Provençalische
Sprache
[* 2] und Litteratur. Die provençalische Sprache
ist die am frühsten ausgebildete
Sprache des romanischen
Sprache
nzweigs, die sich in ihren ältesten
Formen näher und reiner an ihre
Quelle,
[* 3] die römische Volkssprache
,
anschloß als irgend eine ihrer
Schwestern. Die provençalische Sprache
wurde in
Limousin,
Provence,
Auvergne und
Quercy am reinsten
gesprochen, herrschte aber im ganzen südlichen
Frankreich bis an die
Loire und selbst in einem großen Teil des nordöstlichen
Spanien.
[* 4] Ihr allgemeiner
Name war
Lingua romana; von der Bejahungsformel oc hieß sie
Langue d'oc oder die
occitanische
(die nordfranzösische dagegen langue d'oui), von der Gegend, wo sie am reinsten gesprochen wurde, dem
Limousin,
die limousinische
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und von dem Land, wo sie am ersten litterarisch kultiviert wurde, die provençali
sche; in Spanien erscheint sie in der katalonischen
und valencianischen Mundart. Ursprünglich war sie von der nordfranzösischen Mundart wohl wenig verschieden, und erst seit
dem 9. Jahrh., wo die letztere ihre Formen mehr und mehr abzuschleifen begann, trat der Unterschied merklich
hervor. Ihre Blüte
[* 6] fällt in die Zeit der Troubadoure, wo alle Dichter in ihr sangen und sie die Sprache des ganzen gebildeten
Europa
[* 7] werden zu wollen schien.
Mit dem Verfall der provençali
schen Litteratur infolge des Verlustes der politischen Selbständigkeit Südfrankreichs durch
die Ereignisse des 13. Jahrh. verfiel auch die Sprache, die als Schriftsprache
mehr und mehr durch das
Nordfranzösische verdrängt wurde und zu einem bloßen Patois, dem sogen. Neuprovençali
schen, herabsank, von welchem nur
einzelne Volksdichter, wie Goudulin, Jacq. Jasmin u. a., Gebrauch machten, bis sich in neuester Zeit unter Führung des Dichters
Mistral (s. d.) der Verein der Félibres (s. d.) bildete, welcher die Wiederbelebung und Pflege der provençali
schen
Sprache als Schriftsprache
anstrebt.
Der Anfang des Vaterunsers im Altprovençali
schen heißt: »Paire nostre que etz el cel, sanctificats sia vostre noms«. Die
ältesten urkundlich provençali
schen Sprachproben finden sich seit 960, einzelne in lateinische Urkunden eingestreute Sätze.
Das Fragment eines Gedichts über Boethius von 257 Versen, aus dem Ende des 10. Jahrh. (hrsg. von Diez in
den »Altromanischen Sprachdenkmalen«, Bonn
[* 8] 1846; auch von Bartsch in der »Chrestomathie provençale«, 4. Aufl., Elberf. 1880),
zeigt schon ziemlich ausgebildete Sprachformen. Andre ältere Stücke hat Mary-Lafon in dem »Tableau historique et littéraire
de la langue parlée dans le midi de la France et connue sous le nom de langue provençale« (Par. 1842)
gesammelt. Grammatiken des Provençalischen
hat man schon aus dem 13. Jahrh., welche Guessard unter
dem Titel: »Grammaires romanes inédites du XIII. siècle« (neue Ausg.,
Par. 1858) und Stengel
[* 9] (Marb. 1878) herausgegeben haben. Eine Grammatik, Metrik und Rhetorik aus dem 14. Jahrh.
sind die »Leyes d'amors« (hrsg. von Gatien-Arnoult, Toulouse
[* 10] 1841). Kritisch bearbeitet wurde die provençalische Sprache
in
neuerer Zeit von Raynouard in seiner »Grammaire de la langue des troubadours« (Par.
1817),
am vorzüglichsten aber von Diez in seiner »Grammatik der romanischen Sprachen« (5. Aufl., Bonn 1882)
und von Mahn (»Grammatik u. Wörterbuch der altprovençalischen
Sprache«, Köthen
[* 11] 1885 ff., 4 Tle.). Einen kurzen Abriß gibt Adrian
in »Grundzüge einer provençalischen
Grammatik« (Frankf. 1825). Wörterbücher lieferten Raynouard (»Lexique roman«, Par.
