als Emigranten, bald als Angestellte, bald als Verbannte im Innern Rußlands, besonders in Südrußland (Odessa, Bessarabien
u. a.), in Petersburg, Sibirien, dann in der Türkei, in Frankreich, in der Schweiz, in Österreich (Wien) u. a.
Die Zahl der Polen ist nicht leicht festzustellen, weil viele Personen zwei-, sogar dreisprachig sind und sich
daher bald diesem, bald dem andern Stamme zuzählen. Nach einer Berechnung von 1880 bis 1882 ergeben sich, mit 5 Proz. Zuwachs,
für 1894 folgende Zahlen:
1) In Rußland: in Russisch-Polen 5670000 (73,4 Proz. der Gesamtbevölkerung), in den neun westl.
Gouvernements Rußlands 1550000 (11 Proz.). Zusammen 7220000. 2) In Österreich-Ungarn: in Galizien 2887000
(46 Proz. der Gesamtbevölkerung), in Schlesien 163000 (28 Proz.), in der Bukowina 19000, in Ungarn 12000. Zusammen 3081000. 3)
In Preußen: Reg.-Bez. Posen (62 Proz.), Bromberg (48), Danzig (26), Marienwerder (37), Gumbinnen (20), Königsberg (15), Oppeln
(60), Breslau (3,5 Proz.), Pommern (3500 Seelen), zusammen 2810000 (nach der deutschen Volkszählung vom beträgt
die Zahl der Polen in Preußen 2816657). Dazu 4) zerstreut rund 2 Mill. (soviel wird für Amerika allein angegeben). Es ergiebt
sich somit eine Gesamtzahl von rund 15 Mill.
Dem Bekenntnis nach sind evangelisch 446000 (3,4 Proz. der Gesamtzahl in 1-3), griechisch-uniert 68000 (0,5
Proz.), mosaisch (polonisierte Juden) 19000 (0,15 Proz.), mohammedanisch (im Gouvernement Sjedlez, Suwalki,
Grodno u. a.) 9000, griechisch-orthodox 8000; zusammen nichtkatholisch 550000 (4 Proz.),
römisch-katholisch 12561000 (96 Proz.). Die in den vorstehenden Berechnungen mit inbegriffenen
Kassuben (s. d.; auch in Amerika vertreten; Gesamtzahl 200000) bilden eigentlich einen besondern Volksstamm. -
Vgl. Czyński,
Etnograficzno-statystyczny zarys liczebności i rozsiedlenia ludności polskiej (Warsch.
1887).
poln. Polska, russ. Polscha 1) Ehemaliges Königreich,
umfaßte bis zur ersten Teilung 1772 im allgemeinen ein Gebiet, das im W. von der Oder und Warta, im S. von den Karpaten und
dem Dnjestr, im O. vom Dnjepr, im N. von der Düna, der Wasserscheide ihrer Zuflüsse und der zum Ilmensee
gehenden Gewässer und von der Ostsee umschlossen wird. Westlich gingen die Grenzen nur im 11. und 12. Jahrh.
weit über die Oder und Warta hinaus, fast bis zur Elbe bei Meißen und bis nach Böhmen und Mähren. Die Ausdehnung nach O.,
wo anfangs der Bug die Grenze bildete, begann im 13. Jahrh. und ging zeitweilig sogar über den Dnjepr hinaus. Polen hatte:
Jahr
Flächenraum qkm
Einwohner
1620
991000
15000000
1655
881000
14000000
1683
661000
12000000
1701
716000
12500000
1755
716000
13000000
1764
774415
12980000
1791
530000
7752486
1794
247800
4500000
Mit der dritten Teilung 1795 hörte das alte Königreich ganz auf zu bestehen.
Der Nationalität nach waren in Polen um 1772 fast 5 Mill. Polen (meist Katholiken), etwa ebenso viele Kleinrussen (meist uniert), 1 Mill.
Litauer (Katholiken), 1½ Mill. Juden, 1 Mill. Deutsche (meist evangelisch). Das Land bestand aus drei großen
Provinzen, die
in Woiwodschaften und diese wieder in Kreise (powiaty) zerfielen: Großpolen (s. d.), Kleinpolen (s. d.) und
Litauen (s. d.). Die herrschende Kirche war die römisch-katholische; es bestanden zwei Erzbistümer (Gnesen, Lemberg) und 15 Bistümer.
Universitäten gab es in Krakau, Wilna und Zamosc, daneben Dissidenten-, Jesuiten-, später Piaristen-, zuletzt sogar Staatsschulen.
- Das Wappen war ein quadrierter Schild, das erste und vierte Quadrat mit dem weißen gekrönten poln.
Adler in rotem Felde wegen Polen, im zweiten und dritten ein silberner geharnischter Reiter mit goldenem Patriarchenkreuz und
bloßem Säbel auf einem rennenden silbernen Pferde mit goldenen Hufeisen und blauem Reitzeug in rotem Felde
wegen Litauen. Das Herzschild enthielt das Geschlechtswappen des Königs. Die Landesfarben waren Weiß und Rot. -
Vgl. Baliński
und Lipiński, Starożytna Polska (3 Bde., Warsch.
1844-48).
2) Königreich unter russ. Herrschaft, errichtet 1815 durch den Wiener Kongreß, daher auch Kongreßpolen (Kongreśowka) oder
kurzweg Russisch-Polen genannt, in Rußland offiziell Weichselgouvernements (russ. Priwislanskija gubernii)
oder Weichselgebiet (Priwislanskij kraj). Es grenzt im N. an die preuß. Provinzen West- und Ostpreußen und an das russ.
Gouvernement Kowno, im O. an Wilna, Grodno und Volhynien, im S. an das österr. Kronland Galizien, im W. an die preuß. Provinzen
Schlesien und Posen, und hat 127312,9 qkm mit 8308122 E., d. i. 65,3 auf 1 qkm. Das Land ist vorherrschend
Ebene, nur die südl. Teile haben als Ausläufer der Karpaten eine wellige, zum Teil bergige Oberfläche, deren höchste Erhebung
die Lysa-Gora (s. d.) ist. Im SW. nahe an der Grenze ist das Thal des Prondnik, die sog. Polnische Schweiz.
