Psychologie
(griech.), wörtlich s. v. w.
Wissenschaft von der
Seele, verhält sich zu dieser als
Substrat der psychischen
wie die
Physik zur
Materie als
Substrat der physischen
Erscheinungen. Beide sind einerseits beschreibende, ihre bezüglichen
Erscheinungen nach deren
Ähnlichkeit
[* 2] zusammenfassende, nach deren Verschiedenheit sondernde, anderseits
erklärende, deren
Gang
[* 3] und
Entwickelung auf allgemeine
Gesetze
(Naturgesetze) zurückführende
Wissenschaften. Um dieser methodischen
Ähnlichkeit mit der
Physik als
Naturwissenschaft willen wird die Psychologie
häufig auch
Naturwissenschaft in dem
Sinn genannt, als ob
das
Substrat ihrer (psychischen) und jenes der physischen
Erscheinungen eins und dasselbe wären (Psychologie
des
Materialismus).
Dieser
Schluß ist so lange unberechtigt, als nicht erwiesen ist, daß die psychischen Vorgänge (Vorstellen, Fühlen,
Begehren),
die nur dem sogen. innern, und die physischen
(Nerven- und Muskelreize, elektrische Strömungen), die nur dem äußern
Sinn
zugänglich sind, nicht bloß einander korrespondierende Zustände, sondern eins und dasselbe seien, was zu
erweisen der
Physiologie bisher keineswegs gelungen ist. Auch die von
Fechner als Zwischengebiet zwischen Psychologie
und
Physik eingeschobene
Psychophysik hat nur gezeigt, daß die Beziehungen zwischen den äußersten
Grenzen
[* 4] der physischen (Nervenreize) und den niedersten
Stufen der psychischen Vorgänge (elementare Sinnesempfindungen) sich auf exakte
Formeln
(Webersches Gesetz) bringen lassen,
keineswegs aber die
Identität des Nervenvorganges
(Bewegung) mit der
Empfindung dargethan. So lange, als
jener
Beweis nicht erbracht ist, muß es daher unverwehrt bleiben, von den psychischen
Phänomenen als einem von den physikalischen
und physiologischen abgesonderten
Kreis
[* 5] von
Erscheinungen zu handeln und rücksichtlich sowohl ihres
Substrats als ihrer
Gesetze
diejenigen Folgerungen zu ziehen, welche durch die besondere
Natur der psychischen
Erscheinungen unvermeidlich
gemacht werden. Psychologie
in diesem
Sinn ist daher zwar eine empirische
Wissenschaft insofern, als sie von den durch
Erfahrung
(an sich
und andern) gegebenen psychischen
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Erscheinungen ausgeht und weiter schließt; es ist aber keineswegs notwendig, daß dasjenige, zu dem sie auf diesem Weg mit Notwendigkeit gelangt, selbst innerhalb der Grenzen sichtbarer Erfahrung gelegen sei. Lassen sich sämtliche erfahrungsgemäß gegebene psychische Phänomene ohne Voraussetzung einer (körperlichen oder unkörperlichen) Seele überhaupt oder doch wenigstens einer unkörperlichen Seele befriedigend erklären, so ist im erstern Fall die Annahme eines Seelenwesens überhaupt, im letztern wenigstens die eines unkörperlichen überflüssig.
Gibt es dagegen auch nur ein einziges thatsächliches Seelenphänomen, das sich ohne die Annahme eines atomistischen Seelenwesens schlechterdings nicht erklären läßt, so ist die letztere Annahme (wenigstens als Hypothese) notwendig. Neuere Psychologen (Herbart und dessen Schule, Lotze) haben als ein solches Phänomen die Einheit des Bewußtseins und Kants entgegenstehende Behauptung, daß die Annahme einer Seele ein (übrigens unvermeidlicher) Paralogismus der reinen Vernunft sei, selbst für einen Fehlschluß (quaternio terminorum) erklärt.
Infolgedessen stehen einander in der Psychologie
sehr verschiedene philosophische Richtungen gegenüber. Der Materialismus
und (Comtesche) Positivismus, welcher (unbewiesenerweise) nur eine Gattung von Phänomenen (die physikalischen) anerkennt, betrachtet
die sogen. psychischen Phänomene als physische (Nervenschwingungen) und die sogen. Seele als ein körperliches Organ (Gehirn),
[* 7] zu dessen Funktionen das Denken gehört, wie zu jenen des Magens die Verdauung.
