rouen aber ihren geschäftlichen Mittelpunkt hat, liefert Kalikos für den Druck und andre grobe Sorten, bedruckte Waren zu billigen Preisen, Phantasieartikel und Nouveautees, Möbel- u. Tapetenstoffe, gedruckte Tücher und Krawatten, namentlich auch in Türkischrot, sogen. Rouenneries, d. h. Stoffe, deren Gewebe ganz oder teilweise aus gefärbten Garnen besteht, insbesondere Sacktücher, karierte Stoffe, Damenkleiderstoffe, endlich Pikee für Westen. Die Schafwollspinnerei hat sich in den benachbarten Industriestädten Elbeuf und Louviers konzentriert; dagegen ist in Rouen der Schafwollhandel zur Versorgung der Industrie der Normandie, von Reims und Sedan mit Kolonial- und russischer Wolle, dann die Fabrikation von bunten Schafwollwebwaren und von gemischten Geweben vorwiegend vertreten. Sehr herabgegangen ist die Flachsspinnerei und -Weberei. Andre Industriezweige von Rouen sind: die Fabrikation von chemischen Produkten, Seifen, Kerzen, Stärke, Leim, Papier, Leder, Zucker, Tabak, Zündhölzchen, Konfitüren, die Färberei und Appretur, die Konstruktion von Maschinen, industriellen Werkzeugen, Lokomotiven und verschiedenen Eisenwaren sowie der Schiffbau.
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Der Handel der Stadt hat infolge der Anlage von Docks und Entrepots, Beseitigung der Schiffahrtshindernisse auf der Seine etc. neue Förderung erfahren. 1886 kamen bei dem Zollamt von in der Einfuhr Waren im Wert von 160,9 Mill., in der Ausfuhr im Wert von 32,9 Mill. Frank zur Verzollung; die beim Import eingehobenen Zölle beliefen sich auf 19,2 Mill. Fr. Die Hauptartikel sind in der Einfuhr: Getreide und Mehl, Wein, Garne, Schafwoll- und Baumwollwaren, Kupfer, Chemikalien, Holz, Petroleum, Kohle, Maschinen, Blei, Baumwolle, Öl und Ölfrüchte; in der Ausfuhr: Zucker, Hadern, Holzwaren, rohe Häute und Felle, Chemikalien u. a. Der Warenverkehr von ist übrigens in Wirklichkeit viel bedeutender, da er sich zum großen Teil über Havre bewegt und daher im dortigen Verkehr aufgeht. Als Förderungsmittel des Handels dienen: eine Filiale der Bank von Frankreich, ein Warenbörse, eine Handelskammer, eine Sparkasse und andre Kreditinstitute. 1886 sind bei der internationalen Schiffahrt 1327 beladene Schiffe mit 641,267 Ton. (darunter 1093 Dampfer mit 558,213 T.) eingelaufen und 884 beladene Schiffe mit 322,623 T. (darunter 682 Dampfer mit 273,909 T.) ausgelaufen; der Hauptanteil kam auf den Verkehr mit England. Bei der Küstenschiffahrt (hauptsächlich im Verkehr mit Havre) sind eingelaufen 725 beladene Schiffe mit 106,932 T. und ausgelaufen 737 beladene Schiffe mit 102,194 T. An Wohlthätigkeitsinstituten sind zu nennen: 3 Zivilspitäler (darunter das Hôtel-Dieu mit 600 Betten), eine Blindenanstalt, ein Irrenhaus, Waisenhaus u. a. Sehr reich ist an Unterrichts- und Bildungsanstalten. Hierher gehören: eine theologische Fakultät, ein Lyceum, ein großes und kleines Seminar, eine Vorbereitungsanstalt für Medizin und Pharmazie, eine Sekundärschule für Wissenschaften und Litteratur, eine Lehrerbildungsanstalt, eine hydrographische Schule, eine Handels-, eine Gewerbeschule, zahlreiche Speziallehrkurse und ein Taubstummeninstitut. Außerdem befinden sich hier eine Akademie der Wissenschaften und Künste, eine Antiquitätenkommission, 7 gelehrte und gemeinnützige Gesellschaften, eine Bibliothek (110,000 Bände, 350 Inkunabeln und 2960 Manuskripte), eine Gemäldegalerie, ein Antiquitätenmuseum, ein naturhistorisches und ein Industriemuseum. ist Sitz der Präfektur, des 3. Armeekorps-Kommandos, eines Erzbistums und mehrerer Konsuln fremder Staaten (darunter auch eines deutschen), hat einen Appell- und Assisenhof, ein Handels- und ein Seegericht, ein protestantisches Konsistorium und ein Rabbinat.
Seit dem 16. Jahrh. besaß eine Fayencefabrikation, welche sich um die Mitte des 17. Jahrh., vornehmlich durch den Töpfer Edme Poterat, zu großer Blüte entwickelte und erst um 1830 erlosch. Anfänglich von Revers beeinflußt, bildete sich der Industriezweig später nach japanischen, chinesischen und holländischen Mustern. Die ältesten Fabrikate zeichnen sich durch das milchweiße Email aus, das später gräulich, bläulich und selbst grünlich wird. Die Verzierungen waren meist blau, seltener rot und gelb. Für das 17. Jahrh. ist die Lambrequin- und Spitzenverzierung charakteristisch, für die Rokokozeit Füllhörner, Blumen und Insekten. Man fabrizierte nicht nur Gebrauchsgeschirr jeglicher Art, sondern auch Öfen, Kamine, Wand- und Bodenplatten, Apothekergefäße, Vasen, Schreibzeuge, Weihkessel, Laternen, Jardinieren, kleine Möbel, Spiegelrahmen, Flaschen, Figuren etc. Vgl. Pottier, Histoire de la fayence de Rouen (Rouen 1870).
Bei den Alten hieß Rouen Rotomagus und war Hauptstadt der Vellokasser und unter Konstantin d. Gr. Hauptstadt der Provincia Lugdunensis secunda. Im Mittelalter hieß es Rothomum und Rodamum. 841 wurde die Stadt von den Normannen eingenommen, die sich seit 859 dauernd hier festsetzten. Seit der Belohnung Rollos 912 war sie Hauptstadt der Normandie und Residenz der Herzöge derselben und stand daher, wie diese Provinz, seit Wilhelm dem Eroberer (1066) unter englischer Herrschaft. 1204 wurde sie von Philipp August von Frankreich dem König Johann ohne Land entrissen. Die Engländer eroberten sie zwar nach tapferer Verteidigung durch die Franzosen 1419 wieder, aber 1449 kam sie wieder an Frankreich zurück. 1431 wurde in Rouen die Jungfrau von Orléans verbrannt. Die Eroberung Rouens, das von Montgomery verteidigt wurde, 1562 war einer der ersten Erfolge, welche die katholische Partei in den Hugenottenkriegen davontrug. Heinrich IV. belagerte Rouen 1591-92 vergebens und erhielt es erst 1594 durch Kapitulation. 1633 verwüstete ein Orkan und 1774 ein großer Brand die Stadt. Durch die Austreibung der Hugenotten 1685 litt dieselbe sehr. Am 25. Febr. 1848 wurden bei einem Tumult die Fabrikstätten der englischen Spinnereien demoliert; 27. und 28. April 1848 fand hier ein Aufstand und Barrikadenkampf wegen der Wahlen statt. Im deutsch-französischen Krieg war Rouen vom 6. Dez. 1870 bis 22. Juli 1871 von deutschen Truppen besetzt. Die Geschichte der Stadt schrieben Périaux (Rouen 1874) und Fouquet (das. 1875).