Rechtswiss
enschaft
(Rechtsgelehrsamkeit,
Jurisprudenz), im
subjektiven
Sinn die wissenschaftliche
Erkenntnis und Kenntnis
der Rechtssatzungen, im objektiven
Sinn ihre wissenschaftliche Bearbeitung und
Darstellung. Es ist die hauptsächlichste Aufgabe
des Rechtsgelehrten, die
Normen des geltenden
Rechts kennen zu lernen und wissenschaftlich festzustellen, welche Rechtssätze
die Lebensverhältnisse der
Menschen normieren, und insofern hat die Rechtswiss
enschaft einen vorwiegend praktischen
Charakter.
Wer sich namentlich dem praktischen
Dienste
[* 3] der
Rechtspflege widmet, was ja von dem größten Teil der
Juristen
gilt, hat sich vornehmlich die Kenntnis derjenigen Rechtssatzungen anzueignen, welche in dem
Staate,
dem er angehört, positive
Geltung beanspruchen und bei der
Entscheidung einzelner
Rechtsfälle zur Anwendung zu bringen sind. Jedoch durch eine wissenschaftliche
Darstellung der
Normen des geltenden
Rechts allein
(Dogmatik des
Rechts) und durch eine wissenschaftliche
Gliederung und Abgrenzung der einzelnen Gebiete desselben
(Systematik des
Rechts) wird der Gegenstand der Rechtswiss
enschaft keineswegs erschöpft.
Denn alles positive
Recht, wie es sich in den Gesetzbüchern eines
Volkes und in seinen
Rechtsgewohnheiten darstellt, ist historischen
Ursprungs; nur aus der Vergangenheit aber können wir die Gegenwart recht erkennen und ebendarum
Zweck
und Bedeutung und überhaupt den
Sinn einer Rechtsnorm nur dann richtig erfassen, wenn wir auf ihre historische Entstehung
und
Entwickelung zurückgehen. Wie daher die
Rechtsgeschichte ein wichtiger Teil der
Volks- und
Kulturgeschichte überhaupt ist,
so erscheint sie auch als integrierender und wesentlicher Teil der Rechtswiss
enschaft, und zwar
pflegt man hierbei zwischen äußerer und innerer
Rechtsgeschichte zu unterscheiden, indem man unter ersterer die chronologische
Aufzählung der Rechtsquellen eines
Volkes, seiner
Gesetze und
Rechtsbücher und die Geschichte derselben versteht, während
sich die innere
Rechtsgeschichte mit der historischen
Entwickelung der einzelnen Rechtsinstitute zu beschäftigen
hat.
Sieht man aber von dem Recht, welches historischen Ursprungs ist, ab, also von dem Recht, welches als der Ausdruck des Staatswillens erscheint und ebendarum den Einzelwillen bindet, so ist es der Vernunftthätigkeit des Einzelnen unbenommen, sich ein eignes Rechtssystem zu konstruieren oder doch darüber nachzudenken und philosophische Erörterungen darüber anzustellen, wie das geltende Recht weiter auszubilden und wie es mit den menschlichen Lebensverhältnissen, aber auch mit der Rechtsidee selbst mehr und mehr in Einklang zu bringen sei.
Rechtswissenschaft (Ge

* 5
Seite 13.632.