Die Mitte wird bewässert von der Weichsel (auf 424,6 km) und ihren Nebenflüssen (rechts: San, Wieprz, Bug-Narew; links: Nida,
Kamionna, Piliza und Bzura). Im Westen geht die Warta mit der Prosna zur Oder und der Nordosten gehört zum Gebiet des Niemen,
zum Teil von diesem selbst begrenzt. Seen sind im Norden zahlreich, aber nirgends von größerm Umfang.
Im südl. und südwestl. Teil finden sich Eisenerz, Kupfer, Zinn, Zink und besonders Steinkohlen. Ein Drittel des Landes ist
mit Wäldern bedeckt.
Der Boden ist fruchtbar. Die Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Polen, dann etwa 300000 Russen, 1,1 Mill. Juden, 440000
Deutschen, 300000 Litauern. Der Religion nach sind römisch-katholisch 79 Proz., mosaisch 14 Proz.,
andern Bekenntnisses 7 Proz. Hauptbeschäftigung ist Ackerbau. Gebaut werden neben Roggen, Gerste, Hafer ein vortrefflicher
Weizen. Bedeutend ist die Viehzucht, namentlich die Zucht span. Schafe, ferner Pferdezucht und
Bienenzucht in den Wäldern.
Bergmännisch gewonnen werden hauptsächlich Eisenerz und Steinkohlen (letztere jährlich etwa 130 Mill.
Pud). 1887 wurden erzeugt Eisen gegen 4 Mill., Stahl 3 Mill., Gußeisen 3,7 Mill. Pud. Es giebt 2288 Fabriken mit 164,5 Mill.
Produktion. Die Textilindustrie (besonders Woll- und Baumwollfabriken) konzentriert sich hauptsächlich in Lodz. Auch die Zuckerfabrikation
ist bedeutend (6 Mill. Rubel Produktion jährlich). Nach Aufhebung der russ.-poln.
Zollgrenze 1851 bildet Polen mit Rußland ein wirtschaftliches Gebiet; es hat schiffbare Flüsse und 2174 km Eisenbahnen. Hauptstapelplatz
für das Ausland ist Danzig. Ausgeführt werden
mehr
hauptsächlich Getreide, besonders Weizen, Holz, Ölsamen, Wolle, Vieh, Borsten, Roßhaare, Häute; eingeführt: Kolonialwaren,
Farbstoffe, Baumwolle, Rohseide und Seidenstoffe, Chemikalien, Maschinen, Metalle und Metallwaren, Wein und Kochsalz. Polen hat
eine Universität in Warschau, 21 Gymnasien, 7 Progymnasien, 4 Realschulen, 9 Lehrerinstitute und 2287 Volksschulen. Die Unterrichtssprache
in sämtlichen Schulen ist die russ. Sprache, die auch die Gerichts- und Geschäftssprache bildet.
An der Spitze des gesamten Unterrichtswesens steht der Kurator des Lehrbezirks Warschau. Die Verwaltung der röm.-kath. Kirche
wird vom Ministerium des Innern aus in Petersburg geleitet und der direkte Verkehr mit der röm. Kurie ist verboten. Die griech.-orthodoxe
Kirche steht unter dem Erzbischof von Warschau und Chelm, die evang.-luth. und die reform.
Kirche unter je einem Generalsuperintendenten, der zugleich Vorsitzender des betreffenden Gouvernements ist. Polen bestand anfangs
aus 8 Woiwodschaften, die 1846 in 5 und 1867 in 10 Gouvernements verwandelt wurden: Warschau, Kalisch, Petrikau, Radom, Kjelzy,
Lublin, Sjedlez, Plozk, Lomsha und Suwalki. Die selbständige Verwaltung des Landes hat seit 1863 überhaupt
aufgehört, und die oberste Leitung führt statt des frühern Statthalters seit 1874 ein russ. Generalgouverneur mit dem Sitz
in Warschau.
Geschichte.
1) Gründung, Verfall und Vereinigung des Reichs bis 1300. Als Fürsten der Vorzeit werden Lech und Popiel genannt. Nach
dem Tode des letzten Popiel schwang sich Piast (s. d.) zum Herrscher über Polen empor, mit dessen viertem
Nachfolger Mscislaw I. (s. d.; 962-992) dann die beglaubigte Geschichte P.s beginnt.
Diesem gelang es, die zahlreichen poln. Gemeinden zwischen Weichsel und Oder zu einem einheitlichen
Staatswesen zusammenzufassen; 966 nahm er das Christentum an und zwei Jahre später gründete er das Bistum
Posen.
Sein Sohn und Nachfolger Boleslaw I. Chrobry (s. d.) eroberte Pommern mit Danzig und benutzte den Thronstreit in Böhmen, um Krakau
und Sandomir (Kleinpolen) sowie Schlesien an sich zu bringen. Er begründete durch die Stiftung des Erzbistums Gnesen die kirchliche
Unabhängigkeit P.s von Deutschland und bereitete so die polit. Selbständigkeit vor (1000). Unter seinem
Sohne Mscislaw II. (s. d.) schwächten Bruderzwist und Bürgerkrieg die Macht des
Reichs. Während der vormundschaftlichen Regierung für Kasimir I. (gest. 1058) brach eine
Empörung des Adels und ein Kampf mit Břetislaw (s. d.) von Böhmen aus, die aber durch Dazwischenkunft
des deutschen Kaisers Konrad II. beendet wurden.