Die Psychologie
fällt beiden sonach mit der Physiologie zusammen und ist von A. Comte folgerichtig der Biologie
einverleibt worden. Die kritische Schule Kants hält zwar an der Nichtidentität psychischer und physischer Phänomene fest;
aber sie läßt den Schluß von der Einheit des Bewußtseins auf die Existenz der Seele nicht gelten und gelangt dazu, eine Wissenschaft
von den Seelenerscheinungen ohne Substrat, eine »Psychologie
ohne Seele« (Lange) zu konstruieren. Die idealistischen Nachfolger Kants
sehen (nach dem Vorgang Spinozas) Physisches und Psychisches als verschiedene Seiten desselben identischen Wesens an und sprechen
demgemäß der Seele als »Idee des Leibes« jede von diesem abgesonderte Existenzweise als Einzelwesen ab. Die realistischen
Nachfolger Kants (Herbart und seine Schule, Lotze) schließen von der Thatsache der Einheit des Bewußtseins, die keine »itio in partes«
erlaubt, auf die unteilbare Natur des Seelenatoms (Monade, einfaches Reale) als Trägers derselben und leiten aus dieser gewisse
(sonst unverständliche) Fundamentalgesetze des Seelenlebens, wie die (Lockesche) »Enge des Bewußtseins« und
die innige Verbindung (Ideenassociation) der gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander in der Seele gegenwärtigen Vorstellungen,
ab. Als beschreibende Wissenschaft unterscheidet die Psychologie
mindestens drei Gattungen verschiedener Seelenvorgänge, die sie als
Vorstellungen (s. d.), Gefühle (s. d.) und Strebungen (Begierden, Willensakte, s. Wille) bezeichnet; als erklärende nimmt sie
entweder (wie die ältere Physik zu der Annahme von Kräften) zu der Annahme besonderer Vermögen (Vorstellungsvermögen,
Gefühlsvermögen, Begehrungsvermögen, Einbildungskraft, Gedächtnis etc.) behufs Erklärung besonderer Erscheinungen ihre Zuflucht,
oder sie leitet (wie die neuere Physik aus den elementaren Bestandteilen des Stoffes und deren Bewegungen) nicht nur auch die
höchsten und verwickeltsten psychischen Gebilde (die Ichvorstellung, den sittlichen Charakter etc.) aus
den elementaren Bestandteilen des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen)
und deren (durch Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung herbeigeführten)
Verbindungen ab, sondern betrachtet selbst die verschiedenen Arten der psychischen Phänomene als Umbildungen einer einzigen
(ursprünglichen) Art (Gefühle und Strebungen als bloße »Zustände der Vorstellungen«, Darwinismus in der Psychologie
). Je nachdem
die psychischen Phänomene mit den physiologischen für identisch (wie in der Psychologie
des Materialismus) oder
nicht identisch erklärt werden, nehmen auch die Naturgesetze, durch welche der Gang und Ablauf
[* 8] derselben geregelt wird, spezifisch
physiologischen oder allgemeinen Charakter an. In letzterm Sinn spricht die Herbartsche Schule von einer »Statik« und »Mechanik«
der psychischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik der in Wechselwirkung
stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) außerhalb (in modifizierter Gestalt) auf die in Wechselwirkung befindlichen
elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen) innerhalb des Bewußtseins an (exakte oder mathematische Psychologie
). Wird
dagegen von der Ansicht ausgegangen, daß die psychischen Phänomene überhaupt nicht, wie andre Vorgänge
der natürlichen Welt, durch »Naturgesetze« geregelt werden, sondern entweder völlig gesetzlos (willkürlich, transcendental
frei) oder nach Normen einer »übernatürlichen« (mystischen) Welt erfolgen, so nimmt die Psychologie
selbst »übernatürlichen«
(mystischen) Charakter an und geht in Spiritismus und Mystizismus über. Letztere Gestalt der Psychologie
umfaßt alle diejenigen
(angeblichen) Thatsachen des Seelenlebens, welche (wie Kants transcendentale Willensfreiheit) das die erfahrungsmäßig gegebene
Natur beherrschende Kausalgesetz gänzlich oder (wie die räumlich und zeitlich unvermittelten Einwirkungen der Geister- und
Hellseher, Somnambulen etc.) teilweise aufheben und (seit Schubert) als »Nachtseite der Seele« zusammengefaßt zu werden pflegen.
