Psychose
(griech.), s. Geisteskrankheiten. ^[= (Seelenstörungen, Gemütskrankheiten, Psychosen, psychische Krankheiten), diejenigen Krankheiten, ...]
Psychose
34 Wörter, 278 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Psychose
(griech.), s. Geisteskrankheiten. ^[= (Seelenstörungen, Gemütskrankheiten, Psychosen, psychische Krankheiten), diejenigen Krankheiten, ...]
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Psychose
(grch.), Bezeichnung für die Geistesstörungen, die von längerer Dauer sind und bei denen sich bestimmte ursächliche Hirnveränderungen bisher nicht haben auffinden lassen, wo also scheinbar die Psyche selbständig leidet.
(Seelenstörungen, Gemütskrankheiten, Psychosen, psychische Krankheiten), diejenigen Krankheiten, welche sich durch Störungen im Gebiet der Sinneseindrücke, des Vorstellens, Wollens oder Handelns kundgeben. Da alle Thätigkeiten, welche man vom philosophischen Gesichtspunkt aus dem »Geist« oder der »Seele« zuschreibt, von dem Zentralorgan des Nervensystems und speziell von der grauen Substanz der Großhirnhemisphären geleistet werden, so müssen wir auch die krankhaften Abweichungen dieser Verrichtungen von der Norm als Symptome dafür betrachten, daß die genannten Zentralstellen des Gehirns krankhafte Veränderungen erfahren haben.
Bei einem Teil der Geisteskrankheiten werden diese anatomischen Veränderungen so bedeutend, daß man schon mit bloßem Auge, [* 4] z. B. an den verdickten Gehirnhäuten eines Alkoholtrinkers oder an der geschrumpften Hirnsubstanz eines an paralytischer Geisteskrankheit Verstorbenen, mit Sicherheit Rückschlüsse auf diejenigen Krankheitserscheinungen machen kann, welche bei Lebzeiten an diesen Kranken beobachtet wurden. In andern Fällen führt erst eine feine mikroskopische Untersuchung zur Erkenntnis von Strukturveränderungen in diesem überaus komplizierten Organ; in einer dritten Reihe von Geisteskrankheiten, sowohl solchen, welche durch eine gesteigerte Erregung (Tobsucht, Epilepsie), als auch solchen, welche durch Depression [* 5] ausgezeichnet waren, wie Hypochondrie, ¶
Melancholie, war es bislang nicht möglich, bestimmte materielle Anomalien nachzuweisen. Dennoch ist es unzweifelhaft, daß die Geisteskrankheiten auf krankhaften Veränderungen des Gehirns beruhen, mithin Gehirnleiden sind, ebenso wie die schmerzhaften Neuralgien durch Veränderungen der Nervenfasern bedingt werden, obwohl diese Veränderungen in beiden Fällen erst dann anatomisch nachzuweisen sind, wenn die nervöse Substanz bereits zerfallen und zu Grunde gegangen ist.
Die Einteilung der Geisteskrankheiten ist demnach bis jetzt auf anatomischer Grundlage nicht zu machen. Die Gesetzgebungen haben seit den ältesten Zeiten die Geisteskrankheit nahezu als eine Einheit angesehen, das römische Recht nennt dieselbe Dementia und unterscheidet unter den Kranken nur die Mente capti (Wahnsinnigen im allgemeinen Sinn) und die Furiosi (Rasenden). Fast alle deutschen Gesetzbücher sowie der Code civil haben mit wenigen Modifikationen die in Wahnsinn, Raserei und Blödsinn unterschieden, während das preußische Strafgesetz (1851) überhaupt nur die Unterarten des Wahnsinns und Blödsinns gelten läßt.
Die vielen Schwierigkeiten, welche sich in der Praxis daraus ergeben, daß eine Fülle höchst verschiedener Störungen in der Sphäre der Vorstellung oder des Handelns formell als Einheit betrachtet werden müssen, sind im § 51 des deutschen Strafgesetzbuchs dadurch umgangen worden, daß für die forensische Frage der Zurechnungsfähigkeit fortab entscheidend ist, ob die freie Willensbestimmung als vorhanden oder als ausgeschlossen zu betrachten ist. Im Sinn des Gesetzes ist der Name der Geisteskrankheit also gleichbedeutend mit krankhafter Unfreiheit der Willensbestimmung.
