im S. und W. Europas nicht aus der römischen Schriftsprache, sondern aus der römischen Volkssprache (lingua latina rustica)
gebildet haben. Die römische Volkssprache hatte sich in den letzten Jahrhunderten des römischen Reichs mehr und mehr von der
Sprache
[* 3] der Gebildeten entfernt und kennzeichnete sich besonders durch allerlei Eigenheiten in der Aussprache,
durch Vernachlässigung oder gänzliches Aufgeben der Nominalflexion, Ersatz derselben durch Präpositionen, durch das Fallenlassen
mehrerer flektierender Verbalformen und Neubildung derselben vermittelst Hilfszeitwörter, endlich durch den Gebrauch einer
großen Anzahl ihr eigentümlicher Ausdrücke, anstatt der von der gebildeten Sprache angewandten (vgl. Schuchardt, Der Vokalismus
des Vulgärlateins, Leipz. 1868, 3 Bde.).
Hieraus erwuchsen allmählich unter Einwirkung der zurückgedrängten einheimischen Idiome in den verschiedenen
Ländern die sechs romanischenSprachen: die italienische, spanische, portugiesische, provençalische, französische und rumänische
(walachische);
doch ist die provençalische als Schriftsprache seit dem 15. Jahrh. erloschen und zu einer
bloßen Mundart herabgesunken. In jeder dieser Sprachen lassen sich wieder mehr oder minder zahlreiche
Dialekte unterscheiden. In ihrem Bau zeigen sich dieselben als natürliche Fortbildungen des Lateinischen;
Der Bildungsprozeß der romanischenSprachen, der erst durch die geschichtlich-vergleichende Sprachforschung
des 19. Jahrh. aufgehellt worden, fällt natürlich seinen ersten Anfängen nach in die Römerzeit.
Erst im 8. Jahrh. geschieht ihrer als besonderer, vom gelehrten Latein verschiedener Sprachen mehrfach Erwähnung; um diese
Zeit erscheint der NameLingua romana zur Bezeichnung der Volkssprache im Gegensatz zur Lingua latina. Als
Litteratursprachen treten sie in dem einen Land früher, in dem andern später auf, am frühsten das Französische und Provençalische,
am spätesten das Italienische.
Dem Gesamtcharakter nach ist unter allen romanischenSprachen die italienische der lateinischen Mutter am nächsten geblieben,
die französische hat sich von dieser am weitesten entfernt. Um die wissenschaftliche Erforschung der
romanischenSprachen bezüglich ihres Ursprungs und ihres Verhältnisses zum Lateinischen hat sich zuerst Raynouard (s. d.)
durch seine »Grammaire comparée des langues de l'Europe latine« (Par.
1821),
späterL.Dieffenbach (»Über die jetzigen romanischen Schriftsprachen«, Leipz.
1831) und der EngländerLewis (»An essay on the origin and formation of the Romance languages«, 2. Aufl.,
Oxf. 1862) Verdienste erworben. Epochemachend aber wurden erst Fr. Diez' »Grammatik der romanischenSprachen« (5. Aufl., Bonn
[* 4] 1882;
franz., Par. 1872-76, 3 Bde.)
und dessen »Etymologisches Wörterbuch der romanischenSprachen« (4. Aufl., besorgt von Scheler, Bonn 1878),
die »Revue des langues romanes« (2. Serie, seit 1878) u. a., in Italien
[* 8] Biondelli, Monaci (Herausgeber des »Giornale di filologia romanza«,
seit 1878) u. a., ferner die »Zeitschrift für romanischePhilologie« (hrsg. von Gröber, Halle, seit 1877) schätzbare Beiträge
zur Geschichte und vergleichenden Grammatik dieser Sprachen geliefert.
Vgl. P. Meyer, Rapport sur les progrès de la philologie
romane (1874);
3) westliche Gruppe in Graubünden.
