Rossini
,
Gioacchimo ^[richtig: Gioacchino]
Antonio,
Komponist, geb. zu
Pesaro im
Kirchenstaat
als Sohn einer umherziehenden Musikerfamilie, machte seine ersten musikalischen
Studien von 1804 an unter Leitung Teseis zu
Bologna und erhielt später daselbst vom
Pater Mattei gründlichen
Unterricht im
Kontrapunkt. Dem strengen
Schulzwang sich zu
unterwerfen, war indessen Rossini
bei seiner ganzen musikalischen
Organisation sowie bei seinem Drang, zu produzieren
und namentlich als Opernkomponist aufzutreten, nicht geneigt; kaum im
Besitz der notwendigen tonsetzerischen Fertigkeiten,
entzog er sich daher der Unterweisung des gelehrten
Paters, um sich auf eigne
Hand
[* 2] fortzuhelfen, zunächst indem er Haydnsche
und Mozartsche
Symphonien und
Quartette aus den
Stimmen in
Partitur setzte.
Die ersten größern Kompositionsversuche bestanden in einer Kantate: »Il pianto d'armonia«, einer Symphonie und mehreren Streichquartetten (1808 u. 1809). Sein erstes dramatische Werk, die 1810 für Venedig [* 3] geschriebene einaktige komische Oper »La cambiale di matrimonio«, hatte leidlichen Erfolg. Ihr folgten 1811: »L'equivoco stravagante« (für Bologna geschrieben) und »Demetrio e Polibio«, die zu Rom [* 4] aufgeführt wurde, und in welcher namentlich ein Quartett sehr ansprach.
Der steigende
Ruf seines
Talents verschaffte Rossini
bald eine ungewöhnliche Zahl von
Bestellungen, welchen er immer in kurzer Zeit,
freilich öfters nicht ohne
Flüchtigkeit, zu entsprechen wußte. 1812 brachte er fünf
Opern auf die
Bühne, die, wenn auch
nur teilweise erfolgreich, doch sämtlich die geniale Begabung ihres
Autors unzweideutig bekundeten. Der
eigentliche
Ruhm Rossinis
datiert indes erst von 1813, in welchem Jahr seine
Oper »Tancredi« zu
Venedig über die
Bühne ging
und ganz
Italien
[* 5] in einen
Rausch des
Entzückens versetzte. In demselben Jahr brachte Rossini
daselbst noch die komische
Oper »L'Italiana
in
Algeri«, die nicht minder gefiel, und 1814 in
Mailand
[* 6] die
Opern: »Aureliano in
Palmira« und »Il
Turco in
Italia« (ein Seitenstück zur »Italienerin in
Algier«) ohne besondern Erfolg zur Aufführung, während die ernste
Oper »Elisabetta«,
die er 1815 für den
Impresario Barbaja in
Neapel
[* 7] schrieb, wieder ungemeines
Glück machte.
Letzterer folgte 1816 in Rom die Oper »Torvaldo e Dorlisca«, welche halb Fiasko machte, und dann sein berühmtestes Werk: »Il barbiere di Seviglia«, in welchem an Melodienreichtum, sprudelndem Humor und dramatischer Schlagkraft sich selbst übertroffen hat, was freilich nicht hinderte, daß die Oper bei ihrem ersten Erscheinen ausgepfiffen wurde, weil man es dem Künstler als Anmaßung vorwarf, denselben Stoff komponiert zu haben, durch den sein Vorgänger Paisiello (s. d.) das römische Publikum für sich gewonnen hatte.
Von den in den nächsten Jahren entstandene Opern sind als die vorzüglichsten und erfolgreichen zu nennen: »Otello« (Neap. 1816);
die komische Oper »Cenerentola« (»Aschenbrödel«, Rom 1817);
»La gazza ladra« (»Die diebische Elster«, [* 8] Mail. 1817);
»Mosè in Egitto« (Neap. 1818);
»La donna del lago« (das. 1819);
»Maometto II.« (das. 1820);
»Matilda di Ciabrano« (Rom 1821);
»Zelmira« (Neap. 1822).
Um diese Zeit befand sich Rossini
auf dem Gipfelpunkt seines Ruhms und erregte,
unterstützt von der aus den ersten Gesangsvirtuosen
Italiens
[* 9] bestehenden, abwechselnd in
Neapel,
Mailand
und
Wien
[* 10] gastierenden
Truppe des Barbaja, solchen
Enthusiasmus, daß beispielsweise das
Wiener
Publikum selbst einen
Beethoven
und einen
Weber über ihm vergessen konnte. Nachdem er im folgenden Jahr noch für
Venedig seine
»Semiramis« geschrieben, verließ
er
Italien und ging über
London
[* 11] nach
Paris,
[* 12] übernahm daselbst die
Direktion der
Italienischen
Oper, die er
zwei Jahre lang führte, und wurde dann zum
Generalintendanten der königlichen
Musik und »Generalinspektor des
Gesangs in
Frankreich«
ernannt, zwei bloße
Sinekuren, welche ihm jährlich 20,000
Frank
Gehalt eintrugen.
