Raskolniken
(Raskolniki, »Abtrünnige, Ketzer«, von raskol, »Kirchenspaltung«),
in der griechisch-orthodoxen Kirche Rußlands der gemeinsame Name für alle Sektierer und Dissidenten. Diese haben mit den Häretikern der allgemeinen christlichen Dogmengeschichte nichts zu thun. Man kann sie unterscheiden als Altgläubige einerseits, welche die nationalen Grundlagen des moskowitischen Reichs den tatarischen und byzantinischen Einflüssen, die sich im 17. Jahrh. geltend machten, gegenüber aufrecht erhalten wollten, und als modern radikale Reformer, welche nicht bloß das Dogma, sondern mehr noch die staatliche und soziale Ordnung selbst anfochten.
Den ersten Grund zur Trennung von der herrschenden Kirche gab 1654 eine Revision der Gesang- und Gebetbücher der russisch-griechischen Kirche durch den Patriarchen Nikon zu Moskau. [* 3] Viele nahmen an dieser Reform Anstoß und sagten sich 1666 als Altgläubige (Starowertzi) von der herrschenden russischen Kirche los; in Peter d. Gr. sahen sie den Antichrist. Seitdem haben sich die Abtrünnigen ins Unglaubliche vermehrt. Keine andre Kirche hat so zahlreiche Sekten erzeugt wie die russische; jede Sekte spaltete sich bald, die neuen Sekten teilten sich wieder.
Die
Ursache der unaufhörlichen Sektenbildung liegt in den politischen und sozialen
Schäden des russischen
Reichs. Die Raskolniken
rekrutieren
sich daher meist aus den thatkräftigsten und opferwilligsten, vielfach allerdings auch aus den unbändigsten
und gewaltthätigsten
Elementen der
Bevölkerung.
[* 4] Zu den gefährlichste unter den
Sekten gehören: die seit etwa 1800 aufgetretenen
Morelschiki (»die sich selbst Aufopfernden«),
welche den Selbstmord, indem sie einzeln oder in größerer Zahl den Feuertod (Feuertaufe) durch Anzünden eines Hauses erwählen, als eine Gott wohlgefällige Handlung preisen;
die erst seit 40 Jahren bekannten, ruhelos umherziehenden Stranniki (»Pilger«),
welche alle politische, sittliche und religiöse Ordnung für ein Werk des Satans halten;
die berüchtigten Skopzen (s. d.),
welche die Kastration für ein religiöses Gebot halten;
die Chlistowtschini (»die sich Geißelnden«),
die bei ihren Gottesdiensten hintereinander herspringen und sich gegenseitig so lange geißeln, bis sie ¶
mehr
umsinken oder in Krämpfe verfallen; ähnlich die Begonny oder Tänzer. Harmloser Art sind außer den sehr zahlreichen Starobradzen, welche nur die von der griechischen Kirche geweihten Priester nicht anerkennen, und den Jedinowertzen (»Glaubensgenossen«),
welche sich mit der Staatskirche so gut wie ausgesöhnt haben und sich von derselben nur durch Äußerlichkeiten, wie abweichende Aussprache des Namens Jesus (dreisilbig), eine andre Form des Kreuzschlagens, durch Verbot des Tabakrauchens, Kaffee- und Theetrinkens etc. unterscheiden, die jetzt in Russisch-Armenien angesiedelten Duchoborzen (s. d.) und Molokanen (Malakanen, »Milchesser«),
die zwar auch das Priesteramt, die Sakramente etc. sowie die Heiligenanrufungen verwerfen, nur die Bibel [* 6] anerkennen und als Chiliasten bei Napoleons I. Anrücken den Anbruch des Tausendjährigen Reichs erwarteten, im übrigen aber fleißige und ordentliche Leute sind. Ganze Gemeinden von Molokanen leben in durchgeführter Gütergemeinschaft. Ebenso arbeitsam und auf ein thätiges Christentum gerichtet sind die für Gütergemeinschaft und allgemeines Priestertum begeisterten, seit 1863 in Rußland eingedrungenen Stundisten und die von der Idee der Bruderschaft aller Menschen ausgehenden, Handel und Geldverkehr, aber auch alle Fleischspeisen und geistigen Getränke verwerfenden geistlichen Brüder (Schaloputen).