Auf wissenschaftlicher Grundlage ist eine Einteilung der Geisteskrankheiten nur möglich, wenn man von der Erfahrung ausgeht, daß eine verhältnismäßig kleine Anzahl krankhafter Symptome beobachtet wird, welche sich einzeln oder in gewisser bestimmter Reihenfolge bei allen Geisteskranken wiederfindet. Diese Symptome heißen deshalb psychische Elementarstörungen oder elementare Anomalien. Dazu zählen hauptsächlich die folgenden:
1) Sinnestäuschungen oder Halluzinationen, welche zu den häufigsten Symptomen bei Geisteskrankheiten gehören und entweder in die Sphäre des Gesichts oder des Gehörs, seltener des Geruchs, Geschmacks oder Gefühls fallen. Wenn Halluzinationen im Bereich des Sehorgans bestehen, so glauben die Kranken Personen, Tiere oder Gegenstände zu sehen, welche nicht dasind, und an diese vermeintlichen Bilder knüpfen sich dann weitere Vorstellungen oder Impulse an, welche tausendfach verschieden sein können, aber alle auf das Hauptsymptom der Gesichtshalluzinationen zurückzuführen sind. Bei Gehörshalluzinationen sind es entweder einzelne Klänge oder Wörter, oder ganze Sätze, welche die Kranken zu hören glauben, und durch deren Inhalt sie in fromme (religiöser Wahn) oder heitere (Delirium), in traurige oder angsterfüllte Stimmung (Verfolgungswahn) versetzt werden.
2) Wahnvorstellungen, die Gesamtheit der verschiedenartigen irrigen Ideen und Kombinationen, welche aus den Sinnestäuschungen entstehen. Man hat sie mit Recht als besondere Gruppe der Elementarstörungen aufgeführt, jedoch ist es eine jetzt allseitig als irrig anerkannte Lehre, [* 7] daß eine oder die andre Wahnvorstellung bei manchen sonst ganz gesunden Personen auftreten könne und alsdann die Bedeutung einer selbständigen Geisteskrankheit (Monomanie oder fixe Idee) beanspruchen dürfe.
Manche Irrenärzte sind sogar noch weiter gegangen und haben solche Triebe, welche aus Halluzinationen und Wahnvorstellungen hervorgehen, als besondere Arten von Monomanien gedeutet, woraus die Namen Kleptomanie (Diebstahlstrieb), Pyromanie (Trieb zur Brandstiftung), Monomanie homicide (Selbstmordstrieb), Nympho- und Aidoiomanie (Geschlechtstrieb) entstanden sind; alle diese Namen sind veraltet und nur geeignet, Mißverständnisse zu erwecken, seit es mit Sicherheit erkannt ist, daß alle Personen, welche mit sogen. fixen Ideen behaftet sind, auch sonst nicht normale Individuen sind, sondern an einer wirklichen Geisteskrankheit (meist Epilepsie) leiden, von welcher die fixe Idee nur ein Symptom ist.
Eine fernere Art der Elementarstörungen gehört der Sphäre des Empfindens, dem Gemütsleben an: 3) die heitere Verstimmung, bei welcher die Personen mehr oder weniger andauernd in außerordentlicher Ausgelassenheit leben und einen Frohsinn an den Tag legen, der meist irgend einer eingebildeten Idee entspringt, dem gesunden Verstand eines Beobachters aber durchaus unmotiviert erscheint. Diese Anomalie [* 8] geht oft ganz unvermittelt über in 4) die traurige Verstimmung, bei welcher ein Alp auf den Kranken lastet und alles Denken und Fühlen von traurigen, sorgen- und kummervollen Ideen beherrscht wird.
Als Elementarstörungen, welche hauptsächlich dem Gebiet der Intelligenz angehören, gelten 5) die Ideenflucht, ein Zustand, bei welchem die Gedanken sich überstürzen, ein neuer auftaucht, bevor der erste ausgedacht und ausgesprochen ist, 6) die Urteilsschwäche und 7) die Gedächtnisschwäche. Beide letztere faßt man oft zusammen als Schwachsinn oder in den höchsten Graden als Blödsinn (stupor). Keine dieser aufgezählten wesentlichen sieben Gruppen elementarer psychischer Anomalien ist nun an und für sich eine Psychose, d. h. wirkliche Geisteskrankheit, ja es ist sogar keine einzige derselben ein sicheres Symptom, daß eine Geisteskrankheit dahinter stecken müsse.
Die ausgelassene Heiterkeit, in welche jemand durch den unverhofften Gewinn großer Reichtümer versetzt wird, kann in ihrer äußern Erscheinung ganz dem Gebaren eines tobsüchtigen Irren gleichen, der tiefe Seelenschmerz eines schwer geprüften, kummervollen Leidtragenden ist äußerlich nicht von dem Bild eines melancholischen Geisteskranken zu unterscheiden, die Sinnestäuschungen eines Trunkenen oder eines im Typhusfieber delirierenden Kranken werden sogar von Krankenwärtern und erfahrenen Laien nicht selten für Zeichen wahrer Geisteskrankheiten gehalten.