Der geographische Zusammenhang zwischen den drei Gruppen ist heutzutage gestört, selbst die östlichen
und westlichen Mundarten der Trientiner Gruppe hängen nicht mehr zusammen, während das ursprüngliche
Sprachgebiet des Ladinischen, auf die alten römischen Ansiedelungen zurückgehend, vom Adriatischen Meer ohne Unterbrechung
bis an den Oberrhein reichte. Die ladinischen Dialekte insgesamt umfassen nach Ascoli eine Bevölkerungsziffer von 580,000,
wovon allein 450,000 auf Friaul kommen. Im linguistischen Sinn eine selbständige romanischeSprache ebenso
gut wie Italienisch oder Französisch, werden sie doch nach dem Vorgang von Diez gewöhnlich den andern romanischen Sprachen
nicht als ebenbürtig an die Seite gestellt, weil sie einer allgemeinen Schriftsprache entbehren.
Was das Rätoromanische speziell betrifft, so zerfällt es in die beiden Hauptmundarten: Oberländisch oder Rumonsch im engern
Sinn am Oberrhein und Ladin oder Engadinisch am Inn. Ersteres kann man wieder in die Unterdialekte Romanisch
ob und unter dem Wald, letzteres in Ober- und Unterengadinisch einteilen; zwischen beiden Hauptmundarten steht das Oberhalbsteinische.
Diese Dialekte differieren unter sich sehr bedeutend; als der reinste und richtigste gilt der unterengadinische, in dem
sich auch eine feststehende Schriftsprache entwickelt hat. Der echt romanische Charakter all dieser Dialekte zeigt sich darin,
daß 75-80 Proz. des Wortschatzes lateinischen Ursprungs sind; das übrige stammt aus dem Deutschen, Alträtischen etc. Die
Aussprache ist im ganzen der italienischen sehr ähnlich. Die ältesten Drucke stammen aus dem 16. Jahrh. und
sind religiösen Inhalts, wie auch die neuere rätoromanische Litteratur einen vorherrschend religiösen Charakter hat. InteressanteVolkslieder (Straßb. 1874) und ein religiöses Drama aus dem 16. Jahrh.: »Die Geschichte von
dem tapfern und frommen Tobias«, sind neuerdings von A. v. Flugi nach alten
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Handschriften herausgegeben worden. Nationale Bestrebungen zur Pflege der rätoromanischen Sprache und Litteratur haben sich
neuerdings mit Erfolg geltend gemacht, namentlich hat sich eine unterengadinische Zeitungslitteratur entwickelt und ist viel
für die grammatische und lexikalische Bearbeitung dieser Dialekte geschehen. Grammatiken lieferten Conradi(Zürich
[* 13] 1820), Carisch (Chur
1852), Pallioppi (das. 1857) und besonders Gartner (Heilbr.
1883); Wörterbücher Conradi (Chur 1823), Carisch (neue Ausg., das. 1887), Carigiet (Bonn 1882); ChrestomathienUlrich (Halle
1882-83, 2 Tle.), der auch »RätoromanischeTexte« (das. 1883) herausgab, und Decurtius (Erlang. 1888).
Vgl. Andeer, Über Ursprung
und Geschichte der rätoromanischen Sprache (Chur 1862);
Ascoli, Saggi ladini (im 1. Bande des »Archivio
glottologico italiano«, Turin
[* 14] 1873, mit einer Sprachenkarte);
[* 15]
Die Sprache, die in diese Länder getragen wurde, war nicht das Lateinische der Litteratur, sondern die
im Anfange allerdings nur wenig davon verschiedene Umgangssprache, das Vulgärlatein. Auf dessen ältester Form beruht das
Sardinische, das infolge des geringen Verkehrs mit dem Festlande den ausgleichenden Bestrebungen wenig zugänglich gewesen
ist und noch heute ein altertümliches Gepräge bewahrt hat. Sodann würde das illyrische Romanische folgen; allein es
ist die Sprache an der Küste schon im Mittelalter durch das Venetianische völlig verdrängt worden und bat nur in dem jetzt
wohl auch ausgestorbenen Dialekt der InselVeglia einen von venet.
Bestandteilen stark durchsetzten Rest hinterlassen; in den Bergen
[* 27] ist nach langem Kampfe die vorröm. Sprache (das Albanesische)
schließlich Herr geworden, nicht ohne tiefgehende Beeinflussungen durch das Lateinische erlitten zu haben.