1838-44, 6 Bde.),
Diez (»Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen«, 4. Aufl., Bonn 1878),
Honnorat (»Dictionnaire provençal-français«,
Digne 1846-47, 3 Bde.), Azaïs (Montpellier
[* 12] 1877-81, 3 Bde.); ein Lexikon der heutigen provençalischen
Mundart, die selbst in
ihrer jetzigen Gestalt die französische Sprache an Wohlklang und Vollständigkeit der Formen übertrifft, ist Mistrals »Tresor
dou Felibrige« (Avignon 1878-86, 2 Bde.).
Vgl. Fuchs, [* 13] Über die sogen. unregelmäßigen Zeitwörter in den romanischen Sprachen (Berl. 1840);
Schnakenburg, Tableau des idiomes populaires de la France (das. 1840);
Pierquin de Gembloux, Histoire littéraire etc. des patois (Par. 1841);
Provençalische
Meyer, Récueil d'anciens textes bas-latins, provençaux et français (das. 1875).
Die eigentliche provençalische
Litteratur hat, wie jede andre, mit einer Volksdichtung begonnen.
Dieselbe bestand in epischen
oder lyrisch-epischen Liedern, welche von wandernden Volkssängern (joglars) mit Musikbegleitung vorgetragen wurden und sich
nur mündlich fortpflanzten. Die Blütezeit dieser Dichtung fällt in die zweite Hälfte des 9. und in das 10. Jahrh., es ist
jedoch außer einigen Spuren nichts davon auf unsre Zeiten gekommen. Mit dem Ende des 11. Jahrh., aus welchem
die ältesten uns erhaltenen Erzeugnisse der provençalischen
Poesie stammen, beginnt schon eine Periode der Kunstdichtung,
die zwar in ihren ersten Anfängen noch ein volkstümliches Gepräge zeigte, sich aber sehr bald zu einer rein höfischen
Dichtung entwickelte.
Dieselbe wurde ausschließlich von dem ritterlichen Adel gepflegt und zum Teil von Mitgliedern der höchsten Kreise [* 14] desselben, den Fürsten und Herren, meistens jedoch von den minder begüterten Rittern, erst in späterer Zeit hin und wieder von Männern bürgerliche Herkunft geübt und erhielt daher ihren Inhalt und Charakter ausschließlich von den Institutionen, den Gewohnheiten und der Anschauungsweise des Rittertums. Die Geschlechtsliebe in der Form der höfischen Galanterie bildet ihren Hauptinhalt, demnächst Krieg und Politik, endlich persönliche Verhältnisse.
Die ritterlichen Dichter hießen Troubadoure (trovadors, von trovar, finden, erfinden), wogegen diejenigen, welche die von jenen verfaßten Gedichte nur absangen, mit dem Namen der alten Volkssänger, Joglars (Jongleure), deren eigentliche Nachfolger sie auch waren, bezeichnet wurden. Ein adliger Troubadour pflegte immer einen oder mehrere solcher Joglars in seinen Diensten zu haben. Doch gab es auch hin und wieder Joglars, die selbst dichteten, wie auch umgekehrt öfters ein ärmerer Troubadour sein eigner Joglar war.
Nach Inhalt und Form scheiden sich die Lieder der Troubadoure in mehrere Gattungen. Die älteste, noch auf dem alten Volksgesang beruhende Form hieß schlechthin vers, hatte einen sehr einfachen Strophenbau und konnte jeden beliebigen Inhalt haben. Aus dieser Form entwickelte sich die Kanzone (chansos), die Hauptform der höfischen Lyrik, welche sich durch einen sehr kunstreichen Strophenbau auszeichnete und ausschließlich Liebe und Religion zum Inhalt hatte. Den Gegensatz dazu bildete das Sirventes (der gewöhnlichen Ableitung nach von servir, dienen, also ein im Dienst eines Herrn verfaßtes Gedicht), welches, unter gänzlichen Ausschluß der Liebe, die verschiedensten öffentlichen Angelegenheiten, Krieg, Politik, Religion, Moral etc., wie auch persönliche Verhältnisse des Dichters behandelte. Zu den Sirventesen gehören auch die Kreuzlieder, Aufrufe zur Teilnahme an den Kreuzzügen, und die Klagelieder über den Verlust eines Gönners oder einer Geliebten.
