Physiolŏgie
(grch.), ursprünglich gleichbedeutend mit Physik, Naturlehre, bezeichnet
die Wissenschaft von den regelmäßigen Funktionen in den sog. belebten Körpern oder Organismen,
den
Tieren und
Pflanzen.
Alle denselben zukommenden eigentümlichen Funktionen lassen sich im wesentlichen als regelmäßige
Veränderungen ihrer chem.
Bestandteile, der in ihnen wirkenden physik. Kräfte und ihrer morpholog. Formelemente
betrachten. Während man früher den
Grund dieser Eigentümlichkeiten in besondern, den Organismen eigentümlichen vererbbaren
Fähigkeiten suchte, deren
Summe man als
Lebenskraft (s. d.) bezeichnete, haben die neuern Untersuchungen zu der sichern
Erkenntnis geführt, daß in den belebten Organismen dieselben physik. und chem. Kräfte nach
denselben Grundgesetzen wirken, die auch in der unorganischen Natur sich kundgeben. Dies im einzelnen
des Genauern nachzuweisen, ist
Aufgabe und Ziel der Physiologie.
Die Physiologie trennt man nach der Verschiedenheit ihrer Objekte in die
Tier- oder Zoophysiologie
, deren Gegenstand die Erforschung der normalen Funktionen des tierischen und menschlichen Körpers
bildet, und in die
Pflanzen- oder Phytophysiologie
, die
Lehre
[* 2] von den Verrichtungen der lebenden
Pflanze
und ihrer einzelnen
Teile.
Die Tierphysiologie
, oft auch nur Physiologie genannt, zerfällt wieder in die allgemeine Physiologie, die
sich mit Ermittelung der allgemeinen Lebensfunktionen und der durch dieselben erzeugten Wechselwirkungen der organischen
Wesen beschäftigt, und in die specielle Physiologie
, die von den einzelnen Lebensverrichtungen
handelt und eingehend die vegetativen Funktionen des Tierkörpers, welche dieser mit der
Pflanze gemein hat
(Ernährung,
Atmung,
Fortpflanzung), sowie die animalischen Verrichtungen, die nur dem
Tiere zukommen (Muskelthätigkeit, Sinnesempfindungen, psychische
Thätigkeiten), erforscht.
Die vergleichende Physiologie
beschäftigt sich mit den Lebenserscheinungen des gesamten
Tierreichs. Die
Psychophysik (s. d.), die physiol.
Erforschung der seelischen und geistigen Thätigkeiten, bildet den vermittelnden Übergang von der Physiologie
zur
Psychologie (s. d.). Als Methoden und Hilfsmittel benutzt die Physiologie
, deren
Grundlage hauptsächlich die Physik,
Chemie und
Anatomie einschließlich der
Gewebelehre bilden, vorzugsweise die
Beobachtung,
mit der jede Naturwissenschaft zu beginnen hat, und das physiol. Experiment, das unter
den verschiedensten Modifikationen an
Mensch und
Tier angestellt wird und wegen seiner Wichtigkeit und erfolgreichen Handhabung
der ganzen Wissenschaft den
Namen der Experimentalphysiologie
verschafft hat.
Die Pflanzenphysiologie
hat die
Aufgabe, alle diejenigen Vorgänge in den lebenden pflanzlichen Organismen zu untersuchen,
die sich bei der
Ernährung, beim Wachstum und bei der Fortpflanzung derselben abspielen. Da die erstern
beiden Prozesse wesentlich chem. oder physik. Natur sind, so muß die Physiologie
ihre
Aufgaben vorzüglich unter Zuhilfenahme von
Chemie und Physik zu lösen suchen. Zwar wird auch die Fortpflanzung auf solche
Vorgänge zurückzuführen sein, doch ist dies zur Zeit noch unmöglich.
Immerhin kann man von einer Physiologie
der Fortpflanzung reden, denn auch die
Beobachtung der dem eigentlichen
sexuellen
Akte vorausgehenden Erscheinungen der
Bestäubung,
Befruchtung
[* 3] sowie die Weiterentwicklung der befruchteten
Eizelle
in ihren ersten Stadien sind nicht bloß Gegenstand der
Morphologie, sondern auch der Physiologie
, insofern dabei stoffliche
Veränderungen
oder Einwirkungen äußerer Kräfte
u. dgl. stattfinden. Die Betrachtung der mannigfachen
Einrichtungen, die bei
Blütenpflanzen zur Herbeiführung des Insektenbesuchs oder zur
Verbreitung des Pollens durch den
Wind
vorhanden sind, ebenso die Beweglichkeit der
Spermatozoiden bei den niedern
Pflanzen sowie das Öffnen der
Antheridien und
Archegonien
bieten nicht
nur für die
Morphologie, sondern auch für die Physiologie
bestimmte Fragen. Auch die Erzeugung von
Bastarden und die dabei auftretenden eigentümlichen Erscheinungen sind Gegenstand der physiol.
Forschung. (S.
Bastardpflanzen.)
Mehr physik. und chem. Prozesse kommen in Betracht bei den übrigen Gebieten der Physiologie
, deren
Aufgabe es ist, die
Ernährung und das Wachstum sowie die Bewegungserscheinungen der
Pflanzen zu untersuchen.
Die
Ernährung der
Pflanzen besteht hauptsächlich darin, daß gewisse
Stoffe aus der Luft und dem
Boden, oder bei Wasserpflanzen
[* 4] aus dem Wasser aufgenommen und verarbeitet werden. Es handelt sich nun zunächst darum, festzustellen, welche
Stoffe überhaupt
in die
Pflanze gelangen, welche davon unbedingt notwendig, welche entbehrlich sind und schließlich welche
eine schädliche Wirkung auf das Gedeihen der einzelnen
Pflanze ausüben. (S.