Kasimirs Sohn Boleslaw II. (s. d.) wurde wegen seiner Grausamkeit vertrieben (1079) und
sein Sohn vergiftet. Es folgte nun des Königs Bruder Wladislaw I. (gest. 1102), der als Schwager Kaiser Heinrichs IV. in ein
friedliches Verhältnis zu Deutschland trat. Nach dem Tode seines Sohnes Boleslaw III. (1139) wurde das Land
unter seine vier Sohne geteilt; der älteste, Wladislaw II., erhielt Krakau und Schlesien mit dem Seniorat, Boleslaw IV. Masowien
und Kujawien, Mscislaw Gnesen und Pommern, Heinrich Sandomir. Wladislaw II. wurde vertrieben (1146), und nach Boleslaws Tode (1173)
vereinigte Mscislaw III. Masowien, Kujawien und Krakau mit Großpolen; doch wurde er 1177 gestürzt und
der jüngste der Brüder, Kasimir II., zum König gewählt. Dieser brachte außer Sandomir
noch Gnesen zum Reich. Unter Kasimirs
Sohn Leszek (1194-1227), dem ersten Wahlfürsten in Polen, und dessen Sohn Boleslaw V. (gest. 1279) wurden ganze Landschaften
von Polen losgerissen.
Nicht nur trat Schlesien allmählich aus dem Verbände mit Polen, auch Pomerellen machte sich unter Herzog Swatopluk
unabhängig; die heidn. Preußen und Litauer machten zudem fortwährend die Nordgrenzen des Reichs unsicher, bis die Not Konrad
von Masowien zwang, die Deutschen Ritter herbeizurufen, die, vereinigt mit dem Polenheer unter Führung Herzog Heinrichs
von Breslau in der Schlacht an der Sirgune (1233) den Preußen eine entscheidende Niederlage beibrachten.
Seit jener Zeit war die Herrschaft des Ordens gesichert, und Polen beteiligte sich nicht weiter am Kampfe gegen die Preußen.
Den Mongolen, die das östl. Europa in der schrecklichsten Weise heimsuchten, auch Volhynien, ganz Ungarn,
Südpolen bis nach Schlesien hin überschwemmten, stellte sich Herzog Heinrich der Fromme von Schlesien, im Verein mit Boleslaw
von Mähren, den Großpolen und den Deutschen Ordensrittern mit einem poln.-schles. Heere bei Liegnitz 1241 entgegen.
Heinrich fiel; die Zerfahrenheit im Innern und den unaufhörlichen Zwist unter den Landesfürsten, die nach seinem
Tode herrschte, benutzten die Nachbarn, um das wehrlose Land zu verwüsten und ein Stück nach dem andern von demselben abzutrennen.
Zudem machten die Tataren wiederholentlich Einfälle in die poln. Gebiete. So geschah es, daß man 1300 dem
König Wenzel von Böhmen, der schon Kleinpolen beherrschte, die poln. Krone übertrug; er stellte durch
sein kräftiges Eingreifen die Ruhe im Reiche endlich wieder her.
2) Blüte des Reichs 1300-1572. Auf Wenzel von Böhmen folgte Wladislaw IV. (1306-33); er machte Krakau wieder zu einer rein
poln. Stadt, die nach seiner Krönung 1320 Krönungsstadt (an Stelle von Gnesen) fortan blieb. Kleinpolen gewann dadurch an
Bedeutung, während Großpolen an Ansehen verlor. Besonders bekämpfte er mit aller Macht den Deutschen Orden und stärkte
dadurch das Nationalbewußtsein. Wladislaws Sohn Kasimir III. d. Gr. (s. d.;
1333-70) überließ dem Deutschen Orden 1343 das Kulmer Land, Nessau und Pommern.
Für das im Westen durch die Abtretung Schlesiens an Johann von Böhmen geschmälerte Reichsgebiet eroberte
er 1366 im Osten die russ. Fürstentümer Halicz und Wladimir und vereinigte, nach dem Aussterben der
Herzogsgeschlechter, Kujawien, Lentschiza und Dobrzyn mit dem Königreich. Ihm folgte Ludwig von Ungarn (1370-82), der als Enkel
Wladislaws IV. Ellenlang die nächsten Ansprüche hatte. Seine Tochter Hedwig, zur Nachfolgerin bestimmt, mußte
auf Verlangen des Adels 1386 dem Großfürsten Jagello (s. d.) von Litauen ihre Hand reichen.
Dadurch kamen die Jagellonen (bis 1572) auf den poln. Thron und eine Vereinigung von Polen und Litauen zu stande. Polen wurde jetzt
der mächtigste Staat im östl. Europa; es bestand aus dem Königreich (d. i. Gebiet Krakau und die Herzogtümer
Schlesien, Kujawien, Masowien) und dem Großfürstentum Litauen; gegen die Ostsee ward es abgegrenzt durch das Gebiet des Deutschen
Ordens. Auf einem Flächenraum von 1 Mill. qkm wohnten etwa 35 Mill. E. Am wurden bei Tannenberg die Ordensritter
unter Führung Ulrichs von Jungingen von Jagello geschlagen: doch im ersten Thorner Frieden Febr. 1411 trat
der Orden
mehr
nur Samogitien ab. 1413 wurde die Vereinigung Litauens mit Polen und die Gleichstellung des Adels beider Länderteile ausgesprochen. 1433 wurde
Rotrußland und Podolien unauflöslich mit der Krone Polen verbunden.
Auf Jagello (gest. 1434) folgte sein Sohn Wladislaw III., der, als Kaiser Albrecht starb, 1440 auch die Krone von Ungarn erhielt;
doch verlor er im Kampfe gegen die Türken bei Warna Nov. 1444 sein Leben. Die Verbindung Ungarns mit Polen löste sich wieder
auf. Dort wurde Albrechts nachgeborener Sohn Wladislaw (Ladislaus, s. d.) König, während
in Polen nach einem Interregnum von drei Jahren der zweite Sohn Jagellos, Kasimir IV. (s. d.),
den Thron bestieg. Der 13jährige Kampf mit dem Deutschen Orden erreichte erst 1466 durch den zweiten Frieden
zu Thorn sein Ende, in welchem der Orden Westpreußen und Ermland an Polen abtreten mußte, Ostpreußen aber als poln. Lehn behielt.
