Titel
Reichstag
,
Bezeichnung für die
Ständeversammlung eines
Reichs, wie sie im gegenwärtigen
Deutschen
Reich (s. unten), in
Dänemark
[* 3] (s. d., S. 506),
Schweden
[* 4] (s. d.) und
Ungarn
[* 5] (s. d.) üblich ist, während die
Volksvertretung
des cisleithanischen Teils der
Österreichisch-Ungarischen Monarchie
»Reichsrat« heißt. Reichstag
hieß im frühern
Deutschen
Reich
die Versammlung der
Reichsstände, d. h. der reichsunmittelbaren Mitglieder des
Reichs, und später ihrer
Bevollmächtigten (s. unten), und auch die 1848 in
Frankfurt
[* 6] a. M. zusammenberufene deutsche
Nationalversammlung wurde Reichstag
genannt
(s.
Deutschland,
[* 7] Geschichte, S. 889 ff.), eine Bezeichnung, die mit der
Gründung des Norddeutschen
Bundes auf die Gesamtvolksvertretung
der verbündeten deutschen
Staaten
übertragen ward.
Deutschland. Fluß- und

* 8
Deutschlands. Der Ursprung der deutschen Reichstage
ist auf die Versammlungen der geistlichen und weltlichen
Großen
zurückzuführen, welche im fränkischen
Reich teils gleichzeitig mit den
Volks- und Heerversammlungen der März- und
Maifelder,
teils von diesen gesondert zur Beratung wichtiger Reichsangelegenheiten stattfanden. Diese Versammlungen erlangten nach der
Abtrennung
Deutschlands
[* 8] vom fränkischen
Reich durch die
Goldene Bulle, die
Wahlkapitulationen und den
Westfälischen
Frieden eine geregelte
Verfassung.
Der Reichstag
versammelte sich auf Einladung des
Kaisers an dem von ihm bestimmten, wechselnden
Ort. Zu erscheinen berechtigt waren
die
Bischöfe, Reichsäbte,
Herzöge,
Grafen und andre edle
Herren und
Ministerialen, welche der
Kaiser berief; später (zuerst
1255) erschienen auch Abgeordnete der
Reichsstädte. Seit dem 15. Jahrh. traten die
Kurfürsten vermöge
ihrer bevorzugten
Stellung zu abgesonderter Beratung zusammen; dem gegebenen
Beispiel folgten die weltlichen und geistlichen
Reichsfürsten, und so teilte sich der in die drei Kollegien der
Kurfürsten, unter denen Kurmainz, der
Reichsfürsten, unter
denen abwechselnd
Salzburg
[* 9] und
Österreich,
[* 10] und der
Reichsstädte, unter denen diejenige Stadt den Vorsitz
führte, in welcher der Reichstag
stattfand. Im 17. Jahrh. stellte sich der
Grundsatz fest, daß im Fürstenkollegium nur diejenigen,
welche den Reichstag
von 1582 besucht hatten,
Virilstimmen haben, neu erhöhte fürstliche
Häuser aber solche nur mit Bewilligung
der Mitstände erlangen sollten, wonach nun zwischen alt- und neufürstlichen
Häusern unterschieden ward;
zugleich wurde bestimmt, daß die 1582 geführten
Stimmen als am
Territorium haftend angesehen werden sollten, so daß nach
der
Teilung eines
Fürstentums die Teilhaber zusammen nur eine
Stimme führten.
In der letzten Zeit des Reichs wurden im Fürstenrat, welcher in eine geistliche und eine weltliche Bank zerfiel, 94 Virilstimmen, 33 geistliche und 61 weltliche, letztere von 40 regierenden Herren, geführt. Daneben führten die Prälaten 2 Kuriatstimmen, nämlich die schwäbische und die rheinische Prälatenbank, jene mit 22, diese mit 18 Mitgliedern, je eine. Die Grafen und Herren hatten, in die wetterauische und schwäbische Bank geteilt, 2 Kuriatstimmen; eine dritte erhielt 1640 die fränkische und 1653 die westfälische Bank; alle 4 Körperschaften zusammen zählten zuletzt 103 Mitglieder.