Diese Geistesthätigkeit wird
Rechtsphilosophie, ihr
Resultat
Natur- oder
Vernunftrecht (s. d.) genannt. Indem sie sich mit einem
der höchsten
Zwecke der Menschheit überhaupt beschäftigt, bildet die
Rechtsphilosophie einen wichtigen
Teil der allgemeinen
Philosophie, und gleichwohl ist sie doch auch von praktischem Wert für die Rechtswiss
enschaft. Denn sie eröffnet
dem Rechtsgelehrten den philosophischen
Sinn; sie verleiht ihm jene Unbefangenheit und
Klarheit, welche für die
Prüfung der
positiven Rechtsnormen erforderlich ist; sie ermöglicht das Eindringen in den
Geist des
Rechts und in
die logischen Grundlagen der bestehenden Rechtsordnung, fördert eine selbständige
Prüfung ihrer Zweckmäßigkeit, ein Aufdecken
ihrer Mängel und eine wissenschaftliche Vorbereitung ihrer Fortentwickelung, und ebendarum soll in der Rechtswiss
enschaft die
philosophische
Lehr- und Lernmethode mit der historischen
Hand
[* 4] in
Hand gehen. Freilich kann das
Produkt rechtsphilosophischer
Thätigkeit allgemeine Geltung nicht
¶
mehr
beanspruchen, und hierin liegt der Hauptunterschied des philosophischen und positiven Rechts, und ebensowenig kann die Rechtswiss
enschaft, wie
manche meinen, aus dem bestehenden positiven Recht ganz neue Rechtssätze ableiten, neues Recht schaffen. Es gibt kein eigentliche
Recht der Wissenschaft. Die Rechtswiss
enschaft beschränkt sich vielmehr auf die wissenschaftliche Darstellung des gegebenen Rechts,
auf die Auslegung desselben, auf die analoge Ausdehnung
[* 6] der gegebenen Rechtsnormen auf ähnliche Fälle im Sinn des Gesetzgebers
und auf die Entwickelung der leitenden Prinzipien, welche den einzelnen Gesetzesbestimmungen zu Grunde liegen. Die einzelnen
Teile der Rechtswissenschaft
entsprechenden einzelnen Teilen des Rechts selbst (s. Recht).
Was die rechtswissenschaft
liche Litteratur anbetrifft, so sind die schriftlichen Geisteserzeugnisse der
einzelnen Völker auf diesem Gebiet teils exegetische, d. h. der Auslegung vorhandener Rechtsquellen, teils dogmatische, d. h.
der systematischen Darlegung von geltenden Rechtsgrundsätzen gewidmet. Dazu kommt die philosophische Rechtslitteratur, die
sich mit der wissenschaftlichen Feststellung der allgemeinen Rechtsbegriffe beschäftigt, und neben dem rechtshistorischen
das rechtspolitische Gebiet mit seinen der künftigen Gesetzgebung vorarbeitenden litterarischen Leistungen.
Hebriden, Neue - Hebun

* 7
Hebung.
Auch die praktische Rechtswissenschaft
, welche unmittelbar die Handhabung, Anwendung und Anwendbarkeit von geltenden
Rechtsnormen in dem Rechtsleben eines Volkes unterstützen und vermitteln will, hat eine große Litteratur, und zahllose populärwissenschaftliche
Arbeiten sollen der Hebung
[* 7] des Rechtsbewußtseins und der Verbreitung der Rechtskunde im Volk dienen; ein
verhältnismäßig neuer Zweig der rechtswissenschaft
lichen Litteratur, den erst das moderne Staats- und Rechtsleben zur vollen
Entfaltung brachte.
Denn Jahrhunderte hindurch, nachdem das römische Weltreich längst in Trümmer gegangen, erhielt sich die Weltherrschaft
des römischen Rechts (s. d.). Nur allmählich entwickelte sich bei den einzelnen Völkerschaften ein nationales Recht
und eine nationale Rechtswissenschaft
, deren Erzeugnisse nicht bloß den juristischen Fachgelehrten zugänglich sind.
Zudem zieht der moderne Staat seine Bürger zu der Gesetzgebung wie zu der Rechtsprechung unmittelbar heran, und beide bilden
einen wichtigen Teil unsers öffentlichen Lebens überhaupt.
Die Entwickelung des konstitutionellen Verfassungslebens, die volkstümliche Gestaltung der öffentlichen Rechtspflege
und die staatliche Zusammenfassung der verschiedenen Rechtsgebiete in dem neuen Reich unter einer einheitlichen Gesetzgebung
mußten namentlich für die Entwickelung der deutschen Rechtswissenschaft
von der größten Bedeutung sein (s. Deutsches Recht). Seine wissenschaftliche
Bedeutung wird das römische Recht gleichwohl für alle Zeiten behaupten, wie es denn auch Jahrhunderte hindurch nicht
nur die gesamte Rechtswissenschaft
beherrscht, sondern auch als wirklich geltendes Recht bis in die neueste Zeit Gesetzeskraft gehabt hat,
wenn sich auch das Geltungsgebiet der römisch-rechtlichen Grundsätze immer mehr verengerte und diese selbst mit der fortschreitenden
Entwickelung der modernen Gesetzgebung mehr und mehr außer Geltung kamen.
Geschichtskarten von D

* 8
Deutschland.
