Titel
Reuter
,
1)
Christian, nach
Zarnckes Nachweis der bisher unbekannte Verfasser des Lügenromans
»Schelmuffsky«, geb. 1665 zu
Kütten bei
Halle,
[* 2] studierte seit 1688 in
Leipzig
[* 3]
Theologie, später
Jurisprudenz, trat nebenbei als
Schauspieler auf und schrieb
unter dem
Namen
»Hilarius« satirische
Komödien, deren
Stoff er dem
Leben einer
Leipziger
Familie entnahm. Von
dieser als Pasquillant verklagt, wurde er 1696 auf mehrere Jahre relegiert und 1699 mit gänzlicher Exklusion bestraft. Er
trat darauf in die
Dienste
[* 4] eines
Kammerherrn v. Seyfferditz in
Dresden
[* 5] und ist später verschollen. Reuter
war ein witziger
Kopf
von natürlicher Derbheit und besaß ein außergewöhnliches
Talent für Charakterzeichnung.
Seine Lustspiele sind Charakterkomödien im Geist Molières, z. B. »Die ehrliche Frau zu Plissine (Pleißenstadt)« (1695), worin bereits die [* 1] Figur des Schelmuffsky als der von gefährlichen Reisen heimkehrende Sohn der Frau Schlampampe eingeführt wird. Sein Hauptwerk aber ist der genannte Roman, eine Satire auf die aufschneiderischen modischen Reiseromane im galanten Ton eines Handwerksburschen und eine der vorzüglichsten Schöpfungen der humoristischen Poesie. Das Werkchen erschien unter dem Titel: »Schelmuffskys wahrhaftige kuriöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande« (erster Teil, Schelmerode 1696; andrer Teil, Pavia 1697) ¶
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und erlebte verschiedene Auflagen (Frankf. u. Leipz. 1750 u. öfter) sowie auch neuere Bearbeitungen. Ein Neudruck der ältesten Ausgabe erschien Halle 1885.
Vgl. Zarncke, Christian Reuter
, der
Verfasser des Schelmuffsky, sein Leben und seine Werke (Leipz. 1884).
2) Fritz, der hervorragendste und erfolgreichste plattdeutsche Dichter neuerer Zeit, geb. zu
Stavenhagen in Mecklenburg-Schwerin, studierte zu Rostock
[* 7] und Jena
[* 8] die Rechte, beteiligte sich auf letzterer Universität an den
burschenschaftlichen Bestrebungen, ward 1833 in Berlin
[* 9] verhaftet, nach einjähriger Untersuchung zum Tod verurteilt, vom König
zu 30jähriger Festungshaft begnadigt, nach vierjähriger Haft in preußischen Festungen (s. »Ut mine Festungstid«) 1838 nach
Mecklenburg
[* 10] ausgeliefert und in Dömitz interniert, bis er 1840 infolge der preußischen Amnestie seine
Freiheit wiedererhielt. Er bewirtschaftete nun bis 1850 das väterliche Gut bei Stavenhagen, gab dann die Landwirtschaft auf
und ließ sich als Privatlehrer in Treptow, später als Schriftsteller in Neubrandenburg
[* 11] nieder. Seit 1864 lebte der Dichter
in Eisenach,
[* 12] wo er starb. Während seines Aufenthalts in Treptow hatte er, in engern Kreisen
längst als vorzüglicher Erzähler bekannt, begonnen, »Läuschen und Rimels« (Anklam
[* 13] 1853; 17. Aufl., Wism. 1886) in die Öffentlichkeit
zu senden. Die köstlich anschauliche und naive Weise, in der hier den ältesten und bekanntesten Scherzen
und Anekdoten zu wahrhaft neuem Leben verholfen war, ließ in Reuter
alsbald ein seltenes Talent erkennen. Die folgenden poetischen
Erzählungen: »De Reis' nah Belligen« (Trept. 1858; 12. Aufl., Wism. 1884);
»Läuschen und Rimels«, neue Folge (Neubrandenb. 1858, 14. Aufl. 1884);
»Kein Hüsung« (Greifsw. 1858; 10. Aufl., Wism. 1885)
sowie »Schurr Murr« (das. 1861, 11. Aufl. 1886) verhalfen Reuter
zu
einer über die Grenzen
[* 14] des niederdeutschen Sprachgebiets hinausreichenden Popularität, die nicht unerhebliche Förderung durch
eine Reihe von Recitatoren (wie Palleske, Kräpelin) fand, welche weite Kreise
[* 15] mit diesen durch den mündlichen Vortrag erst
zur Entfaltung ihrer vollen Wirkungskraft gelangenden Dichtungen bekannt machten. In ganz Deutschland
[* 16] ward
man durch seine (wie gleichzeitig durch Groths) Dichtungen auf die in der plattdeutschen Sprache
[* 17] liegende Fülle köstlichen
Humors, echter Naturlaute für den Ausdruck der Empfindung und wirksamer Mittel für volkstümliche Genredarstellung aufmerksam.
Die Verwendung dieser Mittel durch eine kerngesunde, tief innerliche und doch frische Natur, wie Reuter
war,
wirkte erquickend. Seine Meisterleistungen gab der Dichter in der poetischen Erzählung »Hanne Nüte« (Wism. 1860, 13. Aufl.
1884) und den unter dem Gesamttitel: »Olle Kamellen« vereinigten Erzählungen und zwar sowohl in den köstlichen kleinern
Geschichten: »Woans ick tau 'ne Fru kamm« nebst »Ut de Franzosentid« (das. 1860, 16. Aufl.