Noch andre Sekten sind: die Pomoranen (»Seeküstenbewohner«),
die Schtschelniken, welche beim Gebet nach einer Spalte, durch die das Licht [* 7] einfällt, blicken, die Maslowzen etc. Die Zahl sämtlicher ist äußerst schwer zu bestimmen, weil die meisten ihren Glauben verheimlichen. Offiziell wurden 1870 im europäischen Rußland 997,600 und im asiatischen Rußland 173,400 angegeben, dagegen wird von Kundigen die wirkliche Zahl derselben auf 12 Mill., also mehr als den zehnten Teil der Bevölkerung des Reichs, veranschlagt. Die russische Regierung ging gegen Fanatiker, wie die Skopzen (s. oben), vielfach selbst noch gegen die harmlosen Stundisten energisch, zeitweise sogar grausam vor.
Wohl sichern die russischen Staatsgrundgesetze auch den Raskolniken
Glaubensfreiheit, aber im Widerspruch damit verbieten ihnen andre
Bestimmungen, Kirchen und Kapellen zu erbauen oder zu erneuern. Auch ist ihnen jede äußerliche Kundgebung
ihres Glaubens untersagt. Dazu wurden dem »Abtrünnigen« die Verwaltung seines Vermögens, das Recht, über die Erziehung seiner
Kinder zu verfügen, u. dgl. entzogen. Sind
auch diese Bestimmungen im praktischen Leben jetzt größtenteils nur toter Buchstabe, so haben doch nicht selten ganze Dörfer,
die nach der Methode der Dragonaden der orthodoxen Kirche zurückgebracht werden sollten, ihre ganze grausame
Strenge an sich erprobt, und dem Raskolniken
, der nicht auf jegliche äußerliche Bethätigung seines Glaubens verzichten wollte,
blieb nichts übrig, als fortwährend das Gesetz zu übertreten und abzuwarten, ob er, je nach Laune der Beamten, nach Zeitverhältnissen
und Instruktionen, verurteilt ward oder unbeachtet blieb.
Unter Alexander II. hat die Gesetzgebung einen wichtigen Schritt nach vorwärts gethan: das unterm allerhöchst bestätigte
Reichsgutachten, betreffend »die Regeln über die Zivilstandsregister für Ehen, Geburten und Todesfälle der Raskolniken«
, erkennt eine
von Sektierern geschlossene Ehe als gesetzlich an, wenn sie bei den hierzu verordneten Zivilstandsregistern
angemeldet wurde. Seitdem hat man auch eine Regelung ihrer anderweitigen Rechte und Pflichten, ihres Gottesdienstes etc. (wobei
man jedoch einen
strengen Unterschied zwischen den schädlichen und unschädlichen Sekten macht) ins Auge
[* 8] gefaßt.
Gleichwohl sind die Maßregeln der Regierung den Raskolniken
gegenüber fortdauernd schwankend und unbestimmt geblieben, weil ihr die
unbeugsame sittliche Macht, gegen welche sie den Kampf aufgenommen hatte, unbekannt blieb. Der Protest der Raskolniken
gilt dem ganzen
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zerfall. Seit 1880 trat ein Bauer mit Namen Basil Soutaiew als Sektenstifter auf, eine
großartige Organisation der christlichen Liebesthätigkeit in sozialistischen Sinn anstrebend. An ihn schloß sich der
Schriftsteller Graf Tolstoi an, während die rein religiöse Bewegung eines andern Mitglieds der hohen Gesellschaft, Pachkow,
weil sie des sozialistischen Prinzips entbehrte, keinen Erfolg hatte.
Vgl. Makarij, Geschichte des russischen Raskols (russ., Petersb. 1855);
Schtschagow, Der russische Raskolnik (Kasan [* 9] 1859);
»Le [* 10] Raskol, essai historique« (Par. 1859);
Libanow, Sektierer und Strafgefangene (russ., Petersb. 1872-1873, 4 Bde.);
Juzow, Die russischen Dissidenten (russ., das. 1881);
Gerbel, Russische [* 11] Sektierer (Heilbronn [* 12] 1883, mit Litteraturangaben);
Tsakni, La Russie sectaire (Par. 1888).
Von Interesse zur Kenntnis der Raskolniken
sind die kulturgeschichtlichen Romane von Melnikow (s. d.).