(spr. -ssihn), 1)
Jean de, der größte franz. Tragiker, geb. zu
La
Ferté-Milon im
DepartementAisne, erhielt, früh verwaist, seine
Erziehung in dem von Jansenisten geleiteten
Port-Royal und ward durch Lemaistre de
Sacy und namentlich durch den
HellenistenLancelot in das
Studium der klassischen, besonders
der griechischen Litteratur eingeführt. Nachdem er im
CollègeHarcourt zu
Paris
[* 2] seine
Studien vollendet hatte, wandte er sich
ausschließlich der schönen Litteratur zu. Eine
Ode auf die Vermählung
Ludwigs XIV.: »Les nymphes de
la Seine« (1660),
trug ihm eine
Pension von 600
Livres ein, ebensoviel eine zweite
Ode auf
Ludwig XIV.: »La renommée aux muses«
(1663),
dazu die Bekanntschaft mit
Molière und Boileau, die für seine weitere
Entwickelung von großem Vorteil war. Auf
MolièresRat vernichtete Racine sein erstes
Trauerspiel: »Théagène et Chariclée«, und dichtete dagegen »La
Thébaïde, ou les frères ennemis«, die 1664 mit Beifall aufgeführt wurde. In dieser
Tragödie sowohl als im
»Alexandre«
(1665) zeigte er sich noch als Nachahmer
Corneilles, wogegen er in der »Andromaque« (1667) die fremden
Fesseln abwarf. Die
innern
Kämpfe undWidersprüche der
Leidenschaft, in deren
DarstellungRacines Eigentümlichkeit besteht,
sind in dieser
Tragödie, die großen Beifall fand, zum erstenmal mit
Wahrheit und seltener
Kraft
[* 3] entwickelt. 1668 entstand
sein mit nur geringem Beifall aufgenommenes einziges
Lustspiel: »Les plaideurs«, eine geistreiche
Nachbildung der
»Wespen« des
Aristophanes. Der darauf folgende
»Britannicus« (1669)
¶
mehr
wurde trotz der meisterhaften Zeichnung der Charaktere kalt aufgenommen; dagegen gefiel das idyllische Trauerspiel »Bérénice«
(1670) durch zarte Gemütlichkeit und einen Reiz der Sprache,
[* 5] der von keinem andern französischen Dichter erreicht worden
ist. Nachlässiger ist »Bajazet« (1672) gearbeitet, doch sprach die Neuheit des Gegenstandes an. »Mithridate« (1673) kann,
was Charakterzeichnung und die Darstellung der geistigen Physiognomie der Zeit betrifft, neben »Britannicus«
gestellt werden.
Die darauf folgende »Iphigénie« (1674) gilt bei den Franzosen für das Meisterwerk der dramatischen Poesie, doch leidet sie
zu sehr unter dem Kontrast der französischen Sitte und des antiken Süjets, als daß wir dem Urteil beistimmen könnten;
dagegen gebührt der »Phèdre« (1677), dem lebenswahren und furchtbaren
Gemälde der Leidenschaft, unbedingte Anerkennung. Da das Stück aber von Racines Feinden dem gleichnamigen ganz mittelmäßigen
Stück von Pradon nachgestellt wurde, entschloß sich der Dichter, dem Theater
[* 6] fortan ganz zu entsagen.
Bereits seit 1673 Mitglied der Akademie, vermählte er sich 1677 mit der frommen Catherine Romanet aus
Amiens
[* 7] und ergab sich nun gänzlich seiner Neigung zur Frömmigkeit. In dieser Stimmung schrieb er später, nur auf die dringenden
Bitten der Frau v. Maintenon, noch zwei religiöse Stücke: »Esther« (1689) und »Athalie« (1691), beide den Fräulein von St.-Cyr
gewidmet, das erstere ziemlich schwach, das andre eine der schönsten Zierden des französischen Theaters,
aber von dem Hof
[* 8] und den Jesuiten verworfen. Ludwig XIV., der Racine zu seinem Historiographen und Kammerjunker ernannt hatte, war
ihm lange Zeit sehr gewogen; doch fiel der Dichter infolge einer Schrift über das Elend des mit Abgaben überladenen Volkes
bei ihm in Ungnade und starb kurze Zeit darauf, in Paris.