1886) und »Ut mine Festungstid« (das. 1863, 14. Aufl. 1885),
wie vor allem in dem größern Roman »Ut mine Stromtid« (das. 1862-64, 3 Bde.; 16. Aufl. 1886), welcher den eigentümlichen und poetisch wertvollsten deutschen Schöpfungen der Neuzeit unbedingt hinzugerechnet werden muß. Minder hoch, obschon an komischen Zügen reich, sind die nachfolgenden Erzählungen: »Dörchläuchting« (Wism. 1866, 11. Aufl. 1886) und »De mecklenbörgschen Montecchi un Capuletti oder de Reis' nah Konstantinopel« [* 18] (das. 1868, 10. Aufl. 1885). Die aus seinem Nachlaß publizierten Lustspiele: »Onkel Jakob und Onkel Jochen«, »Fürst Blücher in Teterow« sowie »Die drei Langhänse« (2. Aufl., Leipz. 1875),
erwiesen, daß dem vorzüglichen Erzähler dramatisches Talent versagt
war. Reuters
»Sämtliche Werke« erschienen noch bei Lebzeiten des Dichters
in 13 Bänden (Wism. 1863-68); als 14. und 15. Band
[* 19] gab Ad. Wilbrandt die »Nachgelassenen Schriften«, mit Biographie (das. 1875),
heraus; eine Volksausgabe erschien in 7 Bänden (3. Aufl., das. 1885).
Vgl. außerdem Glagau, Fr. Reuter
und
seine Dichtungen (2. Aufl., Berl. 1875);
Ebert, Fritz Reuter
(Güstrow
[* 20] 1874);
Latendorf, Zur Erinnerung an Fritz Reuters
verschollene
Gedichte etc. (Pößneck 1879);
Gaedertz, Fritz Reuter
-Studien (Berl. 1888).
3) Hermann Ferdinand, namhafter Kirchenhistoriker, geb. zu Hildesheim, [* 21] studierte in Göttingen [* 22] und Berlin Theologie, habilitierte sich Ostern 1843 an der Berliner [* 23] Universität, wurde 1853 außerordentlicher Professor in Breslau, [* 24] 1855 ordentlicher Professor in Greifswald, [* 25] 1866 abermals in Breslau, wo er 1869 zum Konsistorialrat ernannt wurde; 1876 folgte er einem Ruf nach Göttingen, woselbst er 1881 Abt von Bursfelde wurde. Seine Werke sind: »Johannes von Salisbury« (Berl. 1842);
»Geschichte Alexanders III. und der Kirche seiner Zeit« (2. Aufl., Leipz. 1860-64, 3 Bde.);
»Abhandlungen zur systematischen Theologie« (Berl. 1855);
»Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter« (das. 1875-77, 2 Bde.);
»Augustinische Studien« (Gotha [* 26] 1887).
Auch machte er sich durch die Mitbegründung der »Zeitschrift für Kirchengeschichte« (1876) verdient.
4) Paul Julius, Freiherr von, Begründer des nach ihm benannten Telegraphenbüreaus in London,
[* 27] geb. zu
Kassel,
[* 28] trat in ein Bankgeschäft in Göttingen und 1847 in eine Buchhandlung in Berlin. 1849 begründete er in Paris
[* 29] eine lithographierte
Korrespondenz; als aber die preußische Regierung die Telegraphenlinie von Aachen
[* 30] nach Berlin für den Privatverkehr
freigab, ging Reuter
nach Aachen und trat als Vermittler von Depeschen mit den hervorragendsten Zeitungen und Bankgeschäften in
Verbindung.
Eine gleichzeitig ins Leben gerufene Brieftaubenpost zwischen Aachen und Brüssel [* 31] sollte ihm die Nachrichten aus Paris und London rascher als auf dem gewöhnlichen Weg zutragen. Mit der Ausdehnung [* 32] der Telegraphenlinien verlegte er sein Büreau nach Verviers, dann nach Quiévrain und 1851 nach London, wo sich seine Beziehungen rasch in großartigem Maß erweiterten. Er beschaffte von allen Hauptpunkten des Kontinents kommerzielle und finanzielle Nachrichten und versorgte damit Journalisten und Geschäftsleute.
Seit 1858 trat er mit der englischen Presse
[* 33] in Verbindung, und während des italienischen Kriegs brachte
auch die »Times« die Depeschen des Reuter
schen Büreaus. Reuter
errichtete nun Zweigbüreaus in Amsterdam,
[* 34] Brüssel, im Haag,
[* 35] in Antwerpen,
[* 36] Bombay,
[* 37] Kalkutta,
[* 38] Alexandria, Kairo,
[* 39] Schanghai,
[* 40] Singapur,
[* 41] Hongkong, Peking,
[* 42] in den Seeplätzen Afrikas, in Kanada, Westindien,
[* 43] Nord-
und Südamerika,
[* 44] kurz, Reuters
Verbindungen umfaßten die ganze Welt. Während des amerikanischen Kriegs
unterhielt er eine eigne Telegraphenlinie zwischen Cork und Crookhaven. Auch in China
[* 45] und Indien füllte er Lücken der telegraphischen
Verbindung aus und errichtete z. B. einen Kurierdienst zwischen Peking und Kiachta, dem Endpunkt der russischen Telegraphenlinie
in Mittelasien. Die ihm 1865 vom König von Hannover
[* 46] erteilte Erlaubnis, ein Kabel zwischen der englischen
und hannöverschen Küste zu legen, wurde nachträglich von der preußischen Regierung bestätigt und zugleich von dieser
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übernommen, die betreffende Linie bis zur russischen Grenze fortzuführen; 1869 legte Reuter
das erste submarine Kabel zwischen
Frankreich und Nordamerika.
[* 48] 1871 wurde er vom Herzog von Sachsen-Koburg-Gotha in den Freiherrenstand erhoben.