Auf Kasimir IV. (gest. 1492) folgten kurz hintereinander seine drei Söhne: Johann I. Albrecht (1492-1501),
Alexander (1501-6), Sigismund I. (1506-48). Der Versuch des Hochmeisters Albrecht von Brandenburg, Westpreußen wiederzuerobern,
mißlang; doch erhielt Albrecht 1525 die Anerkennung als weltlicher Herzog von Preußen unter poln. Lehnshoheit. Während der
Regierungszeit Sigismunds fand auch die luth. Lehre in Polen Eingang, besonders in Westpreußen, ferner in Ostpreußen, nachdem
der Hochmeister Albrecht mit fast allen Ordensrittern zu ihr übergetreten war.
Sigismunds Sohn und schon bei Lebzeiten des Vaters gekrönter Nachfolger war Sigismund II. August (1548-72), der seinen Plan,
die allmählich erworbenen Länder Litauen, Preußen, Volhynien, Podolien und die Ukraine mit Polen zu einer Staatseinheit zu
verbinden und einen gemeinsamen Reichstag für diese Gebietsteile zu konstituieren, endlich zu stande
brachte in der Lubliner Union 1569. Unter ihm erreichte Polen auch seine größte Ausdehnung, fast 940000 qkm mit etwa 35 Mill.
E.
3) Polen als Wahlreich bis zur dritten Teilung 1572-1795. Der Tod Sigismunds (1572), mit dem der jagellonische Mannsstamm ausstarb,
gab dem bisher nur der Theorie nach bestehenden Recht der Königswahl eine praktische Bedeutung: Polen gestaltete
sich seit 1572 zu einem wirklichen Wahlreiche. Von den verschiedenen Bewerbern um die poln. Krone kamen 1572 eigentlich nur
zwei in Betracht: der Erzherzog von Österreich, Sohn Maximilians II., und Heinrich von Valois (s. Heinrich
III., König von Frankreich).
Letzterer wurde 1573 gewählt und beschwor die Pacta conventa; doch verließ er bereits nach drei Monaten, im Juli 1573, Polen, um
als nächster Erbe den durch den Tod seines Bruders Karl IX. erledigten franz. Königsthron zu gewinnen, worauf 1575 Stephan Bathory
als König erwählt wurde. Nach dessen Tode 1586 erfolgte die Wahl des schwed. Prinzen Sigismund III.,
der die beiden ersten nordischen Kronen zu vereinigen suchte. Aber Schweden riß sich bald von dieser Verbindung los.
Infolgedessen entbrannte ein langwieriger Krieg zwischen Polen und Schweden, der erst durch den Frieden zu Oliva 1660 beendigt
wurde; Polen verlor Livland und 1657 die Lehnshoheit über das Herzogtum Preußen. Nach dem Tode des Johann
(s. d.) Sobieski (1674-96) schien der Thron dem Meistbietenden zuzufallen, jede Großmacht erkaufte sich für ihren Thronkandidaten
eine Partei des Adels. Als der Kurfürst von Sachsen, August II. (s. d.),
sich gegen den franz.
Prinzen Conti behauptete und sich an Peter I. von Rußland anschloß, wurde Polen in den Nordischen Krieg (s. d.)
verwickelt.
Unter den siegreichen Waffen Karls XII. entsetzte der poln. Reichstag 1704 August II. des Throns und wählte Stanislaus (s. d.)
Leszczynski zum Könige, der aber schon 1709 die Krone an jenen zurückgeben mußte. Nach Augusts II. Tode 1733 versuchte
Stanislaus mit franz. Unterstützung den Thron wiederzugewinnen, aber mit Hilfe Rußlands und Österreichs erlangte August III.
(s. d., 1733-63) die poln. Krone; nach dessen Tode ward durch die Bemühungen der Kaiserin Katharina II. 1764 die Wahl des Grafen
Stanilaus August Poniatowski (s. Stanislaus II. August) zum König von Polen durchgesetzt. Als Rußland sich
darauf der Sache der Dissidenten annahm, erhob sich die Barer Konföderation (s.d.), die Polen in wilde Unordnung brachte.
Das gab Österreich, Rußland und Preußen den willkommenen Vorwand, die lange beabsichtigte Teilung P.s vorzunehmen. Die drei
Mächte schlossen darüber einen Vertrag, und die Republik Polen genehmigte die schon
vollzogene Teilung (erste Teilung), durch welche Polen von den 750000 qkm, die es damals noch enthielt, gegen 214000 verlor. Österreich
erhielt die Grafschaft Zips, die Hälfte der Woiwodschaft Krakau, einen Teil der Woiwodschaft Sandomir, die Woiwodschaft Lemberg,
das Land Halicz, die Woiwodschaft Belz und den westlichsten Teil von Podolien, zusammen 70480 qkm mit 2700000
E.;
Preußen ganz Polnisch-Preußen, mit Ausnahme von Danzig und Thorn, und den Netzedistrikt, zusammen 34745 qkm mit 416000
E.;
Rußland das poln. Livland, die Hälfte der Woiwodschaft Polozk, die Woiwodschaften Witebsk und Mstislaw und einen Teil
von Minsk, zusammen 108750 qkm mit 1800000 E. Eine patriotische Partei begann nunmehr an der Wiederherstellung
P.s zu arbeiten;
aber Rußland fand Verbündete an einem Teil des poln. Adels, der zu Targowitz eine Konföderation gegen die
bereits vom Reichstage angenommene Konstitution (vom geschlossen hatte.
Hierauf verließ Preußen die Sache
der Republik und willigte in eine zweite Teilung P.s. Rußland bekam 250700 qkm mit 3 Mill. E., die Reste der Woiwodschaften
Polozk und Minsk, die Hälfte der Woiwodschaften Nowgorodek und Brzesc, den östl. Grenzstrich
der Woiwodschaft Wilna, die Ukraine (die Woiwodschaften Kiew und Braclaw), Podolien und die östl.
Hälfte Volhyniens; Preußen 58370 qkm mit 1100000 E., die Woiwodschaften Posen, Kalisch, Sieradz, Lenczic und halb Rawa, nebst
Danzig und Thorn, die Hälfte der Woiwodschaft Brzesc, das Ländchen Dobrzyn, die Woiwodschaft Plock, das Land Wielun und die
Festung Czenstochau.
