Paulus
,
hebr.
Saul genannt,
Apostel Jesu Christi, geb. zu
Tarsus in Cilicien von jüd. Eltern, doch als röm.
Bürger.
Den lat.
Namen Paulus
scheint er nach jüd.
Sitte im Verkehr mit Griechen und
Römern sich beigelegt zu haben.
Von seinen Eltern zum
Rabbi bestimmt, wurde er nach
Jerusalem
[* 2] geschickt und dort unter
Gamaliel (s. d.) in der pharisäischen
Theologie unterwiesen. Nach damaliger
Sitte betrieb er daneben ein Handwerk, die Grobweberei. Ein energischer
Geist,
mit reger
Phantasie und scharfem Verstand begabt, voll glühenden Eifers für das einmal Ergriffene, setzte er alle Kraft
[* 3] an einen unsträflichen Wandel nach dem
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Gesetz der Väter. Das Auftreten des Stephanus, der die Auflösung des Tempeldienstes durch den Gekreuzigten verkündete, erfüllte
ihn mit leidenschaftlichem Haß gegen den Gesetzesverächter. In der Christengemeinde sah er nur einen Haufen Abtrünniger
vom väterlichen Glauben und bot sich dem Hohen Rate zur Verfolgung der neuen Sekte an. Mitten in diesem
Verfolgungseifer vollzog sich in ihm eine Krisis, die den bisher gefährlichsten Feind der neuen Messiasgemeinde in den gewaltigsten
Apostel des Gekreuzigten umwandelte. Die Apostelgeschichte knüpft diese Bekehrung an eine Erscheinung Jesu Christi, die dem
Paulus
auf dem Wege nach Damaskus, wohin er mit Vollmachten des Synedriums zur Verfolgung der dortigen Nazarener
reiste, geworden sei, und seine eigenen Mitteilungen bestätigen diesen Hergang. Spätere Schilderungen, die die eigene schmerzliche
Erfahrung verraten, lassen auf harte innere Kämpfe des Paulus
vor seiner Bekehrung zurückschließen.
Was ihm damals zur Gewißheit geworden, das diente ihm fortan zum Ausgangspunkt für ein das innerste Wesen des Christentums mit klassischer Klarheit erfassendes, gedankenreich ausgeführtes und mit schärfster theol. Dialektik verteidigtes Glaubenssystem. Der Kreuzestod und die Auferstehung Christi bilden den Mittelpunkt desselben. Ist durch die Auferstehung der Gekreuzigte als der Messias erwiesen, so auch der Kreuzestod selbst als göttliche Absicht und Notwendigkeit.
Das Kreuz [* 5] Christi ist das Ende des Gesetzes, dessen Fluch über die Sünde der gekreuzigte Messias auf sich nahm, um die Sünder von dem Fluche und von der Herrschaft des Gesetzes zu befreien und die Gläubigen zu einem neuen Leben im Geiste zu befähigen. Während die Menschen, solange sie «im Fleisch» leben, zugleich der Herrschaft der Sünde und dem verdammenden Spruche des Gesetzes unterworfen sind, ist durch die Kreuzigung des Fleisches Christi zugleich die Macht der Sünde über die Menschheit für immer ertötet.
Und wie der Gekreuzigte nach Ertötung von allem, was irdisch an ihm war, in verklärter Herrlichkeit nur noch ein Leben des Geistes lebt, so ist durch ihn auch der Menschheit überhaupt dieses neue geistige Leben eröffnet. Der Einzelne wird aller dieser Wirkungen teilhaftig, indem er durch den Glauben zu Christus in eine mystische Beziehung, in die Gemeinschaft seines Todes und seiner Auferstehung tritt. Das ist der neue Weg des Heils, nicht aus dem Gesetz, sondern allein aus der Gnade.
Ist aber das Gesetz als Heilsweg beseitigt, so fällt auch jeder Vorzug der Juden vor den Heiden weg. Wie beide gleicherweise Sünder sind vor dem Gesetz, so erstreckt sich auch die Gnade gleicherweise auf beide. In Christus sind überhaupt alle bisher die Menschen trennenden Unterschiede aufgehoben; weder Stand, noch Geschlecht, noch Geburt kann einen Vorzug begründen. Das «Wort vom Kreuz» ist daher eine Botschaft von der gleichen Berufung aller, die glauben wollen, zum Heil.
Die theol. Ausführung dieser Grundgedanken beruht einerseits auf der religiösen Dialektik und den Beweismitteln des Pharisäertums,
andererseits aber auch auf hellenistisch-platonischen Anschauungen (Entgegensetzung von Fleisch oder Materie
und Geist). Aus beiden Elementen baute sich im Geiste des Paulus
ein religiöses Lehrsystem auf, welches, obwohl das Wesen des
Christentums zunächst in den Denkformen der Zeit erfassend, gleichwohl über das Judentum als auch über das gesetzestreue
Judenchristentum der
Urgemeinde principiell hinausführte und zu diesen Richtungen in scharfen Gegensatz
trat.
