Psychologie
(grch.,
d. i. Seelenlehre), die Wissenschaft von den Gesetzen des seelischen (psychischen) Lebens.
Ihr Objekt sind die
Thatsachen der innern Erfahrung, unsere
Gedanken, Gefühle, Entschlüsse u. s. w. Als Erfahrungswissenschaft
(empirische Psychologie
) hat die Psychologie in
Vergleich mit andern Gebieten der Forschung mit eigentümlichen Schwierigkeiten
zu kämpfen.
Ihre einzige unmittelbare
Quelle
[* 2] ist die Selbstbeobachtung; was die
Beobachtung anderer lehrt, bedarf schon einer
Deutung mit Hilfe dessen, was der Beobachtende in sich selbst wahrgenommen hat, und dasselbe gilt von allen geschichtlichen
Überlieferungen sowie auch vom seelischen Leben der
Tiere.
Die geistigen Regungen bleiben niemals für den Beobachtenden vollkommen gleich, denn sie sind fortwährend in Umwandlungen
begriffen. Jede absichtliche Selbstbeobachtung unterbricht und stört die Gemütslage, die beobachtet werden soll. Nimmt
man dazu, daß die innern
Beobachtungen nicht in der
Weise wie die äußern zu kontrollieren sind, da jeder
unmittelbar nur sein eigenes Innenleben erfahren kann, so ist
es nicht zu verwundern, wenn die Psychologie
länger
als andere Erfahrungswissenschaften sich mit allgemeinen
Abstraktionen und Klassifikationen beholfen und von jeher eine Neigung
gehabt hat, den psychischen
Thatbestand zu vernachlässigen und auf metaphysische
Theorien hinzueilen. Was die Methode der
Psychologie
anbelangt, so kann man neben der gewöhnlichen, auf
Erinnerung und zufällige
Beobachtung gegründeten
Methode eine physiologische, die nervösen Begleiterscheinungen der Bewußtseinserscheinungen erforschende, eine pathologische,
auf die
Beobachtung der krankhaften
Veränderungen des
Bewußtseins durch äußere oder innere
Ursachen gerichtete, und die experimentelle
Methode unterscheiden.
In den Anfängen der psychol. Wissenschaft bei den Griechen wurde das geistige Wesen dem körperlichen
noch nicht entgegengesetzt, sondern selbst als ein
Stoff von ätherischer Natur angenommen, den man zugleich als die
Lebenskraft
des Leibes betrachtete. Mit
Sokrates und
Plato begann die Erkenntnis der völligen Unvergleichlichkeit physischer und psychischer
Thatsachen und die Einsicht, daß es gegenüber dem Erfahrungsfelde der äußern
Sinne noch ein Feld der
Beobachtung innerer Erscheinungen gebe.
Aristoteles nahm drei verschiedene
Teile der Seele an, einen vegetativen, einen empfindenden
und einen denkenden. Während der letzte dem
Menschen eigentümlich sei, komme der zweite auch schon den
Tieren, der erste
den
Tieren nebst den
Pflanzen zu. Die
Vernunft sah
Aristoteles als etwas vom leiblichen Leben Unabhängiges
an. (Vgl.
Brentano, Die Psychologie
des
Aristoteles, Mainz
[* 3] 1867; Chaignet, Histoire de la psychologie
des Grecs, 5 Bde.,
Par. 1888-93.)
Das ganze Mittelalter hielt, obwohl nicht konsequent, an der
Auffassung des
Aristoteles fest und prägte namentlich den Gegensatz
zwischen Seele und leiblichem Leben, teilweise aus religiösen Motiven, zu einer principiellen Sonderung
aus. (Vgl.
Karl Werner, Der Entwicklungsgang der mittelalterlichen Psychologie
,
Wien
[* 4] 1876.) Ein neuer Eifer für die Psychologie
erwachte mit
dem Beginn der neuern
Philosophie. Bei der scharfen Sonderung zwischen Materie und
Geist in der Cartesianischen
Philosophie
beschäftigte die
Denker des 17. Jahrh. hauptsächlich die Frage nach dem ursächlichen
Zusammenhange zwischen Leib und Seele (s. Occasionalismus) und die Streitigkeiten über die
Freiheit oder Nichtfreiheit des
menschlichen Willens. (S.
Determination und
Freiheit.) Aber auch für eine genauere
Analyse der psychischen Erscheinungen geschahen
bedeutende Schritte. Descartes'
Schrift über die Leidenschaften («Les passions de l'âme»,
Amsterd. 1650) und die Behandlung desselben
Themas durch
Spinoza im dritten
Buche seiner Ethik waren bahnbrechend.
Dann stellte Locke in seiner empirischen Erkenntnistheorie die innere Erfahrung der äußern gegenüber. Daraus erst erwuchs
der wirkliche Anfang einer voraussetzungslosen Psychologie.
Während jedoch die schott.
