Poetische Epistel
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Poetische
Epistel
(griech.), im allgemeinen »Brief«; dann besonders eine Dichtungsart, die dazu dient, einem supponierten Subjekt Gelegenheit zu geben, auf die Vorstellung, das Gefühl oder den Willen eines ¶
Zweiten einzuwirken, an welchen sie gerichtet ist. Es ist zwar nicht notwendig, daß die Personen, welche Briefe wechseln,
fingierte seien oder gar bloße wesenlose Abstraktionen von bestimmten Menschenklassen, wohl aber, daß der Inhalt ein allgemein
interessanter sei. Über diesem Bestreben darf aber der Dichter keineswegs vergessen, den allgemein interessanten Inhalt
den bestimmten Individualitäten des Schreibers und Empfängers anzupassen, d. h. er muß sich bestreben, der poetischen
Wahrheit
in Personen und Individualitäten gerecht zu werden.
Die Briefe dieser Art sind meist in Hexametern oder Distichen geschrieben; im Deutschen möchte sich noch besser der Iambus in
freier Behandlung mit wechselnden Füßen (wie ihn Uz, Michaelis, Wieland und besonders v. Göckingk anwendeten)
zur Epistel
eignen; die Franzosen gebrauchen dazu den Alexandriner. Was den materiellen Inhalt der poetischen
Epistel
anbelangt, so wird
entweder ein Faktum poetisch dargestellt (epische Epistel
), oder es werden subjektive Vorstellungen und Gefühle des Briefschreibenden
zur Darstellung gebracht (lyrische Epistel
). In den meisten Fällen wird der Briefschreiber seinem Freund irgend
eine Wahrheit mitteilen wollen, und dann wird die Epistel
didaktisch, wie die meisten der Briefe des Horaz (z. B. die berühmte
»Epistola ad Pisones«). - In der Theologie versteht man unter Episteln
die im Neuen Testament enthaltenen Briefe der Apostel; dann
die Abschnitte aus den letztern (epistolische Perikopen), welche an Sonn- und Festtagen am Altar
[* 5] verlesen
zu werden oder der Predigt zu Grunde zu liegen pflegen.