Eine dritte Gattung bildete die Tenzone (tensos) oder das Streitgedicht, auch joc partit (geteiltes Spiel) genannt, in welchem zwei einander widerstreitende Sätze von zwei oder mehreren Dichtern strophenweise verteidigt wurden. Die Romanze, die bei den Provençalen nur in einer kleinen Anzahl von Beispielen vorkommt, ist ein lyrisch-episches Gedicht, dessen Inhalt in der Regel ein Liebesabenteuer bildet. Die Alba [* 15] oder das Taglied enthielt den poetischen Weckruf, womit der Wächter bei einem nächtlichen Stelldichein zwischen zwei Liebenden denselben den anbrechenden Morgen (alba) verkündet und sie zum Aufbruch mahnt. Die Pastorella (pastorela oder pastoreta) hat ein Gespräch des Dichters mit einer Hirtin zum Inhalt. Die Balada und die Danza sind Lieder, die zum Tanz gesungen wurden. Auch der poetische Liebesbrief (breu ¶
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oder letra) ist als eine besondere, durch eine Anzahl von Beispielen vertretene Gattung der provençalischen
Lyrik zu erwähnen.
Außer den genannten gab es noch mehrere andre seltener gebräuchliche Formen.
Die provençalische
Lyrik hat sich selbständig aus dem Geiste der südfranzösischen Nationalität und ihrer gesellschaftlichen
Institutionen, insbesondere aus dem Geist ihres Rittertums, entwickelt und kann daher, wie gering im Vergleich
zur Dichtung der andern romanischen Nationen auch ihr poetischer Wert sein mag, wenigstens den Ruhm vollständiger Originalität
in Anspruch nehmen. Schon aus diesem Grund sowie als die älteste Dichtung der romanischen Völkerfamilie ist sie von großer
litterarhistorischer Bedeutung, ebensosehr auch wegen des Einflusses, den sie auf die Dichtung benachbarter
Nationen übte.
Denn sie verbreitete sich auch über den nördlichen Teil von Spanien und Italien,
[* 17] deren erste eigne lyrische Erzeugnisse auf
provençalischen
Mustern beruhen. Auch die nordfranzösische Lyrik nahm sich die Troubadourdichtung zum Vorbild. Als dem Geiste
der südfranzösischen Gesellschaft am meisten entsprechend, bildet die höfische Lyrik den eigentlichen
Mittelpunkt der provençalischen Litteratur, und alle andern litterarischen Gattungen treten sowohl der Masse als dem Wert nach
bedeutend gegen sie zurück.
Ihre Blütezeit umfaßt das 12. und 13. Jahrh. Die Zahl der Troubadoure, von denen oder unter deren Namen noch Lieder vorhanden sind, beträgt über fünftehalbhundert; außerdem ist eine ansehnliche Zahl von Liedern namenlos auf uns gekommen. Der älteste dem Namen nach bekannte Troubadour war Wilhelm IX., Graf von Poitiers (gest. 1127), dessen wenige noch erhaltene Lieder noch einen ganz volkstümlichen Charakter haben. Unter seinen nächsten Nachfolgern sind besonders der wunderliche, menschenverachtende Marcabrun (gest. 1185) und Jaufre Rudel, Prinz von Blaya (gest. 1170), zu nennen.
Die Höhe der höfischen Kunstdichtung in Form und Gehalt fällt in das Jahrhundert von 1150 bis 1250. Hier wirkten Guillem de Cabestaing (gestorben um 1190), bekannt durch sein romantisches Geschick;
Graf Rambot III. von Orange (gest. 1173), der Liebesverse mit der Gräfin Beatrix von Die tauschte;
Bernart von Ventadour (gest. 1195), ausgezeichnet in der Kanzone;
Guiraut de Borneil (gestorben um 1220), der von seinen Zeitgenossen selbst als Meister anerkannt wurde;
der geistvolle, aber bizarre Peire Vidal (gest. 1215);
Pons de Capdeuil (um 1190) mit seinen kunstvollen, nie die Schicklichkeit verletzenden Liedern;
der durch seine wilde Kampflust wie durch frevelhafte Intrigen allbekannte Bertrand de Born (blühte 1180-95), einer der größten Meister im Sirventes;
sodann Rambaut von Vaqueiras (gest. 1207), der Hofdichter und Freund des Prinzen Wilhelm IV. von Orange;
Aimeric von Peguilain (gest. 1270), von dem noch etwa 50 Lieder erhalten sind;
der schwungvolle Peirol (gest. 1225);
Gaucelm Faidit (gest. 1240), der Dichter schwungvoller Kreuzlieder;
Raimon von Miraval (gestorben um 1220);
der pfaffenfeindliche Guillen Figueiras, gleichfalls im Sirventes ausgezeichnet;
Savaric von Mauleon (um 1220);
Peire Cardinal (um 1210-30), der Meister des moralischen Sirventes, u. v. a. Unter den regierenden Fürsten, welche selbst Troubadoure waren, sind besonders König Richard Löwenherz (gest. 1199) und König Alfons II. von Aragonien (gest. 1196) zu nennen.