Schon aus dem 13. Jahrh. datiert die Wiederbelebung der romantischen
Rechtswissenschaft
durch die italienischen Rechtsgelehrten des Mittelalters. Die Glossatorenschule von Bologna sichtete das gewaltige Material
und verpflanzte das Studium der Justinianischen Rechtsbücher nach Frankreich und Deutschland,
[* 8] während die sogen. Postglossatoren,
d. h. die italienischen Rechtsgelehrten bis zum 16. Jahrh.,
wie Bartolus und Baldus, bereits an eine schulmäßige Gestaltung
der juristischen Begriffe herangingen.
Im 16. und 17. Jahrh. aber fiel die wissenschaftliche Bearbeitung des römischen Rechts vornehmlich den französischen Juristen,
dem berühmten Cujacius u. a., zu, welchen sich die spanischen und holländischen Rechtsgelehrten jener
Zeit anschlossen.
Heideland - Heidelberg

* 11
Heidelberg.
Die rationalistische Richtung des 18. Jahrh. machte sich auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft
geltend.
Rousseau und Montesquieu bahnten die Befreiung von der Herrschaft des römischen Rechts an, wenn sie auch in der absoluten Verneinung
des rechtshistorischen Moments zu weit gingen. Gegen diese Bestrebungen wandte sich nun besonders die deutsche historische
Schule, deren eigentlicher Begründer zu Ende des 18. Jahrh. Hugo in Göttingen,
[* 9] während ihr Hauptvertreter
Savigny in Berlin
[* 10] war (Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, System des heutigen römischen Rechts). Schömann, Haubold,
Kramer, Göschen, Unterholzner, Heimbach, Löhr, Schrader und von den Neuern Vangerow in Heidelberg
[* 11] (gest. 1870) waren Angehörige
dieser historischen Schule, die freilich auch nicht frei von Einseitigkeit blieb. So erwuchs ihr denn in der
rechtsphilosophischen Schule eine beachtenswerte Gegnerschaft mit dem berühmten Pandektisten Thibaut in Heidelberg an der Spitze,
bis dann die neuere Zeit zu der richtigen Erkenntnis kam, daß beide, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie (s. Vernunftrecht),
nur Hilfsmittel der Rechtswissenschaft
sind, während diese selbst die Aufgabe hat, auf jenen
Grundlagen ein den Lebens- und Rechtsverhältnissen der Völker jeweilig entsprechenden Rechtssystem aufzubauen. In diesem
Sinn sind die Lehrbücher des heutigen römimischen ^[richtig: römischen] Rechts und die sonstigen zivilistischen Schriften
von Arndts, Brinz, Holzschuhen Keller, Puchta, Seuffert, Sintenis, Baron, Wächter und Windscheid sowie das berühmte Werk von Jhering:
»Der Geist des römischen Rechts« geschrieben.
Die Belebung der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft hatte aber auch zu einem Studium der deutsch-rechtlichen Quellen angeregt.
Letztere sind nämlich immerhin für die nationale Rechtsentwickelung von großer Wichtigkeit gewesen, wenn auch das
römische Recht in Deutschland zu einer Zeit eindrang, als das deutsche Recht sich noch im Stadium der Kindheit
befand und die rechtswissenschaft
lichen Arbeiten jener Zeit (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und die sonstigen mittelalterlichen
Rechtsbücher) sich mit der römisch-rechtlichen Litteratur in konsequenter Aus- und Durchbildung des Rechtsstoffes durchaus
nicht messen konnten. Die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte von Karl Friedrich Eichhorn (gest. 1854) war in dieser Hinsicht
epochemachend.