Nur die fortgesetzte Beobachtung der Symptome, durch welche sich ihre abnorme Dauer ergibt, durch welche sich für die Verstimmungen deren Grundlosigkeit, Ungereimtheit herausstellt, ferner die umsichtige Beachtung aller vorausgegangenen Ereignisse, Kenntnisnahme von der persönlichen und Familiengeschichte, körperliche Untersuchung etc. können dazu führen, aus den genannten elementaren Anomalien den Schluß auf eine vorhandene Geisteskrankheit zu machen.
Die Geisteskrankheiten selbst sind demnach Krankheitsbilder (psychologische Formen), in welchen einzelne der erwähnten Elementarstörungen in bestimmter typischer Weise aufeinander folgen oder nebeneinander bestehen oder in regelmäßigem Wechsel wiederkehren. Nur durch die Erfahrung sind so im Lauf der Zeit die scheinbar regellosen Symptome gruppiert und geordnet worden, und mit der Fülle der Beobachtungen und der Herausbildung der Psychiatrie als Spezialwissenschaft gewinnt diese Gruppierung noch täglich an Schärfe und Feinheit. Die vielen populären Fremdwörter sind dem ¶
Eingeweihten Marksteine wertvoller Arbeiten; der französische oder englische Name ist erhalten worden, weil er bezeichnend ist oft für eine Theorie oder ein ganzes System; für den Laien aber wird es ganz unmöglich, selbst mit Hilfe des Lexikons Bezeichnungen wie Folie raisonnante, Aliénation, Moral insanity, Dementia, Monomanie de grandeur avec paralysie ohne detaillierte Kenntnis der in ihren Unterschieden zu begreifen. Eins der bestgekannten und am meisten typischen der Krankheitsbilder ist die paralytische Geisteskrankheit oder chronische Paralyse der Irren.
Sie befällt meist Männer der mittlern Lebensjahre, beginnt mit Wahnvorstellungen über eingebildeten Reichtum, hohe Abstammung oder unglaubliche Gaben und Fähigkeiten (Größenwahn), führt dann durch ein Stadium krankhafter Verstimmung zu allmählichem Verfall der geistigen Kräfte, Lähmung der Pupillen, schwankendem Gang [* 10] und endet unter dem Bild fortschreitenden Blödsinns mit dem Tod. Außerordentlich wechselvoll ist das Bild der epileptischen Geisteskrankheiten; hier treten oft die verschiedenen Elementarstörungen in regelmäßigem Wechsel ein, zuweilen wird eine derselben durch eine andre ersetzt, es liegen oft lange freie Intervalle (lucida intervalla) dazwischen, und gerade diese Form der Geisteskrankheiten ist es, welche außerordentlich häufig die Gerichte beschäftigt, wenn es sich darum handelt, ob ein Verbrecher zur Zeit der That zurechnungsfähig gewesen sei oder nicht.
Ein drittes Bild der Geisteskrankheiten ist die Verrücktheit, auch primäre Verrücktheit (im Gegensatz zu einer von Griesinger angenommenen sekundären Verrücktheit), welche besonders charakterisiert ist durch halluzinatorische Störungen (Größen- und Verfolgungswahn) mit psychischer Schwäche, welche oft auf Grund erblicher Belastung, Verletzungen und Krankheiten des Gehirns im kindlichen Alter, Anlage zum Blödsinn bei sogen. invaliden Gehirnen (Schüle) sich entwickelt.
Meist werden junge Männer von 18-22 Jahren oder Frauen zwischen 40 und 50 Jahren, also in der klimakterischen Periode, befallen. Heilungen nach ca. sechs Monaten sind höchst selten, die Dauer dieser Geisteskrankheit währt zuweilen jahrzehntelang. Außerordentlich verwickelt und mannigfaltig ist der Komplex von Symptomen, welcher die Demenz oder Geistesschwäche (s. d.) ausmacht. Als Gemütskrankheiten im engern Sinn bezeichnet man die Manie, welche durch exaltierte, tobende, zornige Wahnideen charakterisiert ist, während bei der Melancholie der Inhalt der Wahnideen ein depressiver, tieftrauriger ist.
Bei beiden Geisteskrankheiten fehlen Halluzinationen, sie gehen häufiger nach mehrmonatlicher Dauer in Heilung über. Die Melancholie befällt meist Personen zwischen 17 und 25 Jahren oder alte Leute; die Kranken klagen sich der unwürdigsten Handlungen an, leiden unter dauernder Angst (s. d.), verweigern zuweilen die Nahrung (Abstinenz) und sind zum Selbstmord geneigt; endlich verfallen auch diese Kranken dem Schwachsinn. Zuweilen wechselt das Bild der Manie mit dem der Melancholie rhythmisch ab, und so entsteht das zirkuläre Irresein (Folie circulaire von Falret; Folie à double forme von Baillarger). Diese Geisteskrankheit befällt ohne Unterschied des Alters und Geschlechts meist kräftige Personen, sie hat freie Intervalle von längerer Dauer, ist aber unheilbar.
