Reformation
(lat., d. h. Umgestaltung, Verbesserung), die gegen das Papsttum und die mittelalterliche Kirche gerichtete große Bewegung des 16. Jahrh., die von Deutschland [* 2] ausging und, nachdem sie anfangs den größten Teil von Europa [* 3] ergriffen hatte, wenigstens im german. Norden [* 4] eine wesentliche Neugestaltung des Kirchenwesens herbeiführte. Der Widerstand gegen die äußere Macht der päpstl. Hierarchie reicht tief ins ¶
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Mittelalter zurück. Die unbeschränkte Gewalt, welche die Päpste als «Statthalter Gottes auf Erden» über alle christl. Fürsten und Völker beanspruchten; die Politik, mit der sie alle polit. Händel im Interesse ihrer Machterweiterung ausbeuteten;
die ausschließliche Jurisdiktion, die sie sich über alle Personen und Güter der Geistlichkeit in allen Ländern beilegten;
die endlosen Abgaben, die sie in allen Ländern erhoben und immerfort mehrten;
der Übermut der Geistlichen und Mönche dem Laienstande gegenüber, die geringe Bildung des geistlichen Standes und die Verweltlichung seiner Lebensweise: diese Gebrechen waren in verschiedenen Perioden der frühern Geschichte Gegenstand des Angriffs gewesen.
Seit der Wegführung der Päpste nach Avignon und dem großen Schisma der Kirche (s. Papst, Bd. 12, S. 874 a) hatte sich der Verfall mit außerordentlicher Raschheit ausgebreitet und drohte alle kirchliche Ordnung und Sitte aufzulösen. Diese Mißstände riefen zu Anfang des 15. Jahrh. die Konzilien zu Pisa, [* 6] Konstanz [* 7] und Basel [* 8] hervor, die sich außer der Abstellung des Schismas auch die Reform der Kirche «an Haupt und Gliedern» zur Aufgabe gesetzt hatten. Diese Reformversuche, aus dem Schoße des Klerus selbst hervorgegangen, sollten nur die Kirchenautorität vom Papst auf die Konzilien übertragen; sie gingen über die äußere Verfassung und Disciplin nicht hinaus und berührten weder das kirchliche Dogma noch das Princip der ganzen Kirchenautorität. Es gelang den Päpsten, auch die schon notgedrungen zugesagten Reformen größtenteils wieder zu vereiteln.
Indessen bereitete sich eine allgemeine Umgestaltung des ganzen mittelalterlichen Lebens vor. An die Stelle des alten Lehnswesens trat die Erstarkung des Landesfürstentums, dessen polit. Interessen oft mit den päpstl. Ansprüchen in Widerstreit kamen; der Verfall des Rittertums, das Emporkommen der Zünfte in den Städten und die dumpfe Gärung im Bauernstande bedrohten die Grundlagen der bisherigen socialen Ordnung. Zugleich erschütterte die Ausbreitung der Wissenschaften durch die nicht lange vorher erfundene Buchdruckerkunst das mönchische und kirchliche Monopol mittelalterlicher Bildung.
In diese Gärung fiel der Streit über den Ablaß, den der Augustinermönch Martin Luther (s. d.) begann. Der prachtliebende Papst Leo X. hatte 1514-16 in den nordischen Reichen Ablaß verkündigen lassen, dessen Ertrag zu einem Kriege gegen die Türken und zur Erbauung der Peterskirche in Rom [* 9] bestimmt sein sollte. Dieser Ablaß wurde 1517 im Erzbistum Magdeburg [* 10] durch den Dominikanermönch Johann Tezel (s. d.) ausgeboten, der mit den Ablaßzetteln einen förmlichen Handel trieb. Da geschah es, daß einige Bürger zu Wittenberg, [* 11] als sie bei Luther zur Beichte kamen, die von Luther ihnen auferlegte Buße nicht leisten wollten, indem sie von Tezel erkaufte Ablaßzettel vorzeigten.