Preußen bildete daraus die neue Provinz Südpreußen. Da erhob sich Kosciuszko (s. d.) an der
Spitze der Konföderation von Krakau, März 1794, zum Kampfe für Vaterland und Freiheit. Doch es war zu spät. Ohne Festungen,
ohne Taktik, ohne Bundesgenossen, ja ohne Waffen, mußte die Nation gegen Russen, Preußen und Österreicher nach dem Tage von
Maciejowice, 10. Okt., und nach dem Falle von Praga, unterliegen. Hierauf ward durch Traktat vom die
dritte Teilung P.s endgültig geregelt und Polen aus der Reihe der Staaten gestrichen. Rußland erhielt 111780 qkm mit fast 1200000
E., Preußen 54398 qkm mit beinahe
mehr
1 Mill. E. und Österreich 45922 qkm mit mehr als 1 Mill. E. Stanislaus August erhielt ein Gnadengehalt, das er in Petersburg
verzehren mußte, wo er 1798 starb.
4) Polen nach der Teilung bis zur Gegenwart. Die Ausbreitung der Napoleonischen Macht, für die eine poln.
Legion unter Dombrowski (s. d.) gestritten, gab einem
Teile von Polen wieder eine scheinbare nationale Existenz. Aus dem Tilsiter Frieden und den Abtretungen Preußens ging 1807 das
Herzogtum Warschau hervor, welches in König Friedrich August I. (s. d.) von Sachsen seinen Regenten erhielt und nach franz.-rheinbündischen
Grundsätzen organisiert ward. Der Wiener Friede (Okt. 1809) vergrößerte das Herzogtum durch die Erwerbung
von Neugalizien, und es erwachte die Hoffnung, Napoleon werde mit der Wiederherstellung P.s Ernst machen.
Wie unbegründet diese Erwartung war, erwies sich im Feldzuge von 1812, indem Napoleon nur Soldaten aus Polen ziehen wollte und
an eine Entflammung des Nationalgeistes nicht dachte. Das Herzogtum Warschau fand durch die Katastrophe
von 1812 sein rasches Ende. Nach der Bestimmung des Kongresses zu Wien sollte fortan die Stadt Krakau mit ihrem Gebiet eine
selbständige Republik bilden, der 1810 an Rußland abgetretene Tarnopoler Kreis an das österr. Königreich Galizien zurückfallen,
der Kulmische und Michelauische Kreis, Thorn mit seinem Gebiete, ferner Posen und Teile von Kalisch unter
dem Namen eines Großherzogtums Posen an Preußen abgetreten, alles übrige aber mit dem Russischen Reiche als Königreich Polen vereinigt
werden.
Eine Verfassung, die Kaiser Alexander I. erließ, versprach den Polen eine aus zwei Kammern bestehende Landesvertretung
und eine eigene Verwaltung, die in Abwesenheit des Zaren ein Statthalter führen sollte. Zwar wurde der
erste Reichstag eröffnet, aber durch die Zusatzakte zur Konstitution (Febr. 1825) ward die Preßfreiheit
beschränkt und die zweijährige Periodicität und Öffentlichkeit der Reichstagsverhandlungen aufgehoben. Der Tod des Kaisers
Alexander verschlimmerte das Verhältnis.
Der russ. Militärgouverneur Großfürst Konstantin herrschte unbeschränkt, und seit 1826 wurde die Statthalterschaft
nicht wieder besetzt. Unter diesen Verhältnissen gewann der Gedanke, die russ. Herrschaft abzuschütteln, immer mehr Anhänger
im Lande. Geheime Verbindungen unter der Jugend, im Heere, zahlreiche litterar. Vereine u. s. w. waren die Träger jener Idee.
Unter den Gelehrten war es namentlich Lelewel (s. d.), unter
den Dichtern Mickiewicz (s. d.), welche die Pflege dieser nationalen Opposition
auf dem geistigen Gebiet leiteten.
Infolge der Nachrichten von den gelungenen Revolutionen in Frankreich, Belgien u. s. w. brach die Insurrektion in
Warschau aus. Ein Häuflein Akademiker und Fähnriche überfiel am Abend das Belvedere, die Residenz des Großfürsten,
und dieser verließ mit einem Teile der Truppen (die andern waren übergegangen) die Hauptstadt. Bis zum hatten
die Russen das Königreich Polen vollständig geräumt, und das ganze Land erklärte sich einmütig für die Bewegung.
Den Oberbefehl über die Armee erhielt General Chlopicki (s. d.); auch ward eine provisorische
Regierung unter dem Vorsitze des Fürsten Adam Czartoryski (s. d.) bestellt. Während aber die Demokraten offenen Bruch mit
Rußland wollten, dachte die Aristokratie und namentlich Chlopicki an eine
friedliche Ausgleichung mit dem Zaren. Letzterer
drang jedoch auf unbedingte Unterwerfung, woraufhin Chlopicki seine Stelle niederlegte; Fürst Michael Radziwill ward an seiner
Statt zum Oberbefehlshaber des Heers gewählt.
Nunmehr sprach der seit Dezember versammelte Reichstag die Absetzung des Hauses Romanow vom poln. Throne aus. Aber
unterdes war der russ. Feldmarschall Diebitsch-Sabalkanskij (s. d.)
mit 120000 Mann über den Bug gerückt und drang gegen Warschau vor. Vom 14. Febr. an folgte Gefecht auf Gefecht.
Nachdem die Vereinigung der verschiedenen russ. Armeekorps trotz aller Hindernisse bewerkstelligt worden war, kam es 25. Febr. bei
Grochow zur Schlacht. Nach tapferster Gegenwehr mußten die Polen sich über die Weichsel nach Warschau zurückziehen.