In der geschichtlichen Reihenfolge kommen weiter das Spanische
[* 28] und Portugiesische, dann das Südfranzösische, das Nordfranzösische,
das Rhätische im Kanton Graubünden,
in Tirol, in Friaul, einst auch in Triest
[* 29] und Venedig
[* 30] und weithin in der mittlern und östl. Po-Ebene.
Den Schluß bildet das Rumänische und das Italienische, welch letzteres allein eine ununterbrochene Entwicklung
darstellt. Die durch die Zwischenräume in der Zeit der Romanisierung bedingten veränderten Formen des Vulgärlatein, die
die Grundlage für die einzelnen Sprachen bilden, prägen sich nun aber nicht ganz scharf aus in den roman. Idiomen, da der
beständige gegenseitige Verkehr während der röm. Herrschaft stets wieder einen Teil der Verschiedenheiten ausglich. Erst
seit dem 6. Jahrh., als das alte Reich zerfiel und eine Reihe von Einzelstaaten an die Stelle des einheitlichen Römerreichs
trat, entwickeln sich die Völker und daher auch die Sprachen unabhängiger voneinander und prägen sich
bestimmter aus, weshalb man in diese Zeit den Anfang der Romanische Sprachen setzen kann. -
Vgl. H. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins
(3 Bde., Lpz. 1866-68);
Budinszky, Die Ausbreitung der
lat. Sprache (Berl. 1881);
G. Gröber im «Archiv für lat. Lexikographie», I. (Lpz.
1884).
Auch später haben mehrfache Verschiebungen stattgefunden. Von der GrafschaftRoussillon aus dringen die Provençalen nach
Südwesten und erobern allmählich die span. Küste; die Abart des Provençalischen, das in Catalonien, Valencia
[* 31] und auf den
Balearen und Pithyusen gesprochen wird, heißt das Catalanische. (S. Catalanische Sprache und Litteratur.)
In Italien greift das Venetianische stark um sich und erobert sich die dalmatin. Küste, einen großen Teil der Po-Ebene und
dringt namentlich in Tirol mächtig in rhätisches Gebiet hinein; desgleichen rückt das Lombardische gegen die Alpen
[* 32] vor und
das Piemontesische drängt das Provençalische, das einst im Sturathal gesprochen wurde, zurück und
findet nur an den noch heute provençalisch sprechenden WaldensernWiderstand.
Mit Wilhelm dem Eroberer hält das Französische seinen Einzug in England und bildet sich zu einem eigenen Dialekt, dem Anglonormannischen,
aus, um freilich um die Mitte des 14. Jahrh. wieder zu verschwinden; endlich erwerben die
überseeischen Eroberungen der roman. Völker der roman. Sprache große neue Gebiete. Die vorröm. Sprachen
sind, vom Baskischen abgesehen, in den roman. Ländern spurlos verschwunden. Wie weit diese Sprachen die jeweilige Ausbildung
des Vulgärlatein beeinflußt haben, ist eine noch ungelöste Frage, doch wird von manchen das französisch-norditalienisch-rhätische
ü (frz. mur, dur) für keltisch, die Eigentümlichkeiten des florentin.
Dialektes für etruskisch gehalten und die süd- und mittelital.
Mundarten scheinen in manchen Dingen beträchtlich das oskisch-umbrische Lautsystem widerzuspiegeln. Der Wortschatz der Romanen
ist seiner Hauptsache nach der lateinische und zwar zerfallen die lat. Bestandteile in zwei Klassen, Erbwörter und Schriftwörter,
d. h. in solche, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wurden,
und solche, die erst in späterer Zeit aus der lat. Kirchen-, Gerichts- oder Gelehrtensprache in die Volkssprache gedrungen
sind (vgl. z. B. frz. avoué
als Erbwort neben dem Gerichtsausdruck advocat).