Die Periode von der Mitte bis zu Ende des 13. Jahrh. ist als die Periode des Verfalls der Troubadourdichtung zu bezeichnen. Die Albigenserkriege und ihre unmittelbaren Folgen hatten die Reihen der Troubadoure, welche mit ihrer Kunst auf seiten der besiegten Partei gestanden hatten, sehr gelichtet. Die bedeutendern hatten das Land verlassen und an den spanischen und norditalienischen Höfen eine Zuflucht gefunden. Ihre bisherigen Gönner und Beschützer, die Fürsten und Herren, verloren ihre Unabhängigkeit, verarmten zum Teil und konnten die Dichter nicht mehr, wie früher, fürstlich belohnen.
Zugleich aber erlosch jener Geist echter Ritterlichkeit, aus welchem die Troubadourdichtung hervorgegangen war. Ein veränderter Zustand der Gesellschaft, eine veränderte Lebensweise hatten andre Bestrebungen, andre Genüsse zur Folge, und die alte Dichtkunst fiel der Vernachlässigung anheim. Vergebens suchten die bessern Dichter ihr dadurch wieder aufzuhelfen, daß sie ihre Kunst als Wissenschaft behandelten und ihren Gedichten einen gelehrten Ton gaben.
Der Hauptvertreter dieser Richtung ist Guiraut Riquier (1250 bis 1294), mit welchem die lange Reihe der echten Troubadoure schließt. Im folgenden Jahrhundert ging die Dichtkunst völlig in die Hände des zünftigen Bürgertums über, welches durch die Stiftung der Akademie der »Blumenspiele« (s. Jeux floraux) zu Toulouse den alten Troubadourgesang wieder ins Leben zu rufen suchte, aber nur einen schwachen Nachklang desselben erzeugte, der gegen den Ausgang des Mittelalters völlig verhallte, nachdem inzwischen die Sprache selbst in ihrer alten Form erloschen war und sich in ein bloßes Patois verwandelt hatte.
Gegenüber der Masse noch vorhandener Troubadourlieder erscheint die Zahl der uns erhaltenen epischen Dichtungen der Provençalen äußerst gering. Mutmaßlich aber hat Südfrankreich niemals eine reich entwickelte Epik gehabt, weil dieselbe von der überwuchernden Lyrik zurückgedrängt wurde. Die alten epischen Volkslieder der Provençalen sind zum bei weitem größten Teil in Nordfrankreich, wo im Gegensatz zum Süden die Epik den Mittelpunkt der poetischen Litteratur bildete, zu eigentlichen Epen verarbeitet worden.
Das älteste und zugleich einzige auf historischen Grundlagen ruhende originale Epos in provençalischer Sprache, welches wir besitzen, ist der »Girartz de Rossilho« aus dem karolingischen Sagenkreis, aus dem Anfang des 12. Jahrh., von unbekanntem Verfasser (hrsg. von C. Hofmann, Berl. 1855-1857, und von Fr. Michel, Par. 1856),
wogegen der provençalische »Fierabras« (hrsg. von I. Bekker in den Abhandlungen der Berliner [* 18] Akademie 1829) nur Übersetzung eines nordfranzösischen Originals ist. Dem Sagenkreis von König Artus gehört an der »Roman de Jaufre« aus der Mitte des 13. Jahrh., gleichfalls von unbekanntem Verfasser (im Auszug hrsg. von Raynouard im »Lexique roman«, Bd. 1). Außerhalb eines bestimmten Sagenkreises stehen der kulturhistorisch wichtige »Roman de Flamenca« aus der Mitte des 13. Jahrh. (hrsg. von Provençalische Meyer, Par. 1865) sowie der »Roman de Blandin de Cornoalha e Guilhem de Miramar« (hrsg. von Provençalische Meyer, das. 1873). Aus dem Anfang des 14. Jahrh. endlich ist der »Roman de Guillen de la Barra« von Arnaud Vidal (in einzelnen Proben hrsg. von Provençalische Meyer, Par. 1868). Eine kleine Anzahl von Novellen gibt es von den Troubadouren Raimon Vidal, Arnaud de Carcasses und Peire Guillem. Unter den Heiligenlegenden sind die der heil. Enimia von Bertran de Marseille [* 19] (hrsg. von Sachs, Berl. 1857) und das noch unedierte Leben des heil. Honorat von Raimon Feraut zu erwähnen. Von historischen Gedichten ¶