Radziwill legte das Kommando nieder und erhielt zum Nachfolger den General Skrzynecki. Die Hauptarmeen standen
sich darauf wochenlang beobachtend gegenüber, bis 26. Mai eine zweite Hauptschlacht bei Ostrolenka (s. d.) ohne Entscheidung
erfolgte. Zu der beiderseitigen Erschöpfung kam noch der Ausbruch der Cholera, die in Polen auf die furchtbarste Weise wütete
und im Juni auch Diebitsch und den Großfürsten Konstantin hinwegraffte. So fand abermals eine längere
Waffenruhe statt. Inzwischen waren die diplomat. Agenten der Warschauer Regierung im Auslande bemüht, für Polen Unterstützung
nachzusuchen; aber sie fanden überall nur unfruchtbare Sympathien.
Der neue Befehlshaber der russ. Armee, Paskewitsch (s. d.), bewerkstelligte 27. bis 29. Juli den Weichselübergang
bei Wroclawek, unweit der preuß. Grenze; dann rückte er auf dem linken
Ufer langsam gegen das auf dieser Seite schlecht befestigte Warschau vor. Da Skrzynecki eine Schlacht anzunehmen zögerte,
ward er (10. Aug.) des Oberbefehls entsetzt und Dembinski zu seinem Nachfolger ernannt; aber auch dieser mied die Schlacht und
zog sich auf Warschau zurück. Unter dem Eindruck dieser Vorgänge erfolgten dort die blutigen Scenen
der Nacht vom 15. zum 16. Aug.; mehrere gefangene Generale, des Verrats bezichtigt, wurden aus den Gefängnissen gerissen und
ermordet. Die Regierung, an deren Spitze noch immer Fürst Czartoryski stand, dankte ab, und der Reichstag ernannte 17. Aug. den
General Krukowiecki zum Regierungspräsidenten, während General Malachowski den Oberbefehl über das Heer
erhielt. Paskewitsch rückte mit seiner ganzen Macht gegen Warschau vor. Am 6. und 7. Sept. stürmten die Russen die Stadt; die
Polen leisteten verzweifelten Widerstand, aber die Übermacht war zu groß. Da schloß Krukowiecki 7. Sept. morgens eine Kapitulation
mit Paskewitsch, der gemäß Polen unter Ausbedingung einer Amnestie sich unterwarf. Allein der Reichstag
wollte diesen Vertrag nicht genehmigen, worauf Krukowiecki abdankte und Niemojewski Regierungspräsident wurde. Dieser schloß
am Abend des 7. Sept. eine bloß militär. Kapitulation, wodurch Warschau und Praga den Russen übergeben wurden; dagegen erhielten
die poln. Regierung, Reichstag und Armee freien Abzug nach der Festung Modlin. Von dort aus wurden nochmals
Unterhandlungen mit Paskewitsch angeknüpft; dieser forderte unbedingte Unterwerfung und Eidesleistung für den «Kaiser» Nikolaus.
Lieber aber gingen die Polen in die Verbannung. Der Rückzug ward von Modlin über Plock nach der preuß. Grenze fortgesetzt.
Am 25. Sept. traten Regierung und Reichstag
mehr
hinüber, 5. Okt. folgte Rybinski mit der Hauptarmee, worauf auch die letzten poln. Festungen Modlin
und Zamosc (9. und 24. Okt.) sich den Russen ergaben.
Die Amnestie, die verkündigt wurde, enthielt zahlreiche Ausnahmen. Die Konstitution von 1815 wurde aufgehoben,
und an die Stelle der Verfassung trat das Organische Statut vom 14. (26.) Febr. 1832. Dasselbe hob den Reichstag
auf und ersetzte ihn durch einen Staatsrat, dessen Mitglieder, die nicht geborene Polen zu sein brauchten, der Kaiser ernannte.
Die oberste Leitung der Verwaltung wurde einem Administrationsrate übertragen, der unter dem Statthalter Paskewitsch stand.
Mit diesem System eng verbunden war die Strenge polizeilicher Überwachung, die Absperrung des Landes vom
Verkehr mit dem Auslande, die Hemmung jeder nichtruss. Thätigkeit in der Presse. Die alten Lehranstalten wurden in russ. Sinne
umgestaltet, niemand sollte auf russ. Universitäten zugelassen werden, kein poln. Edelmann ins Militär eintreten können,
überhaupt seit 1840 niemand ein öffentliches Amt erhalten, der nicht der russ. Sprache mächtig sei.
Die Woiwodschaften wurden in Gubernien umgewandelt. Das poln. Münzwesen wurde durch einen Ukas von 1842 auf den russ. Fuß
gesetzt und überhaupt die Umwandlung der poln. Verhältnisse ins Russische konsequent durchgeführt.
Indessen waren die poln. Emigrierten, besonders die demokratische Partei in Paris, unermüdet thätig,
eine neue Erhebung vorzubereiten. Zwischen dem 17. und sollte dieselbe stattfinden. Aber der zum Lenker des poln.
Aufstandes bestimmte Mieroslawski (s. d.) ward bei Gnesen gefangen, viele Verdächtige in Posen und Westpreußen wurden verhaftet.
Krakau verlor infolge des Aufstandes, vermöge einer Verabredung der östl. Mächte, seine Unabhängigkeit
und ging im Nov. 1846 an Österreich über.
Durch die Revolution von 1848 erhielt die kaum beschwichtigte Bewegung in Polen einen neuen Anstoß. In Krakau ward gleich nach
dem Ausbruch der Wiener Märzrevolution von 1848 eine Amnestie verkündigt. Rasch strömten nun Emissäre und Ausgewanderte
nach dem österreichischen Polen, und als die Behörden dem weitern Zuströmen wehren wollten, brach 26. April eine
Bewegung los, die nur nach heftigem Kampf unterdrückt ward. In Preußen waren infolge der Berliner Märzrevolution die gefangenen
Führer der Polenverschwörung von 1846 befreit worden, und eine poln. Deputation, die um nationale
Reorganisation Posens petitionierte, erhielt die Verheißung, daß ihr Verlangen erfüllt werden sollte.