Die Ursachen der Geisteskrankheiten lassen sich in zwei große Gruppen, die angeerbten und die erworbenen, zusammenfassen. Nicht nur diejenigen krankhaften Bildungen von Schädel und Gehirn, [* 11] welche wir bei Kretins und Mikrokephalen antreffen, kommen in gewissen Bezirken oder Familien als Hinterlassenschaft geisteskranker Ahnen vor, sondern jede Art der anomalen Gehirnanlage, welche als Epilepsie, als Schwermut oder primäre Verrücktheit, als paralytische Geisteskrankheit oder Schwachsinn zum Ausdruck kommt, schließt die Gefahr einer Vererbung auf die Nachkommen in sich. Dazu kommen Heiraten unter Blutsverwandten, Abstammung von Gewohnheitstrinkern, welche nicht selten in der Deszendenz zu Geisteskrankheiten übergehen.
Die erworbenen Geisteskrankheiten entstehen teils aus örtlichen Krankheiten des Gehirns und seiner Häute durch Verletzungen, chronische Entzündungen, Altersschwund, teils entwickeln sie sich aus allgemeinen Leiden, [* 12] aus Typhus, Wechselfieber, Syphilis, bei Trunksucht, nach Erkrankungen der Geschlechtssphäre etc.; zuweilen sind Neurosen, Hysterie oder Überanstrengung des Gehirns, rastloses Arbeiten, zuweilen heftige Seeleneindrücke als Ursache, mindestens aber als Veranlassung zum Ausbruch einer vielleicht im Keim schlummernden Geistesstörung anzusprechen.
Die Statistik der Geisteskrankheiten weist im allgemeinen eine Zunahme gegen frühere Zeiten nach, doch sind die ältern Angaben sehr ungenau und die neuen nicht lange genug einheitlich zusammengestellt, um über die Ursachen dieser Erscheinung Schlüsse zuzulassen. In Preußen [* 13] kamen auf 10,000 Einw. 1871: 23 männliche, 22 weibliche Geisteskranke und 1880: 25 männliche, 23 weibliche. Es kamen 1880 auf 10,000 evang. Einwohner 24,1, auf katholische 23,7, auf jüdische 38,9 Geisteskranke. Es waren unter 10,000 Personen 1880:
32.2 | ledige männliche, | 29.3 | weibliche Geisteskranke, |
9.5 | verheiratete " | 9.5 | " " |
32.1 | verwitwete " | 25.6 | " " |
107.5 | geschiedene " | 103.0 | " " |
Nach einer Statistik von Lunier, welche das Verhältnis der in Frankreich vom J. 1831 bis 1876 umfaßt, ist die Zahl der Geisteskranken in dieser Zeit um das Fünffache gestiegen; doch ist dabei zu bedenken, daß in jüngster Zeit viel mehr Personen als geisteskrank erkannt werden, welche früher als Verbrecher behandelt wurden oder frei umhergingen, und ferner, daß durch die sorgfältigere Behandlung die Lebensdauer der Kranken beträchtlich verlängert wird.
Die Behandlung der Geisteskrankheiten darf durchaus nicht darauf gerichtet sein, den Kranken durch Zureden oder logische Beweise das Ungereimte ihrer Ideen klarmachen zu wollen, da dieses Verfahren absolut nutzlos ist. Warme Bäder, geeignete körperliche Pflege, zuweilen Arzneimittel bilden die Grundlage der Behandlung; diese selbst sollte aber soviel wie möglich in einer darauf eingerichteten Anstalt erfolgen. Daß die Geisteskranken den Irrenanstalten übergeben werden, ist eine Notwendigkeit, welcher häufig von den Verwandten viel zu spät Rechnung getragen wird.
Bis jetzt geschah dies aber in nicht wenig Fällen deshalb, weil man die Irrenanstalt fürchtete und in ihr ein Gefängnis vermutete, in welches man seine Angehörigen nur mit Zagen brachte. Mit der Abschaffung des Zwanges durch Conolly, welcher auch die Zwangsjacken aus der Irrenbehandlung verbannte (Non-restraint-System), haben auch die Anstalten selbst ein ganz andres Ansehen gewonnen: alles Gefängnisartige hat man abgeschafft, das Innere ist freundlicher und bequemer für die Kranken eingerichtet, so daß, abgesehen von dem Verschlossensein der Thüren, die Irrenanstalt sich nicht viel von einem andern Krankenhaus [* 14] unterscheidet. Dadurch ist das Vertrauen des Publikums in hohem Maß gestiegen; die Kranken werden ruhiger und vor allem zeitiger nach der Irrenanstalt gebracht und können ¶