In demLebenRacines spiegelt sich zugleich seine Poesie. Wie er als Welt- und Hofmann dem Geschmack des Hofs oft auf bedenkliche
und servile Weise huldigte, so wußte er auch die dramatischen Kunstregeln dem herrschenden französischen Geschmack
anzupassen. Innerhalb dieser engen Schranken leistete er das Mögliche. Regelmäßigkeit erschien ihm als die Hauptaufgabe
des tragischen Dichters. Daher vermied er sorgsam jeden Verstoß gegen die Praxis der französischen klassischen Kunst.
Den griechischen Tragikern näherte er sich durch Einfachheit der Komposition, streng beobachtete Einheit des Ortes und der
Zeit und durch Würde der Sprache. Seine Helden und Heldinnen wählte er mit Vorliebe aus der griechischen
und römischen Geschichte. Die Liebe und das weibliche Herz vermochte kein andrer Dichter seines Vaterlandes so rein und wahr
zu schildern wie er. Doch eben dieses Bestreben, durch Darstellung derSchwächen des menschlichen Herzens zu
rühren, entzog seinen Charakteren oft Kraft und Haltung.
Mit einer nicht reichen, aber sehr beweglichen Phantasie begabt, wußte er in jedem dramatischen Stoff das hervorzuheben, was
dem Geschmack seiner Zeit zusagte, und selbst einen unbedeutenden Stoff durch seine Behandlung zu heben. Durch Eleganz der Sprache
und Versifikation steigerte er denEffekt seiner Trauerspiele. Der Alexandriner, den er nach den Regeln der
französischen Dramaturgik für seine Tragödien wählte, ließ in seiner vollendeten Form kaum etwas zu wünschen übrig.
Von geringerer Bedeutung als seine dramatischen Werke sind Racines lyrische Gedichte und Epigramme, die sich eigentlich nur
durch die Eleganz der Sprache auszeichnen; besser gelangen ihm geistliche Oden. In seiner Prosa war Racine
natürlich
und korrekt. Unter den Reden, die er in der Akademie hielt, ist die auf seinen Nebenbuhler Corneille, dessen Verdiensten er durchaus
gerecht wird, klassisch. Schöne Zeugnisse für seine Denkart und seinen Geschmack geben seine Briefe an Boileau und an
seinen Sohn.
Außerdem sind noch zu erwähnen seine »Histoire du Port-Royal« und seine »Lettres à l'auteur des hérésies imaginaires« (1666).
Von den zahlreichen Ausgaben seiner »Œuvres complètes« ist die vorzüglichste die von Mesnard (1865-73, 8 Bde.),
daneben die von Aimé Martin (5. Aufl. 1844, 6 Bde.);
seine dramatischen und poetischen Werke erschienen in der sogen. Louvre-Ausgabe (1801-1805, 3 Foliobände
mit Kupfern), von Geoffroy (mit Kommentar, 1808, 7 Bde.), von Saint-Marc Girardin und Moland (1871-79, 8 Bde.). Vollständige
deutsche Übersetzungen gaben Viehoff (Berl. 1869, 4 Bde.) und
Welti (Stuttg. 1886 ff., 4 Bde.),
eine Auswahl Laun (Hildburgh. 1869).
2) Louis de, franz. Dichter, zweiter Sohn des vorigen, geb. zu
Paris, erhielt nach des VatersTode durch Rollin seine wissenschaftliche Ausbildung, studierte die Rechte, wurde
aber dann Geistlicher. In spätern Jahren nach Paris zurückgekehrt, starb er daselbst. Racine glänzte in einer sittenlosen
Zeit als Muster religiöser und bürgerlicher Tugenden. Seine berühmten didaktischen Gedichte: »De la grâce« (1720) und »La
religion« (1746) zeichnen sich mehr durch religiöse als poetische Wärme
[* 10] aus. Seine Oden und Episteln sind
ernst und würdig gehalten; die Sprache ist elegant, doch ohne echt poetischen Schwung. Die »Mémoires sur la vie deJeanRacine« (Par.
1747, 2 Bde.) sind interessanter als die oberflächlichen und
unbedeutenden »Remarques sur les tragédies de JeanRacine« (3 Bde.). Seine Werke erschienen
Paris 1808 in 6 Bänden.