Eine königl. Kabinettsorder vom schied das Gebiet des Großherzogtums in ein östliches,
zur poln. Reorganisation bestimmtes, welches eigene konstitutionelle Verfassung, nationalen Schulunterricht, Gerichtsverfassung
und Verwaltung erhalten sollte, und in ein westliches, mit der Festung Posen, welches zur Aufnahme in den
Deutschen Bund bestimmt war. Indessen dauerten die aufrührerischen Bewegungen fort, bis General Pfuel Mitte Mai 1848 dem Aufstande
ein Ende machte.
Die Politik der Restauration machte 1850 alle Zugeständnisse an die Polen wieder rückgängig. In Russisch-Polen schritt
die Politik der Einverleibung rücksichtslos fort, und 1851 fiel auch die Zolllinie zwischen Polen und
Rußland. In Österreich ward 1850 und 1851 die Gesamtstaatspolitik auch auf Galizien angewandt und das Land auf österr. Fuß
organisiert. Die poln.
Emigration fand zwar in den ungar. Kämpfen
von 1848 und 1849 einen neuen Schauplatz ihrer Thätigkeit; aber die Hoffnungen, die sie an die Thronbesteigung Napoleons
III. knüpfte, erwiesen sich schon während des Orientkrieges als trügerisch.
Im Königreich Polen machte sich die nationale Opposition zu Ende 1860 wieder bemerkbar. Am als dem Jahrestag
der Schlacht bei Grochow, ward in Warschau eine großartige Prozession veranstaltet, bei welcher Gelegenheit es zu Konflikten
kam, die trotz des strengen Militärregiments unter General Lüders fortdauerten; die Bewegung pflanzte
sich sogar über die poln. Grenze fort, so daß auch im Gubernium Wilna der Belagerungszustand erklärt wurde. Am Todestage
Kosciuszkos kam es in Warschau wiederum zu blutigen Demonstrationen.
Mehrere Tausende aus allen Ständen, die sich bei der Bewegung hervorgethan hatten, wurden eingekerkert
oder in das innere Rußland und Sibirien deportiert, und der Belagerungszustand ward mit größter Strenge gehandhabt. Am wurde
der Bruder des Kaisers, Großfürst Konstantin Nikolajewitsch, zum Statthalter des Königreichs Polen ernannt und ihm Wielopolski
als Chef der Civilverwaltung und Vicepräsident des poln. Staatsrats zur Seite gestellt; 3. Juli fand ein
Mordversuch gegen den Großfürsten, 7. und 15. Aug. auch gegen Wielopolski statt.
Der offene Ausbruch einer neuen poln. Insurrektion ward durch eine Rekrutierung beschleunigt, die die Warschauer Regierung
besonders gegen die aus Anlaß der letzten Unruhen «schlecht Notierten» vornehmen ließ.
Es kam zu blutigen Gefechten zwischen den willkürlich Ausgehobenen und dem russ. Militär, und bald war der
Kampf allgemein. Das geheime Warschauer Centralkomitee trat jetzt als Nationalregierung auf und rief durch Proklamation vom 22. Jan. das
poln. Volk zu den Waffen; doch konnten weder Mieroslawski, noch Langiewicz, noch Czechowski Erfolge gegen
die Russen erzielen.
Dagegen kämpften die Aufständischen siegreich bei Ponin (21. März), bei Kalisch (22. März) und bei Warka (25. April). Im Königreich Polen konnte
die russ. Militärmacht alle größern Städte in Unterwerfung erhalten und jede Organisation stärkerer Insurgentenmassen
verhindern. Ende März 1863 wurde General Graf Berg zum Adlatus des Großfürsten-Statthalters und nach
dem Rücktritt Wielopolskis (7. Juli) zum Vicepräsidenten des poln. Staatsrats bestellt. Der Großfürst Konstantin verließ Warschau
und wurde 31. Okt. auf Ansuchen seines Amtes enthoben, worauf Berg definitiv zum Statthalter und Oberbefehlshaber in Polen ernannt
wurde. Dieser schritt mit äußerster Energie ein. Entscheidend für den Ausgang der Insurrektion war,
daß es der russ. Regierung gelang, den Bauernstand vollends auf ihre Seite zu ziehen. Zuerst in Litauen dann
in Rotrußland und endlich im Königreich Polen erhielten die Bauern durch kaiserl. Ukas ihre bisherigen
Pachthöfe zu freiem Eigentum verliehen; sie wurden von allen bisherigen Leistungen an die Gutsbesitzer
befreit und sollten nur eine verhältnismäßig geringe Grundsteuer an die Staatskasse bezahlen. Die Entschädigung der Grundbesitzer
übernahm der Staat. Zu Anfang 1864 war die Insurrektion im ganzen erloschen, und die geheime Nationalregierung stellte seit
Februar ihre Thätigkeit allmählich ein. Ein Ukas vom
mehr
gebot, daß das gesamte Eigentum der kath. Kirche in die Verwaltung des Staates genommen und die Geistlichkeit auf feste Staatsbesoldung
gesetzt werde. Gleichzeitig wurden Litauen, wo Murawjew (s. d.) mit größter Strenge vorging, und Rotrußland vollends russifiziert.
Am ward sogar durch kaiserl. Erlaß für die neun westruss. Gubernien allen Personen poln. Herkunft
verboten, daselbst Güter neu zu erwerben, außer auf dem Wege gesetzlicher Erbschaft.
Mit dem russ. Reichsrate war seit 1864 eine Kommission für die Angelegenheiten P.s verbunden, deren Kompetenz dahin
erweitert wurde, daß ihr die einheitliche Durchführung der vorzunehmenden Reformen und die oberste Entscheidung
aller wichtigen Administrativangelegenheiten, unter dem persönlichen Vorsitze des Kaisers, zustehen sollte. Der Staatsrat
und der Verwaltungsrat in Warschau wurden aufgelöst und der Statthalter Berg behielt neben dem Oberbefehl des Militärs nur
die Überwachung der Verwaltung.
Von den selbständigen Institutionen P.s fiel demnach eine nach der andern. Am wurde die poln.
