Rachegöttinnen
16 Wörter, 129 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Rachegöttinnen,
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Rachegöttinnen,
sowiel wie Erinnyen (s. d.).
[* 2] (Erinyen, Eumeniden, lat. Furien),
die Rachegöttinnen der Alten, die »Zürnenden«, ursprünglich vielleicht Gewittergöttinnen. Die Dreizahl erscheint erst bei Spätern; die Namen Alekto (die nie Rastende), Tisiphone (die Rächerin des Mordes), Megära (die Verargende) kommen erst bei den alexandrinischen Dichtern vor. Nach Hesiod entstanden die Erinnyen aus den Blutstropfen, welche aus den von Kronos seinem Vater abgeschnittenen Geschlechtsteilen zur Erde fielen. Äschylos nennt sie Töchter der Nacht, Sophokles des Skotos (Dunkels) und der Gäa.
Als die unerbittlichen Verfolgerinnen jeglicher Verletzung der von der Natur geheiligten Bande des Bluts, namentlich des Verwandtenmordes, haben sie ihre weitere Ausbildung besonders bei den Tragikern erhalten, von denen sie zuerst Äschylos in seinen »Eumeniden« als Chor auf die Bühne brachte und damit die ergreifendste Wirkung erzielte. Äschylos' Schilderung der Unholdinnen blieb der Grundtypus für die spätern Darstellungen; auf sie gründet sich auch die herrliche Beschreibung in Schillers »Kranichen des Ibykus«.
Sie wohnen unterirdisch als uralte, vampirartige Jungfrauen, zu denen nie ein Wesen sich gesellte, haben Krallen an den Händen, blutige Augen etc. Sinnverwirrend, Wahnsinn einhauchend, verfolgen sie den Frevler wie Hunde [* 6] ein gehetztes Wild und singen ihm den schaurigen Erinnyengesang, der ihn mit fesselnden Banden umschlingt. Aber unerweichbar sind die furchtbaren Göttinnen nicht; wenn der Sünder gebüßt hat und von seiner Schuld gereinigt ist, lassen sie von seiner Verfolgung ab. So nach Äschylos.
Übrigens hatten die Erinnyen schon dadurch, daß sie dem Verbrecher furchtbar waren, Obhut über alles Sittliche und Gute, und auch ohne die ausdrückliche Nachricht, daß sie auch Gottheiten des Segens gewesen, muß man diese Lichtseite an ihnen herausfinden. Da aber diese ihre Geltung sich nicht überall behauptet hatte, konnte es geschehen, daß bei Dichtern (wie Äschylos) eine Wandlung zum Freundlichen erst an die Geschichte des Orestes (s. d.) angeknüpft wurde. Gleichwohl scheint die Benennung derselben als Eumeniden (die »Wohlwollenden«) nur auf eine euphemistische Scheu vor ihrem gewöhnlichen Namen zurückzuführen. Bemerkenswert ist, daß später die gorgonenhaften Schreckgestalten der Äschyleischen Tragödie, welche ähnlich auf Vasenbildern [* 2] (Fig. 1) des ältern Stils vorkommen, dem Schönheitssinn der Athener nicht mehr entsprachen, weshalb die Erinnyen nach Perikles' Zeit auf dem Theater [* 7] als ernste Jungfrauen erschienen, im reich geschmückten Kostüm [* 8] von Jägerinnen, um das Haupthaar ein Band [* 9] von Schlangen [* 10] und Fackeln, Geißeln oder Schlangen in den Händen [* 2] (Fig. 2). Um ihre Schnelligkeit anzudeuten, versah man sie wohl auch mit Flügeln an den Schultern. So finden sie sich in Darstellungen der Unterwelt auf Vasen, [* 11] etruskischen Sarkophagen und Wandgemälden. Genannt werden uns Bildsäulen der Erinnyen von Kalamis und Skopas. In Athen [* 12] hatten sie ein Hei-
[* 2] ^[Abb.: Fig. 1. Erinnye, den Peirithoos in der Unterwelt bindend (Vasenbild).
[* 2] Fig. 2. Sisyphos, den Stein wälzend, und eine Erinnye (Vase aus Canosa, in München).] [* 13] ¶
ligtum am Areshügel an der der Akropolis [* 15] zugekehrten Seite; ein andres war der heilige Hain zu Kolonos, in der Nähe der Stadt, bekannt als letzte Zufluchtsstätte des Ödipus. Vorsteher ihres Kultus waren die Areopagiten, wie sich die Auffassung ihres Wesens als Eumeniden oder Semnai (»Ehrwürdige«) bei Äschylos speziell an die Stiftung des Areopags in Athen knüpft, welcher Gerichtshof durch mildere Satzungen die vorher herrschende Sitte der Blutrache verdrängte.
Die Opfer, in schwarzen Schafen bestehend, wurden zuweilen des Nachts dargebracht, beim Schein von Fackeln, die dann sowie das Blut der Opfertiere ein im Heiligtum befindlicher Abgrund aufnahm. Auch hatten die Erinnyen in Athen ein jährliches Fest, an welchem ihnen Trankopfer von Wein und Honig dargebracht wurden. In Arkadien war Erinnye ein Beiname der Demeter, [* 16] welche sich, als sie von Poseidon [* 17] überfallen wurde, in eine solche verwandelt und das Roß Arion geboren haben sollte.
Die Furien (Dirae deae) der römischen Dichter sind eine Übertragung der griechischen Erinnyen. Sie werden gewöhnlich als quälende Wächterinnen der Verbrecher in die Unterwelt versetzt, erscheinen aber bisweilen auf der Oberwelt, um den Menschen Wahnsinn und Mordgedanken einzuflößen.
Vgl. Böttiger, Furienmaske (Weim. 1801);
O. Müller: Äschylus' Eumeniden (Götting. 1833);
Kuhn in der »Zeitschrift für deutsches Altertum« (Bd. 1, S. 439-470);
Rosenberg, Die Erinnyen (Berl. 1874), welche Schrift auch Zusammenfassendes über die Darstellung der Erinnyen auf den antiken Kunstdenkmälern enthält.