Anfänge der Psychologie
finden sich schon in der Philosophie des Altertums, insbesondere bei Platon, welcher die
Seele aus einem vernünftigen und einem vernunftwidrigen »Teil« zusammengesetzt
dachte, zwischen welchen ein dritter vernunftloser, aber für Vernunft empfänglicher das »Band«
[* 9] darstelle, und deren »Harmonie«
die Vollkommenheit des psychischen (wie die Harmonie zwischen den drei Ständen des Staats: Lehr-, Wehr- und
Nährstand, die Vollkommenheit des politischen) Lebens ausmache.
Aristoteles, bei welchem die Keime aller spätern Psychologie
zu finden sind, bezeichnete die Seele als »Entelechie des organischen Leibes«
und unterschied eine vegetative (der Ernährung und dem Wachstum vorstehende: Pflanzenseele), empfindende (sinnlich wahrnehmende
und sinnlich begehrende: Tierseele) und erkennende (denkende und wollende) Seele: Geist. Seine Zurückführung
der psychischen Vorgänge auf Arten und Vermögen ist von den Spätern fast unverändert beibehalten und nur von den einen
(den Neuplatonikern) die Psychologie
als Lehre
[* 10] von der sinnlichen Seele von der Pneumatologie als Lehre vom Geist unterschieden, von den
andern (den materialistischen Physikern) auch der Geist bloß als ein feinerer Körper angesehen worden.
Beide letztere Anschauungen pflanzten sich durch das Mittelalter auf die neuere Zeit fort, wo die erstere bei Descartes, die
letztere bei Hobbes wieder zum Vorschein kam. Leibniz, welcher die Seele als Monade, d. h. als spiritualistisches Atom, auffaßte,
suchte alle Erscheinungen in derselben auf ein Vermögen, zu erkennen, und ein solches, zu begehren, zurückzuführen,
während Locke den Versuch machte,
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dieselben aus einem ursprünglichen Vermögen, zu empfinden (sensation), und einem, auf das Empfundene zu reflektieren (reflection), abzuleiten. Aus ersterm Bemühen ist die systematische Seelenvermögenstheorie der Wolfschen Schule, aus letzterm die genetische (die zusammengesetzten und reichern aus einfachen und elementaren Seelenvorgängen ableitende) Psychologie der englischen, schottischen und französischen Empiristen und Sensualisten (Locke, Hume, Condillac) hervorgegangen.
Die materialistische Psychologie des Hobbes haben die französischen und englischen Encyklopädisten und Ärzte sowie die neuern französischen und deutschen Materialisten und Positivisten (Holbach, Lamettrie, Priestley, Cabanis, Comte, L. Feuerbach, Moleschott, Büchner u. v. a.) erneuert. Die Psychologie Wolfs wurde von Kant seiner Kritik zu Grunde gelegt und deren Nomenklatur von seinen idealistischen Nachfolgern fast unverändert beibehalten, die Annahme der Seele aber als Folge eines angeblichen (obgleich unvermeidlichen) Fehlschlusses entweder ganz fallen gelassen, oder doch deren vom Leib, dessen »Idee« sie sein soll, abgesonderte Existenz in Frage gestellt.
Unter den realistischen Nachfolgern Kants gingen die einen mit Beseitigung der »mythologischen« Seelenvermögen auf Leibniz und Locke zurück und gestalteten die Psychologie als genetische Entwickelung des Seelenlebens aus elementaren Bewußtseinsvorgängen im Innern eines atomistischen Seelenwesens (Herbart und seine Schule, Lotze), während die andern den leeren Platz der von Kant aus dem Bereich der Erfahrung und Erkenntnis ausgewiesenen Seele entweder durch ein »Hirngespinst« (Schopenhauer) im materialistischen oder durch »das Gespenst einer Seele« (Mystiker und Spiritisten) im supranaturalistischen Sinn (Schubert, Eschenmayer, Just. Kerner u. a.) ausfüllten.