Dies war der nächste Anlaß zu den berühmten 95 Streitsätzen (Thesen) über Buße und Ablaß, die Luther an die Thür der Schloßkirche zu Wittenberg anschlagen ließ mit dem Erbieten, dieselben gegen jedermann in öffentlicher Disputation zu verteidigen. Die Streitsätze waren gegen Tezel gerichtet, und Luther behauptete darin, daß der Papst nicht die Strafen der Sünden im Jenseits (Fegefeuer), sondern nur die nach den Kirchengesetzen für Sünden auferlegten Büßungen (die kanonischen Strafen) erlassen könne; daß aber die Vergebung der Sünde bei Gott und der Erlaß der jenseitigen Pein von dem Bußfertigen nicht durch Bußwerke, sondern durch den Glauben an die durch Christi Tod geleistete Genugthuung erlangt werde.
Dabei warf Luther am Schlusse die Frage auf, warum doch der Papst, wenn er die Macht habe, von der Pein des Fegefeuers zu befreien, diese Wohlthat nicht allen Gläubigen und umsonst zu teil werden lasse, wie dieses die Pflicht der christl. Liebe unstreitig von ihm fordere. Mit diesem Angriff wurde nicht nur die geltende Praxis des röm. Kirchentums angetastet, sondern auch von Luther, der sich an der Heiligen Schrift und an Augustins strenger Lehre [* 12] gebildet hatte, der tiefe Gegensatz angedeutet, in dem sich eine ernste Frömmigkeit zu dem ganzen veräußerlichten Kirchenwesen befinden mußte.
Die Art, wie Rom den kühnen Mönch zum Schweigen zu bringen suchte, schürte nur das Feuer. Der Federkrieg, den Tezel, Eck und
Sylvester de Prierias gegen Luther führten, bestärkte diesen nur in seinem Gegensatze gegen das kirchliche Satzungswesen,
und ebenso erfolglos war die hochfahrende Art, mit der Kardinal Cajetanus (1518) Luther zur Ruhe zu bringen
versuchte. Der durch den päpstl. Kammerherrn K. von Miltitz vermittelte Waffenstillstand ward bald durch die Kampfesungeduld
der Gegner gebrochen. Die Disputation zu Leipzig
[* 13] (Juni 1519) zwischen Luther, Eck und Karlstadt brachte den Gegensatz auf seinen
schärfsten Ausdruck: Luther sah sich gedrängt, die Konsequenzen seiner Sätze zu ziehen, die unbedingte
Autorität des Papstes und der Konzilien und damit das ganze Princip des röm. Katholicismus zu verwerfen. Als alleinige Autorität
galt ihm fortan nur die Heilige Schrift. Hiermit hatte die Reformation
ihr Losungswort erhalten.
Luther begann den Kampf gegen die röm. Kirchenautorität nunmehr mit aller Macht und Leidenschaft. Er schrieb 1520 die Schriften «An den christl. Adel deutscher Nation», «Von der babylon. Gefangenschaft der Kirche» und «Von der Freiheit eines Christenmenschen». In der ersten forderte er mit Übergehung der Fürsten den Kaiser und den deutschen Adel auf, selbst Hand [* 14] anzulegen an eine durchgreifende «Besserung des geistlichen Standes»; in der zweiten griff er die päpstl.
Gewalt selbst und die das Evangelium verdunkelnden Satzungen der Kirche mit den schärfsten Waffen [* 15] an. Er verkündigte an Stelle der hierarchischen Ordnung das allgemeine Priestertum aller Getauften und verwarf die Lehre von der Wandlung und dem Meßopfer, die Siebenzahl der Sakramente, die Verweigerung des Kelchs an die Laien im Abendmahl. Desgleichen bekämpfte er die sündentilgende Kraft [* 16] des Fastens, der Ehelosigkeit, des Mönchslebens und der Klostergelübde, das priesterliche Meßopfer, die Seelenmessen, das Fegefeuer, die Letzte Ölung u. s. w. Vergebens bot Rom nun seine letzten Waffen gegen ihn auf.