Regens - Regensburg

* 11
Regensburg.
Das reichsstädtische
Kollegium teilte sich seit 1474 in die rheinische
Bank mit 14 und in die schwäbische mit 37
Städten.
Als der 1663 in
Regensburg
[* 11] zusammengetretene Reichstag
sich in die
Länge zog und zuletzt dortselbst permanent
wurde, ließen sich die
Stände insgesamt nur noch durch
Gesandte vertreten. Der
Kaiser sandte einen
Fürsten als Prinzipalkommissar
zu seiner persönlichen Vertretung mit einem staatsrechtskundigen
Kommissar. Das allgemeine
Direktorium führte Kurmainz als
Reichserzkanzler, bez. dessen Gesandter.
Reichsthaler - Reichsv

* 12
Seite 13.688.
Nur ein übereinstimmender Beschluß aller drei Kollegien konnte als
Reichsgutachten (s.
Reichsgesetze)
an den
Kaiser gebracht werden, welcher dasselbe durch ein Ratifikationsdekret zum
Reichsschluß erhob, aber auch die Zustimmung
verweigern konnte. Zu wichtigen
Geschäften wurden vom Reichstag
Reichsdeputationen (s. d.) eingesetzt, deren Beschlüsse teilweise
die gleiche Geltung wie die des Reichstags
selbst hatten. Je mehr die kaiserliche Macht abnahm und die
staatliche Thätigkeit aus den
Zentralorganen sich in die einzelnen Territorien
¶
mehr
zurückzog, desto mehr verlor der Reichstag
selbst an Bedeutung und sank schließlich zu einer Gesandtenkonferenz
mit ungemein schleppendem Geschäftsgang herab, so daß die Auflösung des Reichs (1806) wenig mehr als eine leere, bedeutungslose
Form beseitigte.
Der Reichstag
des neuen Deutschen Reichs.
(Hierzu Textbeilage: »Geschäftsordnung des deutschen Reichstags«
.)
Der Reichstag
(397 Mitglieder) geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor. Die Reichstag
sabgeordneten
sind Vertreter des gesamten Volkes, also nicht etwa nur der Interessen ihres jeweiligen Wahlkreises, und an Aufträge und Instruktionen
der Wähler nicht gebunden. (Reichsverfassung, Art. 20 ff.). Die früher dreijährige Wahl- und Legislaturperiode ist durch
Reichsgesetz vom in eine fünfjährige umgewandelt. Das Wahlverfahren ist durch das Wahlgesetz
vom und das Wahlreglement vom geregelt.
Der Reichstag übt mit dem Bundesrat (s. d.) zusammen die Reichsgesetzgebung aus, indem die Mitglieder und Kommissare des Bundesrats das Recht haben, im R. zu erscheinen und den Standpunkt der verbündeten Regierungen oder der betreffenden Einzelregierung darzulegen und zu vertreten. Der hat, ebenso wie der Bundesrat, das Recht der Initiative, d. h. die Befugnis, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen. Die Feststellung des Haushaltsetats des Reichs erfolgt unter Mitwirkung und Zustimmung des Reichstags durch Reichsgesetz.
Über die Verwendung aller Einnahmen des Reichs muß dem Reichstag, ebenso wie dem Bundesrat, alljährlich durch den Reichskanzler Rechnung gelegt werden. In dem Budgetrecht des Reichstags liegt auch das Recht der Zustimmung zur Erhebung von Zöllen und Verbrauchssteuern und zu der Aufnahme einer Anleihe oder der Übernahme einer Garantie. Staatsverträge, welche sich auf Gegenstände beziehen, welche in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, bedürfen der Genehmigung des Reichstags, Die Beratungen des Reichstags werden entweder durch Vorlagen des Bundesrats oder durch Anträge der Mitglieder veranlaßt, auch durch Petitionen, welche der Reichstag verfassungsmäßig entgegennehmen und dem Reichskanzler oder dem Bundesrat überweisen kann. Der Reichstag kann Interpellationen an den Bundesrat und an den Reichskanzler und Adressen an den Kaiser richten. Die Zusammensetzung des Reichstags seit 1867 ist aus nachstehender Tabelle ersichtlich:
Übersicht der Fraktionen des Reichstags des Norddeutschen Bundes und des deutschen Reichstags.