Philosophen diesen Standpunkt der innern
Beobachtung einseitig annahmen, wurde die erklärende
Theorie durch
Hartley, Priestley und
Hume gefördert, die die Gesetze der Vorstellungsassociation festzustellen suchten, dabei jedoch hauptsächlich
auf die Abhängigkeit der seelischen Thätigkeiten von den Gehirnfunktionen aufmerksam machten. Dasselbe Bestreben führte
in
Frankreich teils zu dem Sensualismus eines Condillac und
Helvétius, teils zu dem Materialismus Lamettries und
dem
Système de la nature.
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mehr
Durch seine Monadologie wurde Leibniz zur Entdeckung der dunkeln oder unbewußten Vorstellungen geführt, wobei er das Bewußtsein als eine Thätigkeit der Verdeutlichung der Vorstellungen erkannte. Die Wolfsche Schule legte der Seele zwei Grundvermögen bei, ein theoretisches oder Erkenntnisvermögen und ein praktisches oder Begehrungsvermögen. Jedes derselben wurde in ein höheres, ausschließlich dem Menschen eigenes, und ein niederes, auch den Tieren zukommendes, eingeteilt.
Andere Wolfianer, namentlich Mendelssohn und Tetens, schoben zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen noch ein Gefühlsvermögen
als drittes Glied
[* 6] ein. So entstand im 18. Jahrh. auch in Deutschland
[* 7] eine Schule empirischer Psychologie
, aus der manche schätzbare
Arbeiten hervorgingen, wie die von Reimarus, Tetens, Platner, Tiedemann, Maaß, Moritz u. a. (Vgl. R. Sommer,
Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie
und Ästhetik, Würzb. 1892; M. Dessoir, Geschichte der neuern deutschen Psychologie
, Bd.
1, Berl. 1894.) Kants Erkenntnistheorie wurde für die Psychologie
dadurch folgenreich,
daß sie die Unmöglichkeit einer metaphysisch begründeten, sog. rationalen Psychologie
zu
erweisen suchte.
Zugleich aber warf er der empirischen Psychologie
vor, daß sie niemals zu einer Erkenntnis von der Evidenz der Naturwissenschaft
gelangen könne, weil sie der Anwendung der Mathematik und des Experiments unfähig sei. Diesem Mangel suchte Herbart abzuhelfen,
indem er alle Vorgänge in der Seele aus Kraftäußerungen der Vorstellungen ableitete, so daß alles,
was wir Seelenleben nennen, als ein mechanisch zu stande gekommenes geistiges Gebilde anzusehen ist. Auf diese Weise hat Herbart
die sog. Ideenassociation (s. d.), die Reproduktion der Vorstellungen, die Entstehung der Begierden u. s. w. zu erklären gesucht.
Dabei hat er, um einen exakten Ausdruck für die psychischen Gesetze zu finden, die Hilfsmittel der Rechnung
benutzt und so den Entwurf einer mathematischen Psychologie
begründet. Ein großes Verdienst erwarb er sich durch die scharfsinnige
Analyse des Ichbegriffs und die endgültige Beseitigung der für eine Theorie des geistigen Lebens unbrauchbaren Seelenvermögen.
Außer ihm hat F. E. Beneke eine psychol. Theorie auf Grundlage des Verhältnisses von Reizen und Anlagen
aufgestellt, ohne jedoch seiner Absicht einer rein empirischen, von jeder metaphysischen Betrachtung freien Wiedergabe des
innerlich Erfahrenen ganz gerecht zu werden. In einem starken Gegensatze zu diesen Bestrebungen steht die spekulative Psychologie
der
naturphilos. und der Hegelschen Schule.
Diese bestimmen das Wesen der Seele aus dem Verhältnis des Geistes oder der Ideenwelt zur Materie als der Erfahrungswelt überhaupt, wobei sie von dem Grundsatz ausgehen, daß alles Sein, auch das materielle, wesentlich geistiger Natur ist. Nach diesem Grundsatz gestaltet sich die Seele zum Übergangsglied zwischen Materie und Geist, und die Psychologie zu einer «Geschichte der Seele», d. h. zur Geschichte einer allmählichen Selbstbefreiung der geistigen Substanz aus den Fesseln, von denen sie in der unorganischen Natur umschlossen ist, zunächst zu organischen Trieben, hernach zu Empfindungen und Begehrungen, zuletzt zu intellektuellen Thätigkeiten.
In neuester Zeit hat sich in Anlehnung an die Physiologie der Sinnesorgane eine experimentelle Psychologie herausgebildet, die bemüht ist, die elementaren Thatsachen des Bewußtseins und deren gesetzmäßige Verknüpfung zu Komplexen oder Reihen mit Hilfe äußerer Bedingungen festzustellen. Dieser Bemühung ist zunächst die von Fechner begründete Psychophysik (s. d.) zu verdanken; mit ausgedehntern Hilfsmitteln hat Wundt die experimentelle Psychologie ausgebaut. Unabhängig von den Bestrebungen der Psychophysiker und gestützt auf die Beobachtung der sprachlichen Entwicklung des Kindes hat Steinthal die psychische Mechanik Herbarts neu begründet und zu einer umfassenden psychol.