Luther zur Seite stand die neue humanistische Bildung, durch Melanchthon, Hutten u. s. w. vertreten, und der wiedererwachte Unwille der deutschen Nation gegen die röm. Kirchenpolitik und Finanzkunst sowie gegen geistliche und weltliche Unterdrückung, wie er durch die Erhebung der Bauern (s. Bauernkrieg) zum Ausdruck kam. Die röm. Bannbulle vom wurde von Luther in Wittenberg öffentlich verbrannt. Kaiser Karl V., der ein gläubiger Anhänger der Kirche war und überdies aus polit. Motiven damals zu Rom hielt, beschied den Reformator auf den Reichstag nach Worms. [* 17] ¶
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Am 17. und erschien Luther dort vor Kaiser und Reich. Er verweigerte standhaft den Widerruf und ließ die Reichsacht über sich ergehen. Die päpstl. Bulle verhallte in Deutschland ohne Wirkung. Gegen die Folgen der Reichsacht wurde Luther durch den Kurfürsten Friedrich den Weisen von Sachsen [* 19] auf der Wartburg geborgen. Bald jedoch eilte er nach Wittenberg, wo während seiner Abwesenheit unter Führung von Karlstadt und andern Schwärmern, die den Gottesdienst störten und die Bilder mit Gewalt aus den Kirchen beseitigen wollten (daher Bilderstürmer genannt), die wildeste Zügellosigkeit eingerissen war.
Luther suchte durch seine Predigten die Gemüter zu beruhigen und das Werk der Reform fortzusetzen. Schon 1523 gab er eine neue Ordnung des Gottesdienstes heraus, die an einigen Orten eingeführt, jedoch nicht beibehalten wurde. 1524 ließ er die für das Schulwesen so wichtig gewordene Schrift ergehen: «An die Ratsherren aller Städte Deutschlands, [* 20] daß sie christl. Schulen aufrichten und halten sollen». 1525 weihte er zum erstenmal einen Geistlichen, Rörer, womit er die Unabhängigkeit der Weihe der neuen Geistlichen von der Ordination durch die kath. Bischöfe begründete.
Ein zweiter wichtiger Schritt Luthers war, daß er, wie viele seiner Anhänger aus dem Klerus vor ihm, sich verheiratete. In
demselben Jahre starb Kurfürst Friedrich von Sachsen. Ihm folgte sein Bruder Johann, der sich offen für
die Reformation
erklärte. Auf Luthers Aufforderung, sich des Kirchenregiments anzunehmen, ließ der Kurfürst Johann 1527-29 eine allgemeine
Kirchenvisitation halten und das neue evang. Kirchenwesen unter landesherrlicher Hoheit (Summepiskopat) einrichten. In ähnlicher
Art schritt die auch in Hessen,
[* 21] Braunschweig-Lüneburg, Ansbach,
[* 22] Anhalt
[* 23] sowie in vielen Reichsstädten vor.
Eine heftige Protestation der evang. Stände auf dem Reichstage zu Speyer
[* 24] gegen dessen Beschlüsse über die kirchlichen
Reformen brachte den Anhängern der neuen Lehre den allgemeinen Namen Protestanten (s. Protestantismus) ein. Noch aber fehlte
ihr ein öffentlicher Ausdruck ihrer Grundsätze, den alle Reichsstände, welche die Reformation
angenommen hatten,
anerkannt hätten. Sie bekam ihn 1530 durch die von Melanchthon verfaßte, von Luther gebilligte Augsburgische Konfession (s. d.),
die von den prot.
Ständen als ihr und ihrer Geistlichen und Unterthanen Glaubensbekenntnis unterschrieben und dem Kaiser auf dem Reichstage in
Augsburg
[* 25] feierlich übergeben wurde. Die Konfession wurde später von allen Reichsständen, die sich
der deutschen Reformation
anschlossen, festgehalten, daher diese in den Reichsverhandlungen nun als Augsburgische Konfessionsverwandte
bezeichnet wurden. Auch im Auslande, wo die Reformation
Eingang fand, wurde vielfach, wie in Preußen,
[* 26] Kurland,
[* 27] Livland, Finland, Schweden,
[* 28] Norwegen und Dänemark,
[* 29] die Augsburgische Konfession angenommen, während in der Schweiz
[* 30] (s. Reformierte Kirche),
in Frankreich (s. Hugenotten) und in England (s. Anglikanische Kirche) die gegen das Papsttum gerichtete Bewegung eine mehr
oder weniger von der deutschen Reformation
unabhängige Entwicklung nahm.