Postverwaltung dem russ. Postministerium untergeordnet, zugleich eine neue Einteilung P.s, «des Weichsellandes», in 10 Gouvernements
und 85 Kreise verfügt; die Gouverneure erhielten gleiche Rechte mit denen in Rußland. Infolge der Aufhebung des Konkordats
von 1847 unterstellte der Ukas vom die Angelegenheiten der kath. Kirche dem röm.-kath. geistlichen
Kollegium zu Petersburg und untersagte dem Klerus jeden direkten Verkehr mit dem Papst.
Die Universität Warschau wurde durch Ukas vom vollständig russifiziert, in allen Schulen P.s ward das Russische
als alleinige Unterrichtssprache vorgeschrieben, die poln. Sprache nur fakultativ gelehrt. Vom 13. Jan.(1. Jan. alten
Stils) 1869 an hatte nur der russ. Kalender in Polen Gültigkeit. Ein Ukas vom 19. April verfügte die Einrichtung von Kameralhöfen
in den zehn poln. Gouvernements, die ihre Thätigkeit mit Juli 1869 begannen. Damit ward die
noch in Warschau bestehende Finanzverwaltung aufgehoben und die oberste Leitung der Angelegenheiten des
Kassenwesens, der direkten und indirekten Steuern, der poln. Staatsschuld, der Berechnung mit fremden Regierungen, der Polnischen Bank
und der Landschaftlichen Kreditgesellschaft dem russ. Finanzministerium übertragen. 1870 erfolgte
die Degradation von 300 Städten (zwei Drittel des Bestandes) in Dorfgemeinden.
Darauf trat auch eine Reform der Justiz ein und wurden alle Gerichte mit russ. Richtern besetzt. Nach dem
Tode Bergs (1874) wurde Graf Paul Kotzebue und, nachdem dieser 1880 zurückgetreten war, der General Albedynski Generalgouverneur
von Polen. Nach dessen Tode 1883 ward General Gurko zum Generalgouverneur ernannt, der mit neuer Energie gegen alles Polnische auftrat.
Im Juli 1884 wurde in Warschau eine Verschwörung entdeckt; gegen 200 Personen, zum Teil den Arbeiterkreisen
angehörig, wurden verhaftet, von den Führern 1885 vier hingerichtet, die andern zu Zwangsarbeit oder Deportation verurteilt.
Um dem poln. Element das Eindringen in die russ. Provinzen zu erschweren, befahl ein kaiserl. Erlaß vom daß kein
Pole in den zehn Westprovinzen Grund und Boden erwerben dürfe.
Durch den Erlaß vom wurde in den poln. Elementarschulen die russ.
Sprache für die Unterrichtssprache in allen Fächern, außer im Religionsunterricht,
erklärt. Unter solchen Umständen
war es erklärlich, daß Polen an allen Verschwörungen sich beteiligten und auch an dem auf Kaiser Alexander
III. geplanten Attentat vom einige Polen teilnahmen. Dies Attentat gab den ersten Anstoß zu Verhandlungen mit dem
Papst, um einige schon lange verwaiste Bistümer wieder zu besetzen; so wurde das Bistum von Wilna sowie das von Lublin wieder
besetzt (Frühjahr 1890). Aber trotzdem haben die Bischöfe keinen freien Verkehr mit dem Papst, selbst
den einzelnen Geistlichen ist es untersagt, ohne einen Paß für jeden einzelnen Fall die Grenzen ihrer Pfarre zu verlassen.
Unter Nikolaus II. wurde (Dez. 1894) an Stelle Gurkos Graf Schuwalow zum Generalgouverneur ernannt.
Litteratur. Außer den poln. Werken von Naruszewicz, Niemcewicz, Bandtke, Lelewel, Mickiewicz, Chodzko, Schmitt
und Szujski vgl.: Rulhière, Histoire de l'anarchie de Pologne et du démembrement de cette
république (4 Bde., Par. 1807);
Oginski, Mémoires sur la Pologne et les Polonais depuis 1788-1815 (4 Bde., ebd. 1826), und
dessen Observations sur la Pologne et les Polonais pour servir d'introduction aux Mémoires etc. (ebd.
1827);
Roepell und Caro, Geschichte P.s (Bd. 1-5, Gotha 1840-86);
Roepell, Polen um die Mitte des 18. Jahrh. (ebd. 1876);
Spazier,
Geschichte des Aufstandes des poln. Volks in den J. 1830-31 (3 Bde., Altenb. 1832 und
Stuttg. 1834);
Soltyk, La Pologne (2 Bde., Par. 1833);
Brzozowski, La guerre de Pologne en 1831 (Lpz. 1833);
Forster, Pologne (Par. 1840);
Ssolowjew, Geschichte
des Falles von Polen (deutsch von Spörer, Gotha 1865);
von Moltke, Darstellung der innern Verhältnisse in Polen (Berl. 1832);
Knorr,
Die poln. Aufstände seit 1830 (ebd. 1880);
Edwards, The private history of a Polish insurrection (Lond. 1865);
Ferrand, Les trois démembrements de la Pologne (3 Bde., 2. Aufl.
hg. von Ostrowski, Par. 1864);
Beer, Die erste Teilung P.s (3 Bde., Wien 1873);
Bielowski, Monumenta Poloniae historica (2 Bde.,
Lemb. 1875);
Codex diplomaticus Maioris Poloniae (4 Bde., Pos. 1877-81);
Schiemann, Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrh.
(2 Bde., Berl.
1886-89);
Zeitschrift der Histor.
Gesellschaft für die Provinz Posen (Pos. 1886-94); von der Brüggen, P.s Auflösung (Lpz. 1878).
Geogr.-statist. Werke sind: Chodzko, Tableau de la Pologne (2 Bde., Par.
1830);
Andree, Polen in geogr., statist. und kulturhistor.
Hinsicht (Lpz. 1831); Possart, Lukaszewicz und Mulkowski, Das Königreich
Polen und der Freistaat Krakau (Stuttg. 1840); Hervet, Ethnographie
P.s (Wien 1871).