Ernährung der Pflanze.) Die beiden wichtigsten
chem. Prozesse, die sich bei der
Ernährung der
Pflanzen abspielen, sind die
Assimilation (s. d.) im weitern
Sinne und die
Atmung
(s. d.). Im engsten Zusammenhang mit der Verarbeitung der aufgenommenen Nährstoffe
steht die Wanderung innerhalb des Pflanzenkörpers (s.
Stoffwanderung in der
Pflanze).
Ferner ist es
Aufgabe der Physiologie
, alle Bewegungserscheinungen zu untersuchen, die einzelne
Teile der
Pflanzen ausführen; es gehören
hierher vor allem sämtliche Wachstumsprozesse, die
Keimung (s.
Keim), die verschiedenen als
Heliotropismus (s. d.) und
Geotropismus
(s. d.) bezeichneten Richtungsbewegungen, die sog.
Nutationen (s. d.), die
Bewegungen, die windende
Pflanzen und Ranken ausführen, die Reizbewegungen vieler
Blätter,
Staubgefäße
[* 5] und anderer Organe, die
Bewegungen der
Spaltöffnungen u. s. w. (Vgl. außer den speciellen
Artikeln
¶
mehr
Pflanzenbewegung, Spannungserscheinungen der Pflanzen und Wachstum.)
Die Litteratur über Pflanzenphysiologie
ist sehr ausgedehnt; aber nur wenige Werke behandeln das ganze Gebiet. Unter diesen
letztern sind als historisch interessant zu nennen: Senebier, Physiologie
végétale (5 Bde., Genf
[* 7] 1800);
De Candolle, Physiologie végétale (3 Bde., Par. 1832; deutsch, 2 Bde., Stuttg. 1833-35);
Meyen, Neues System der Pflanzenphysiologie (3 Bde., Berl. 1837-39).
Von neuern Werken sind besonders zu erwähnen: Sachs, Handbuch der Experimentalphysiologie der Pflanzen (Lpz. 1865);
Pfeffer, Handbuch der Pflanzenphysiologie (2 Bde., ebd. 1881-82);
Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie (ebd. 1882; 2. Aufl. 1887).
Die Geschichte der Physiologie beginnt strenggenommen erst mit der epochemachenden Entdeckung des Blutkreislaufs durch den Engländer William Harvey (1619) und mit der wenige Jahre später erfolgten Entdeckung der Chylusgefäße durch Kaspar Aselli zu Pavia. Weitere wichtige Fortschritte wurden durch die Erfindung des Mikroskops, durch die Vervollkommnung der Injektionstechnik und durch die Begründung der mikroskopischen Anatomie durch Marcello Malpighi (1628-94) veranlaßt.
Die erste kritische Zusammenstellung der Physiologie gab Albrecht von Haller in seinen berühmten «Elementa physiologiae» (8 Bde., Lausanne [* 8] 1757-66). Epochemachend waren Ende des 18. Jahrh. die Untersuchungen von Priestley und Lavoisier über die chem. Vorgänge des Atmungsprozesses, sowie die Entdeckungen Galvanis, welcher die Lehre von der Muskel- und Nervenelektricität begründete. In den letzten fünfzig Jahren wurde die Physiologie durch die erfolgreiche Thätigkeit zahlreicher Forscher, unter denen besonders Johannes Müller, Du Bois-Reymond und Helmholtz in Berlin, [* 9] Magendie, Flourens und Claude Bernard in Paris, [* 10] E. H. Weber und Ludwig in Leipzig, [* 11] Hering in Prag, [* 12] Brücke [* 13] in Wien, [* 14] Donders in Utrecht [* 15] u. a. zu nennen sind, zu einer umfangreichen und wichtigen Wissenschaft erhoben, die auf die Entwicklung der gesamten Medizin von maßgebendem Einfluß geworden ist und der neuern Richtung den Namen der physiologischen Medizin verschafft hat.
Über Umfang und neuere Fortschritte der Physiologie geben die Hand- und Lehrbücher von Ludwig (2. Aufl., Lpz. 1858-61), Brücke (4. Aufl., 2 Bde., Wien 1885-87), Wundt (4. Aufl., Stuttg. 1878), Grünhagen (7. Aufl., 3 Bde., Hamb. 1884-87), Vierordt (5. Aufl., Tüb. 1877), Hermann (10. Aufl., Berl. 1892), Landois (8. Aufl., Wien 1893) und Ranke (4. Aufl., Lpz. 1881) sowie das große Handbuch der Physiologie von Hermann (6 Bde., ebd. 1879-83) nähere Auskunft.
Vgl. noch Du Bois-Reymond, Der physiol. Unterricht sonst und jetzt (Berl. 1878). -
Von Fachzeitschriften über Physiologie sind zu nennen: Archiv für Anatomie und Physiologie (hg. von Du Bois-Reymond, Lpz. 1877 fg.), Archiv für die gesamte Physiologie (hg. von Pflüger, Bonn [* 16] 1868 fg.), Zeitschrift für Biologie (hg. von Voit, Münch. 1865 fg.), Physiol. Centralblatt (hg. von Exner und Gad, Wien 1887 fg.), Biologisches Centralblatt (hg. von Rosenthal, Erlangen [* 17] 1881 fg.), Zeitschrift für physiol. Chemie (hg. von Hoppe-Seyler, Straßb. 1877 fg.).