Rettungshäuser
für die verwahrloste Jugend als für diesen Zweck ausschließlich bestimmte Anstalten sind ein Erzeugnis unsers Jahrhunderts. Ähnliches erstrebten bereits im 16. und 17. Jahrh. der Erzbischof Karl von Borromeo in Mailand [* 2] und ¶
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Vinzenz von Paul in Frankreich. In den größern Städten der evangelischen Niederlande [* 4] und dann auch in den protestantischen Städten Norddeutschlands entstanden öffentliche Armen- und Arbeitshäuser während des 17. Jahrh., in denen sich auch Abteilungen für »ungeratene Kinder« fanden, die dort zu Arbeit und Unterricht angehalten wurden. Die von A. H. Francke angeregte Fürsorge für verwaiste Kinder kam in vielen Fällen auch der verwahrlosten Jugend zu gute.
Mit größerer Klarheit erfaßte J. H. Pestalozzi die Fürsorge für verwahrloste Kinder als eine ganz eigne Aufgabe der Menschenliebe.
Von seinen ersten Versuchen in Neuhof (1775) bis zur Begründung der Anstalt in Clindy (1818) begleitete
ihn dieser Gedanke. Mehr praktischen Erfolg hatten seine Landsleute v. Fellenberg und Wehrli in Hofwyl. 1788 folgte Robert Youngs
mit einer großartigen Anstalt in London.
[* 5] Im wesentlichen die heutige Gestalt erhielten jedoch die Rettungshäuser
erst in Deutschland
[* 6] nach
den Franzosenkriegen.
Schon 1813 sammelte Johannes Falk in Weimar [* 7] den Verein der Freunde in der Not, der anfangs die verwahrlosten Kinder bei Handwerkern und Landleuten unterbrachte, 1823 aber eine eigne Anstalt, den Lutherhof, schuf. Inzwischen hatten bereits die Grafen A. und W. v. d. Recke-Volmerstein (Overdyck 1819, Düsselthal 1822), Spittler und Chr. H. Zeller in Beuggen bei Basel [* 8] (Armenschule und Bildungsanstalt für Armenschullehrer, 1817), Rheinthaler in Erfurt [* 9] (Martinsstift, 1819), Königin Pauline von Württemberg [* 10] (Paulinenpflege in Stuttgart, [* 11] 1820) derartige Anstalten ins Leben gerufen, und 1825 folgte Berlin [* 12] auf Anregen des Ministers Rother mit der Anstalt am Urban.
Neuen Aufschwung brachte 1833 der Vorgang J. H. Wicherns im Rauhen Haus zu Horn bei Hamburg. [* 13] Das Neue seines Vorgehens bestand in der Gliederung einer umfassenden Anstalt in einzelne familienartige Gruppen mit Gartenarbeit etc., wie es ganz ähnlich auch der Pfarrer Gustav Werner in Reutlingen [* 14] mit Erfolg versuchte. Das Rauhe Haus fand nicht nur in Deutschland, sondern weit darüber hinaus Beachtung und Nachfolge. In eigenartige Weise verwertete namentlich in Frankreich Demetz seine in Horn gewonnenen Anschauungen bei der Gründung seiner Colonies agricoles pénitentiaires, deren erste 1839 in Mettray entstand.
Besonders wirksam erwies sich namentlich die von Wichern mit dem Rauhen Haus verbundene Brüderschaft der Helfer. Die auf dem
ersten Kirchentag in Wittenberg
[* 15] (September 1848) erfolgte Gründung des Zentralausschusses für die innere Mission
der deutschen evangelischen Kirche kam auch der Sache der Rettungshäuser
zu gute, die sich gegenüber manchen Vorurteilen immer mehr Bahn
brachen und endlich im deutschen Strafgesetzbuch vom namentlich in dessen revidierter Gestalt vom
auch offene staatliche Anerkennung fanden. § 55 erhielt damals den Zusatz: »Gegen
den Begeher einer strafbaren Handlung, welcher das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, können nach Maßgabe der
landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Insbesondere
kann die Unterbringung in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt erfolgen, nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde
die Begehung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt worden ist.« Auf Grund dessen wurde in
Preußen
[* 16] durch Gesetz vom die Zwangserziehung verwahrloster Kinder zu einer Aufgabe der provinziellen Selbstverwaltung
gemacht.
Die Provinzen
genügen dieser Pflicht teils durch Unterbringung der Kinder in Familien, teils durch Verträge
mit bestehenden Anstalten, teils durch Begründung eigner großer Rettungshä
user. Im J. 1885 zählte man in Deutschland 291 Rettungshäuser
mit etwa
11,000 Insassen; davon kamen 180 Anstalten mit 9000 Zöglingen auf Preußen. Auf Grund des preußischen Gesetzes vom sind
bis 1888 bereits über 12,000 Kinder untergebracht. Außerhalb Deutschlands
[* 17] haben die Rettungshäuser
namentlich in
England große Verbreitung, mannigfache Ausgestaltung und hingebende Teilnahme gefunden. In Frankreich haben sie nach dem erwähnten
Vorgang von Demetz vorwiegend die eigentümliche Form der Colonies agricoles angenommen, deren 6 umfangreiche vom Staat und 21 von
Privatvereinen unterhalten werden.
Außerdem bestehen noch etwa 20 anders eingerichtet Rettungshäuser
für Mädchen. Die Zahl der
Insassen sämtlicher Besserungsanstalten belief sich 1884 auf etwa 7000, wovon 5800 Knaben und 1200 Mädchen waren. In Belgien
[* 18] hat seit 1847 der Staat selbst die Sache der Rettung in die Hand
[* 19] genommen. Damals entstand die landwirtschaftliche Besserungsanstalt
zu St.-Hubert für freigesprochene jugendliche Angeklagte. 1848 kamen die beiden großen Anstalten zu
Ruysselede (Knaben) und Beernem (Mädchen) für die enfance abandonnée, 1864 die zu Namur
[* 20] für die enfance coupable hinzu.
Sämtliche Anstalten sind im weiten Maßstab
[* 21] angelegt und militärisch geordnet. Die Schweiz
[* 22] besitzt gegenwärtig 58 Rettungshäuser
mit
über 2000 Zöglingen. Als eine Sache von allgemeiner menschlicher Bedeutung, hat das Jugendrettungswesen
wiederholt internationale Versammlungen beschäftigt, so die Kongresse für Gefängniswesen in Stockholm
[* 23] (1878), für Unterrichtswesen
in Brüssel
[* 24] (1880) und London (1884), für Jugendschutz in Paris
[* 25] (1883).
Vgl. Ötker, Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder (Berl. 1879);
Wichern und Henske, Rettungsanstalten (in Schmids »Encyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens«, 2. Aufl., Bd. 7);
»Vereinshefte des Nordwestdeutschen Vereins für Gefängniswesen« (Oldenb. 1878-79);
»Das Rettungshauswesen«, eine Denkschrift (Berl. 1882).
S. auch Besserungsanstalten und Innere Mission.