Die seit alters her zur Psychologie gerechneten und von derselben als »Einfluß des Leibes auf die Seele und dieser auf den Leib« (Naturell, Temperament im gesunden, Seelenstörung, Geisteskrankheit im kranken Zustand) abgehandelten Wechselbeziehungen psychische (Bewußtseins-) und somatischer (körperlicher) Vorgänge sind in jüngster Zeit zum Gegenstand einer von derselben sich absondernden, ihre Wurzeln einerseits in der Psychologie, anderseits in der Physiologie schlagenden Wissenschaft, der sogen. physiologischen Psychologie, gemacht worden, die sich die Aufgabe stellt, die organischen und physiologischen Bedingungen der mentalen Vermögen und Fähigkeiten, sei es am gesunden (»eigentliche«),
sei es am kranken Menschen (»pathologische, physiologische Psychologie«),
zu studieren. Als Vorläufer derselben können im vorigen Jahrhundert Bonnet, Hartley, insbesondere Cabanis (»Rapports du physique et du moral«) u. der Kranioskop Gall, als ihre wissenschaftlichen Begründer und Ausbildner müssen, außer dem Psychophysiker Fechner, die Physiologen E. H. Weber und Helmholtz und in systematischer Form der von der Physiologie zur (induktiven) Philosophie übergegangene Wundt in Deutschland, [* 12] Broca und Chorcot ^[richtig: Charcot (= Jean-Martin Charcot, 1825-1893)] in Frankreich, Huxley, Maudsley und Carpenter in England genannt werden.
Die wichtigsten von ihr bisher in exakter, auf dem Weg des Experiments (experimentelle Psychologie) am lebenden (tierischen) u. der pathologischen Sektion am toten Organismus erfolgreich durchgeführter Weise erforschten Thatsachen gehören dem Gebiet der Sinnesfunktionen (»Lehre von den Tastempfindungen«: Weber; »Theorie des Sehens und Lehre von den Tonempfindungen«: Helmholtz; »Tonpsychologie«: Stumpf), ferner der Theorie der cerebralen Lokalisation (d. h. der Verteilung vereinbarer geistiger oder durch solche bedingter Fähigkeiten, wie der des Sprechens, Schreibens, Lesens und Verstehens, an gewisse Hirnpartien, so daß die Zerstörung oder der Mangel der letztern das Aufhören jener zur Folge hat: Aphasie, Agraphie, Wortblindheit und -Taubheit), endlich des sogen. Muskelsinns (Bain), der Vererbung (vgl. Ribot, L'hérédité psychologique, 2. Aufl., Par. 1882), der Suggestion, der Verdoppelung des Bewußtseins etc. an.
Vgl. zur Psychologie außer den Hauptwerken fast aller Philosophen insbesondere die Schriften der Herbartschen und der neuern englischen (an Locke anknüpfenden) Psychologenschule (A. Bain u. a.), zu welch ersterer trotz prinzipieller Abweichungen auch Lotzes, zu welch letzterer (in Deutschland) auch Brentanos Darstellungen der Psychologie zu zählen sind.
Unter jenen sind Drobisch, Empirische Psychologie (Leipz. 1842), Volkmann, Lehrbuch der Psychologie vom Standpunkt des Realismus (3. Aufl., Köth. 1884, 2 Bde.), Rob. Zimmermann, Empirische Psychologie (in dessen »Philosophischer Propädeutik«, 3. Aufl., Wien [* 13] 1867),
und vor allen Lotze, Medizinische Psychologie (Leipz. 1852),
und Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (3. Aufl., das. 1887, 2 Bde.),
sowie Lazarus, Das Leben der Seele (3. Aufl., Berl. 1883 ff., 3 Bde.),
und dessen »Zeitschrift für Völkerpsychologie«, unter diesen ist nebst J. Mill, Analysis of human mind (neue Ausg., Lond. 1878, 2 Bde.), und Alex. Bain, Psychology (2. Aufl., das. 1872), insbesondere Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt (Leipz. 1874, Bd. 1), und als bedeutendste Erscheinung der theosophischen und spiritualistischen Herm. v. Fichte, [* 14] Psychologie (das. 1864-73, 2 Bde.), zu nennen. Zur Geschichte der Psychologie ist außer dem (veralteten) Werk von F. A. Carus (Leipz. 1808) und den reichhaltigen Notizen in Volkmanns oben genanntem »Lehrbuch der Psychologie« insbesondere Ribot, »La psychologie anglaise contemporaine« (2. Aufl., Par. 1875),
u. dessen »La psychologie allemande« (deutsch, Braunschw. 1881) anzuführen.