Indessen arbeitete er sowohl für die Italienische als für die Große Oper, indem er 1825 die Krönung Karls X. mit der Oper »Il viaggio a Reims« [* 13] verherrlichte, 1826 seinen »Maometto« für die Große Oper umgearbeitet als »Le [* 14] siége de Corinthe« auf die Bühne brachte, eine noch durchgreifendere Umarbeitung mit »Mosè« vornahm, der 1827 als »Moise en Égypte« mit großem Beifall aufgeführt wurde, und endlich 1829 sein reichstes und gediegenstes Werk, »Guillaume Tell«, schuf.
Mit letzterm beschloß Rossini
fast 40 Jahre vor seinem
Tode, trotz vollkommener geistiger und körperlicher
Frische, seine Laufbahn
als Opernkomponist und gab so der
Welt ein in der
Kunstgeschichte vielleicht einziges
Schauspiel von Entsagung und Selbstbeschränkung.
In der
Folge veröffentlichte er nur noch ein
»Stabat mater« (1842) und einzelne kleinere
Kompositionen,
darunter
»Soirées musicales«, eine Sammlung ein- und zweistimmiger
Gesänge. Einen
Prozeß wegen der infolge der
Julirevolution
ihm entzogenen Staatspension gewann er. Nachdem er darauf einige Jahre hindurch Mitunternehmer der
Italienischen
Oper in
Paris
gewesen, wandte er sich 1836 wieder nach
Italien, wo er meist in
Bologna lebte, kehrte aber 1855 nach
Paris
zurück. Er starb auf seinem Landsitz in
Passy
sein
Leichnam wurde im
Panthéon zu
Florenz
[* 15] beigesetzt.
Um Rossini
, der von einer Seite ebenso maßlos vergöttert wie von andrer Seite verdammt worden
ist, gerecht zu werden, muß man ihn aus seiner Zeit und seinem
Volk heraus beurteilen;
er ist durchaus Italiener und zwar nicht nur der vielseitigste, sondern zugleich der am reinsten nationale Komponist der neuern italienischen Oper;
er betrachtete die Musik nicht von jenem idealen Standpunkt eines Händel, Gluck, Beethoven, sondern als eine Sache leichten, gefälligen Genusses.
Das Gelingen seines Strebens, durch die Musik nur auf sinnlich angenehme Weise zu unterhalten, dankt er neben seiner genialen Begabung der Stimmung der Zeit, der sogen. Restaurationsepoche (1815-30), während welcher das von den vorangegangenen ¶
mehr
politischen Kämpfen erschlaffte Europa
[* 17] nichts weiter beanspruchte als behaglichen Lebensgenuß. Daher wird mit Recht in der
Geschichte der Musik Rossini
neben Beethoven (freilich als dessen Antipode) als Hauptrepräsentant der drei ersten Dezennien des 19. Jahrh.
betrachtet. Um gründliche tonkünstlerische Ausbildung war er, wie oben schon erwähnt, wenig bekümmert; auch Ausarbeiten
und Durchbilden eines Werkes war seine Sache selten; er arbeitete meist nach einer geschickt entworfenen und glücklich auf
den Effekt berechneten Schablone und scheute sich nicht, gewisse Gänge, Harmoniefolgen, Crescendos, Kadenzen etc. immer und immer
wieder in gleicher Weise anzubringen.
Aber bei aller Flüchtigkeit der Arbeit enthalten Rossinis
Opern doch Stellen von unvergänglicher Frische
und Schönheit. Seine Melodien wirken unwiderstehlich durch Anmut und sinnlichen Reiz. Dabei bekundet er den feinsten Sinn für
Wohlklang, für abgerundete, überschauliche Formen und behandelt die menschliche Stimme wie auch die Instrumente mit Meisterschaft.
Als sein eigenstes und vollendetstes, in allen Teilen harmonisch zusammenstimmendes Werk ist der »Barbier«
zu bezeichnen; als sein reichstes und gediegenstes aber der »Tell«, mit dem sich Rossini
unerwarteterweise einer Richtung zuwandte,
die der bis dahin von ihm verfolgten gegenüber klassisch zu nennen ist.
Hier findet sich von allen Manieren, welche die frühern Opern Rossinis
so scharf charakterisieren, wenig oder nichts, dagegen
ungemeiner Formenreichtum, großartige Anlage des Ganzen und sorgfältigste Durchbildung des Einzelnen, kurz alle Eigenschaften,
welche das Wesen der französischen großen Oper ausmachen, ein neuer Beweis für die schöpferische Kraft
[* 18] und geistige Elastizität
des Künstlers. Seine wenigen Kirchenstücke (»Stabat mater«, eine 1864 geschriebene, aber erst nach seinem Tod aufgeführt
Messe etc.) sind als solche von keiner Bedeutung. Sein Leben beschrieben Beyle-Stendhal (Par. 1823, neue
Ausg. 1854), Azevedo (das. 1865), Edwards (Lond. 1869, kürzer 1881), Montrond (3. Aufl., Par.
1887), Zanolini (Bologna 1875) und Sittard (Leipz. 1882).