Ein ferneres wichtiges Moment für die Reformation
wurde Luthers Übersetzung der Bibel
[* 31] in die deutsche Sprache. Sein
Neues Testament erschien zuerst 1522, die vollständige deutsche Bibel 1534. Außerdem hat namentlich das von Luther in ganz
neuer Weise gepflegte deutsche Kirchenlied die Ausbreitung der
Reformation
sehr gefördert. Die rechtliche Stellung der deutschen Reformation
war
lange Zeit eine unsichere. Gegenüber den Bedrohungen durch Karl V. und die kath. Stände traten die ihr
anhängenden Reichsstände zu Schmalkalden
[* 32] zu einem Defensivbündnis zusammen (s. Schmalkaldischer
Bund).
Dieser Bund unterlag zwar, als der Kaiser 1546 und 1547 Gewalt gegen die Protestanten brauchte; allein der neue Kurfürst zu
Sachsen, Moritz, besiegte den Kaiser später wieder, worauf auf dem Reichstage zu Augsburg der
Religionsfriede (s. d.) zwischen dem Kaiser und den kath. Reichsständen und den der Augsburgischen Konfession verwandten Ständen
zu stande kam. (S. auch Deutschland und Deutsches Reich, Bd. 5, S. 176 b fg.) Damit bekam die Reformation
die
rechtliche Anerkennung ihrer Existenz im Deutschen Reiche, und die Jurisdiktion der kath. Bischöfe und des
Papstes über die Protestanten war aufgehoben. Freilich wurden von der kath. Kirche alsbald energische Maßregeln zur Unterdrückung
des Protestantismus ergriffen. (S. Gegenreformation.
)
Inzwischen hatte sich unter den Anhängern der Reformation
selbst heftiger Zwiespalt erhoben. Luther und Zwingli (s. d.) waren schon
frühzeitig über die Lehre vom Abendmahl zerfallen, und alle Versuche zur Ausgleichung blieben ohne Erfolg.
Nach Luthers Tode entstand ein noch heftigerer Streit zwischen den schroffen Anhängern Luthers und der Schule Melanchthons,
der in der Lehre vom Abendmahl (s. d.), vom freien Willen des Menschen und seiner Mitwirkung bei der Bekehrung die echte Lutherische
Lehre verlassen zu haben beschuldigt wurde.
Diese Streitigkeiten zu schlichten, ließ Kurfürst August von Sachsen die sog. Konkordienformel (s. d.) aufsetzen, verbreitete sie 1580 nebst der ungeänderten Augsburgischen Konfession und deren Apologie, den Heiden Katechismen Luthers und den von Luther für den Konvent zu Schmalkalden 1537 aufgesetzten Artikeln als Symbolische Bücher (s. d.) und führte den Religionseid ein, der alle Geistliche eidlich verpflichtete, den Symbolischen Büchern gemäß zu lehren.
Das Beispiel Kursachsens fand bald in den meisten deutschen Ländern, die die Reformation
eingeführt hatten, Nachahmung. Die innere
Entwicklung des reformatorischen Princips wurde dadurch gehemmt und die Einheit seiner Bekenner gelähmt. Der Dreißigjährige
Krieg drohte die ganze Gestaltung des religiösen Lebens der Gewalt der Waffen zu überantworten.
Doch stellten die Bedingungen des Westfälischen Friedens (1648) die rechtliche Existenz des neuen Bekenntnisses fest. Inzwischen
erwuchs aber aus dem reformatorischen Geiste eine neue Erweckung des geistigen Lebens in Deutschland. Die ganze Nationalkultur
Deutschlands, wie sie sich im 18. Jahrh. ausgebildet hat, ist daraus
hervorgegangen und ebenso auch die sittliche Erweckung, die bis ins Innerste des Volkslebens eingedrungen ist und auf die
alte Kirche wesentlich zurückgewirkt hat.
Vgl. außer den ältern Hauptwerken von Sleidanus (s. d.) und Seckendorf (s. d.) Woltmann, Geschichte der Reformation
in Deutschland
(2. Aufl., 3 Bde., Altona
[* 33] 1817);
Marheineke, Geschichte der deutschen Reformation
(2. Aufl., 4 Bde.,
Berl. 1831-34);
Hagen,
[* 34] Deutschlands litterar, und religiöse Verhältnisse im Reformation
szeitalter (3 Bde.,
Erlangen
[* 35] 1841-44);
Neudecker, Geschichte des evang. Protestantismus (2 Bde., Lpz. 1844-46);
Kahnis, Die deutsche Reformation
(Bd. 1, ebd. 1872);
Maurenbrecher, Studien und ¶