Fraktionen | 1867 | 1868 | 1871 | 1874 | 1877 | 1878 | 1879 | 1880 | 1881 (Febr.) | 1881 (Nov.) | 1884 (März) | 1884 (Dez.) | 1887 | 1888 (März) | 1888 (Nov.) |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Nationalliberale | 79 | 82 | 116 | 150 | 126 | 97 | 85 | 85 | 62 | 45 | 45 | 50 | 98 | 100 | 97 |
Liberale Gruppe (Schauß-Völk) | - | - | - | - | - | - | - | 15 | 15 | - | - | - | - | - | - |
Freie liberale Vereinigung | 14 | 10 | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - |
Linkes Zentrum | 27 | 16 | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - |
Liberale Reichspartei | - | - | 29 | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - |
Bundesstaatl.-konstitutionelle Verein. | 18 | 21 | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - |
Deutsche Fortschrittspartei | 19 | 30 | 44 | 49 | 35 | 26 | 23 | 26 | 28 | 60 | - | - | - | - | - |
Liberale Vereinigung (Sezessionisten) | - | - | - | - | - | - | - | - | 21 | 47 | - | - | - | - | - |
Deutsche freisinnige Partei¹ - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | 100 | 64 | 32 | 36 | 36 | |
Volkspartei | - | - | - | - | - | - | - | - | - | 8 | 9 | 7 | - | - | 1 |
Freie konservative Vereinigung | 39 | 34 | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - | - |
Konserv. (seit 1877 Deutschkonserv.) | 59 | 62 | 50 | 21 | 40 | 59 | 59 | 58 | 58 | 48 | 52 | 76 | 78 | 77 | 75 |
Deutsche Reichspartei | - | - | 38 | 31 | 38 | 56 | 54 | 48 | 49 | 26 | 24 | 28 | 41 | 39 | 39 |
Zentrum | - | - | 57 | 94 | 96 | 103 | 102 | 101 | 102 | 107 | 106 | 108 | 101 | 101 | 99 |
Polen | 13 | 11 | 13 | 13 | 14 | 14 | 14 | 14 | 14 | 18 | 18 | 16 | 13 | 13 | 13 |
Sozialdemokraten | 2 | 5 | 2 | 9 | 12 | 9 | 8 | 10 | 10 | 12 | 13 | 24 | 11 | 11 | 10 |
Bei keiner Fraktion² | 26 | 25 | 27 | 30 | 35 | 33 | 48 | 37 | 37 | 24 | 27 | 24 | 23 | 20 | 20 |
Erledigte Mandate | 1 | 1 | 6 | - | 1 | - | 4 | 3 | 1 | 2 | 3 | - | - | - | 7 |
Zusammen: | 297 | 297 | 382 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 |
¹ Im März 1884 durch die Fusion der Fortschrittspartei und der liberalen Vereinigung entstanden
² Mit Einschluß der Elsaß-Lothringer
Über die Wahl und die Rechte der Reichstagsabgeordneten s. Deutschland S. 837; die Geschäftsordnung des Reichstags s. in der Textbeilage.
Vgl. Wiermann, Der deutsche Reichstag (Leipz. 1886, 2 Bde.);
Freyer, Der deutsche Reichstag (Berl. 1888);
Frieß, Statistik der Wahlen zum deutschen Reichstag seit 1871 (Frankf. 1886);
Hirth, Deutscher Parlaments-Almanach (16. Ausg., Münch. 1887).