Die kelt. Wörter, die im Französischen wohl am zahlreichsten sind, beziehen sich fast ausnahmslos auf Gegenstände und Verrichtungen,
die die Römer
[* 33] erst von den Kelten kennen lernten. (Vgl. Romanische Thurneysen, Keltoromanisches, Halle 1884.) Der german. Elemente
sind weit mehr, und zwar beziehen sie sich auf das Gerichts- und Kriegswesen, auf Jagd und Schiffahrt, wohl auch auf Kleidungsstücke,
Haartracht und Haarfarbe. Beachtenswert ist, daß auch viele Verba und Adjektiva, die geistige Eigenschaften
bezeichnen, und sogar einzelne Adverbien, wie frz. guères, von den Germanen entlehnt sind. Im Spanischen trifft man teils
iberische, teils arab. Wörter, letztere auch in Sicilien; vom Westen dringen manche auch nach Frankreich und Italien. Am buntesten
ist das Rumänische, wo slaw., türk., neugriech. und illyrisch-albanesische
Elemente sich mit den lateinischen vermischt haben. (Vgl. A. de Cihac, Dictionnaire d'étymologie dacoromane, 2 Bde.,
Frankf. 1870, 1879.) Der grammatische Bau dagegen, die Formenlehre und die Syntax, bleibt von fremdem Einfluß unangetastet.
In der Formenlehre tritt eine große Vereinfachung ein. Von den fünf lat. Casus bleiben nur Nominativ und Accusativ,
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964 und auch von diesen beiden muß schließlich der eine weichen. Von den drei Geschlechtern schwindet das Neutrum. Im Verbum
wird das alte Futurum durch die Umschreibung mit dem Präsens des Verbumshabere ersetzt; das Perfekt wird mit habere, das Passivum
mit esse umschrieben; das Particip wird auf -u gebildet. Auch die Komparation schwindet bis auf die im
Lateinischen unregelmäßigen major, minor, melior, pejor und wenig andere. Ille (jener), in Sardinienipse (selbst) sinken
zur Rolle des Artikels herab.
Unendlich viel reicher als die Muttersprache sind die Töchteridiome in der Wortbildung. Neben den Verkleinerungsbildungen,
deren Zahl sehr groß ist, erscheinen auch Vergrößerungen, z. B. ital.
casone, das große Haus (casa). Aus jedem Verbum der ersten Konjugation kann vermittelst Abwerfung der Endung ein Substantivum
gewonnen werden, z. B. accord von accorder. Ganz neu, aber äußerst fruchtbar sind Bildungen von Substantiven aus dem Imperativ
eines Verbums mit abhängigem Namen, z.B. garderobe u.a.
Die Wortstellung ist weniger frei, die im Lateinischen so beliebten Infinitivkonstruktionen werden durch
vollständige Sätze mit der Konjunktion ital. che, frz.-span. que = lat.
quid statt quod ersetzt u.s.w. Die romanische Philologie wurde begründet durch F. Diez (s. d.), der in seiner «Grammatik der
Romanische Sprachen» zum erstenmal den Zusammenhang der und Romanische Sprachenund
ihren Ursprung aus dem Lateinischen wissenschaftlich zeigte. Sein «Etymolog. Wörterbuch der Romanische Sprachen» ist
noch immer die größte Leistung auf dem Gebiete roman. Etymologie.
Den heutigen Stand der Wissenschaft in den verschiedenen Zweigen der roman. Philologie und ihren Hilfswissenschaften stellt
der von G. Gröber herausgegebene «Grundriß der roman.
Philologie» (Bd. 1, Straßb.
1888; Bd. 2, ebd. 1894 fg.) dar; von einer neuen Grammatik der Romanische Sprachen von W. Meyer-Lübke enthält der erste Band
[* 35] die Lautlehre
(Lpz. 1890),
der zweite die Formenlehre (ebd. 1894). Die Etymologien seit Diez verzeichnet am vollständigsten G. Körting,
«Lat.-roman. Wörterbuch» (Paderb.
1891).
Einen Überblick über die auf die Erforschung der Romanische Sprachen bezügliche Litteratur
geben die Bibliographien des Jahrbuchs für roman. und engl. Sprache und Litteratur (1859–75), der Zeitschrift für roman.
Philologie, hg. von Gröber (1877 fg.);
ferner F. Neumann, Die roman. Philologie (Lpz. 1882);