Apperceptionslehre erweitert (s. Apperception). Derselbe Forscher hat, in Übereinstimmung mit Lazarus, der Individualpsychologie als der Wissenschaft von den an das Individuum gebundenen Bewußtseinsthatsachen die Völkerpsychologie (s. d.) oder psychische Anthropologie als die Wissenschaft von den durch die Gemeinschaft von Individuen hervorgebrachten geistigen Erzeugnissen (Sprache, [* 8] Sitte, Religion, Kunst u. s. w.) gegenübergestellt.
Litteratur. Auf der Grundlage der Seelenvermögenslehre ruhen: Tiedemann, Handbuch der Psychologie (hg. von Wachler, Lpz. 1804);
G. E. Schulze, Psychische Anthropologie (3. Aufl., Gött. 1826).
Der Richtung der Schellingschen Naturphilosophie folgen: H. von Schubert, Geschichte der Seele (2 Bde., Tüb. 1830; 5. Aufl., Stuttg. 1878);
Carus, Vorlesungen über Psychologie (Lpz. 1831);
ders., Psyche (Pforzh. 1846; 3. Aufl. 1860).
Die Psychologie der Hegelschen Schule geben: Rosenkranz, Psychologie (Königsb. 1837; 3. Aufl., Berl. 1863);
Michelet, Anthropologie und Psychologie (Berl. 1840);
Erdmann, Psychologie (5. Aufl., Lpz. 1873);
Schaller, Psychologie (Weim. 1860).
An Herbarts Psychologie als Wissenschaft (2 Bde., Königsb. 1824-25) schließen sich an: Drobisch, Empirische Psychologie (Lpz. 1842);
ders., Erste Grundlehren der mathematischen Psychologie (ebd. 1850);
Waitz, Lehrbuch der Psychologie (Braunschw. 1849);
Volkmann, Lehrbuch der Psychologie (2 Bde., 3. Aufl., Cöthen [* 9] 1884-85; 4. Aufl., Bd. 1, 1894);
Ballauf, Die Grundlehren der Psychologie (ebd. 1890);
Strümpell, Grundriß der Psychologie (Lpz. 1884);
Beneke, Lehrbuch der Psychologie (4. Aufl., Berl. 1877);
ders., Pragmatische Psychologie (2 Bde., ebd. 1850).
Hierzu kommen manche zwischen den bisherigen Gegensätzen vermittelnde Arbeiten, wie: George, Lehrbuch der Psychologie (Berl. 1854);
Fortlage, System der Psychologie (2 Tle., Lpz. 1855);
ders., Beiträge zur Psychologie (ebd. 1875);
Lazarus, Das Leben der Seele (3. Aufl., 3 Bde., Berl. 1883-85);
I. H. ^[Immanuel Hermann] Fichte, [* 10] Anthropologie (Lpz. 1856; 3. Aufl. 1876);
ders., Psychologie (2 Bde., ebd. 1864-74);
Lotze, Medizinische Psychologie (ebd. 1852);
ders., Mikrokosmus (3 Bde., ebd. 1856-64; 4. Aufl. 1884-88);
Höffding, Psychologie in Umrissen (deutsch von Bendixen, 2. Aufl. 1893).
Den Standpunkt der sprachwissenschaftlichen Apperceptionstheorie vertreten: Steinthal, Grammatik, Logik und Psychologie (Berl. 1855);
ders., Abriß der Sprachwissenschaft, Tl. 1 u. d. T. «Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft» (ebd. 1871; 2. Aufl. 1881);
Glogau, [* 11] Steinthals psychol.
Formeln (ebd. 1876). Anlehnung an die Thatsachen der Physiologie suchen: H. Spencer, Principles of psychology (Lond. 1855; 2. Aufl. 1871-72);
A. Bain, Mental and moral science (ebd. 1868);
Ribot, La psychologie anglaise contemporaine (Par. 1870);
ders., La psychologie allemande contemporaine (ebd. 1879; 2. Aufl. 1884);
Taine, De l'intelligence (4. Aufl., ebd. 1883; deutsch von Siegfried, 2 Bde., Bonn [* 12] 1880);
W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (Lpz. 1874; 4. Aufl., 2 Bde., 1893);
W. James, Principles of psychology (2 Bde., Neuyork [* 13] 1890): J. ^[James] Sully (The human mind 1892);
Ziehen, Leitfaden ¶
mehr
der physiologischen Psychologie (2. Aufl., Jena [* 15] 1893); Külpe, Grundriß der Psychologie auf experimenteller Grundlage (Lpz. 1893). Sammelschriften sind: Lazarus und Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (Berl. 1861 fg.);
zum größern Teil experimentell-psychol.
Arbeiten erscheinen in den «Philos. Studien», hg. von Wundt (Lpz. 1883 fg.);
Ebbinghaus und König, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane (Hamb. und Lpz. 1890 fg.);
Stanley Hall, [* 16] The American Jornal of Psychology (1888 fg.);
Balduin und Cattell, The Psychological Review (1894 fg.).
Zur Geschichte der Psychologie vgl. außer den im Artikel genannten Werken noch Siebeck, Geschichte der Psychologie (Tl. 1 in 2 Abteil., Gotha [* 17] 1880 u. 1884).
Über die gerichtliche oder forensische Psychologie s. Gerichtliche Psychologie.