Rechtswohlthat - Recit

* 12
Seite 13.633.Zöpfl, Walther, Hillebrand, Schulte und vor allen Jakob Grimm machten die deutschen Rechtsaltertümer in ihren Schriften dem allgemeinen Rechtsstudium zugänglich, und eine Reihe von dogmatischen Darstellungen des deutsch-nationalen Privatrechts von Gerber, Beseler, Bluntschli, Stobbe, Reyscher, Roth u. a. folgte. Namentlich war es aber das Handels- und Wechselrecht, welches nunmehr wie bei den meisten europäischen Völkerschaften, so auch in Deutschland wissenschaftlich bearbeitet wurde und hier inmitten der Zerrissenheit der deutschen Rechtszustände auch eine einheitliche gesetzgeberische Behandlung fand (s. Handelsrecht). Den großen Kodifikationen partikularen deutschen Rechts, wie dem preußischen Landrecht Friedrichs d. Gr. und dem österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch (1811), traten die Gesetzbücher Napoleons I. an die Seite, welche nicht nur das Privatrecht, sondern auch das Straf- und Prozeßrecht normierten. Das Napoleonische ¶
mehr
Handelsgesetzbuch (Code de commerce) insbesondere war das Vorbild der meisten neuern Handelsgesetzbücher, und der Code pénal (Strafgesetzbuch) beeinflußte auch die deutsche Strafgesetzgebung in erheblicher Weise. Durch Kant und Hegel wurde das wissenschaftliche Studium des Strafrechts (s. d.) mächtig angeregt, und die ausgezeichneten Arbeiten des großen Kriminalisten Feuerbach gaben der Strafrechtswissenschaft einen gewaltigen Aufschwung, der zuerst in dem von Feuerbach selbst redigierten bayrischen Strafgesetzbuch von 1813 praktische Bedeutung gewann.
Zahlreiche Strafgesetzbücher der einzelnen deutschen Staaten folgten, während gleichzeitig auf dem Gebiet des Strafprozesses (s. d.) das englische Vorbild vielfache Nachahmung in dem öffentlichen und mündlichen Verfahren und in der Heranziehung des Laienelements im Schwurgerichtsprozeß fand. Jetzt ist nicht nur auf dem Gebiet des Strafprozesses, sondern auch auf dem des Zivilprozesses (s. d.) in Deutschland die Rechtseinheit hergestellt, wie dies schon zuvor in Ansehung des Strafrechts durch den Erlaß des norddeutschen, jetzt deutschen Strafgesetzbuchs geschehen war.
Ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch ist in der Vorbereitung begriffen, und das einheitliche Reichsrecht hat bereits eine reichhaltige Litteratur hervorgerufen, welche durch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des gemeinsamen Reichsgerichts wesentlich gefördert worden ist. Auf dem Gebiet des Staatsrechts (s. d.) sind namentlich die englischen Rechtsschriftsteller von großem Einfluß gewesen, und das konstitutionelle Verfassungsleben des Kontinents hat durch dieselben vielfache Anregung erhalten.
Das deutsche Reichsstaatsrecht der Gegenwart hat bereits viele Bearbeiter gefunden. Die moderne ist aber nicht bei der Bearbeitung des positiven Staatsrechts stehen geblieben, sie hat vielmehr auch die allgemeinen Merkmale staatlicher Wirksamkeit und die Grundbedingungen zu entwickeln gesucht, welche in dem besondern Staatsrecht der einzelnen Staaten zur Erscheinung kommen. So ist die Wissenschaft des allgemeinen Staatsrechts ins Leben gerufen, welche in Deutschland an Karl Salomo Zachariä, Bluntschli, Robert v. Mohl und Held namhafte Bearbeiter fand.
Auch die kirchenrechtliche Litteratur gewann in neuerer Zeit infolge des in Deutschland zwischen Staat und Kirche bestehenden Konflikts an Bedeutung (s. Kirchenrecht). Eine wichtige Disziplin ist ferner das Völkerrecht (s. d.) geworden, ein Gebiet, auf welchem wissenschaftliche Forschung vielfach den Mangel positiver Rechtsvorschriften auszugleichen wußte. Eine noch junge Wissenschaft ist die vergleichende Rechtswissenschaft, welche sich eine systematische Vergleichung der Rechtsinstitute verschiedener Völkerschaften zur Aufgabe stellt, eine wissenschaftliche Thätigkeit, an welcher Juristen aller Kulturvölker Anteil nehmen. An encyklopädischen Darstellungen und Übersichten der gesamten ist in Deutschland kein Mangel.
Neben den Werken von Ahrens, Arndts, Bluhme, Goldschmidt, Walter und Warnkönig ist namentlich des »Rechtslexikons« von Weiske (Leipz. 1839-61, 15 Bde.) und der »Encyklopädie der Rechtswissenschaft« von Holtzendorff (4. Aufl., das. 1882), verbunden mit einem Rechtslexikon (3. Aufl. 1880 ff., 3 Bde.), zu gedenken.
Vgl. Arndts, Juristische Encyklopädie und Methodologie (7. Aufl., Stuttg. 1880);
Merkel, Juristische Encyklopädie (Berl. 1885);
Gareis, Encyklopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft (Gieß. 1887);
Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (Münch. 1880-85).