Verkündigte Paulus
die Aufhebung, so betonte das Judenchristentum die Erfüllung und Besiegelung des Gesetzes durch Christus und
verlangte, daß auch die Pflichten der Heidenchristen nach den Aussprüchen des Gesetzes geregelt würden. Es konnte auf
die Autorität des Alten Testaments, auf das Beispiel und manchen Ausspruch des Herrn selbst, auf das Verständnis
seiner Worte durch die ersten Jünger, ja selbst auf die einfachsten Forderungen der Moral sich berufen, die durch die Lehre
[* 6] von der Abschaffung des Gesetzes bedroht erschienen.
Dennoch war auf der Seite des Paulus
die innere Konsequenz des christl. Princips, und
wenn die Urgemeinde an die jüd.-nationale Erscheinung des Meisters sich hielt, so hatte der Heidenapostel
die Tragweite seiner ganzen persönlichen Wirksamkeit, die weltgeschichtliche Bedeutung der von Jesu ausgegangenen religiösen
Erneuerung ungleich tiefer erfaßt. Das Paulinische Evangelium stellt das Christentum, ob auch auf dem Boden der Weltanschauung
der Alten Welt, zuerst als die universelle, für die ganze Menschheit bestimmte Religion und zugleich als
die höchste Stufe aller religiösen Entwicklung, als die vollkommene Erlösungsreligion dar, wozu Heidentum und Judentum nur
Vorbereitungsstufen waren. In dieser Erkenntnis gründete sich die Notwendigkeit des endlichen Sieges seiner Sache und zugleich
die bleibend grundlegende Bedeutung seiner Lehre für die gesamte Geschichte der christl. Kirche bis zur
Gegenwart.
Der Apostel selbst freilich sah diesen Sieg noch nicht. Nachdem er auf dem Wege nach Damaskus den Gekreuzigten als den auferstandenen Gottessohn erschaut, zog er sich längere Zeit in die Stille zurück, um einsam die neue, seinem Geiste aufgegangene Gedankenwelt zu bewältigen. Mit sich selbst und mit seinem Gott aufs reine, sah er in der neuen Anschauung eine göttliche Offenbarung und seine eigene, unmittelbar durch Christus erfolgte Berufung zum Heidenapostel.
Als solcher wirkte er zuerst zu Antiochia in Syrien und in Kleinasien. Danach, als er seine gesetzesfreie Heidenmission durch jerusalemische Judenchristen bedroht sah, reiste er selbst nach Jerusalem, um von den ältern Aposteln die Anerkennung des Apostolats und seiner Missionsgrundsätze zu erlangen (54 n. Chr.). Ein Kompromiß kam zu stande, das sein Werk vorläufig sicherstellte, bis bei Gelegenheit eines Besuchs des Petrus in Antiochia die nur verhüllten Gegensätze aufs neue hervorbrachen.
Die ältern Apostel hatten die Befreiung der Heidenchristen vom mosaischen Gesetz nur in der Voraussetzung
bewilligt, daß sie nur nach der Weise von Proselyten der Messiasgemeinde angeschlossen würden, deren eigentlicher Stamm,
die Gläubigen aus Israel, nach wie vor dem Gesetz verpflichtet bleiben sollte. Ihnen gegenüber verkündete jetzt Paulus
mit
rückhaltloser Entschiedenheit die Aufhebung des Gesetzes auch für die Juden. Erschrocken zogen Barnabas
und viele seiner alten Freunde sich von ihm zurück, aber Paulus
wählte sich neue Begleiter und stiftete alsbald
eine ganze Reihe neuer Gemeinden zu Philippi, Thessalonich, Beröa und Korinth.
[* 7] Aber überall folgten seine Gegner ihm nach,
und mehr als einmal glaubte er alle Frucht seiner Arbeit verloren. Von Korinth, wo er 1½ Jahre lang gewirkt,
ging er nach Ephesus, von wo er noch einmal seine macedon. und griech. Gemeinden besuchte und
dann im
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Frühjahr 59 seine letzte Reise nach Jerusalem antrat, um eine bei seinen Heidenchristen gesammelte Liebesgabe für die Armen der Urgemeinde persönlich zu überbringen. Aber als er den Tempel [* 9] zu Jerusalem betrat, machte der Volkshaß gegen den Abtrünnigen vom Gesetz der Väter in gewaltsamer Weise sich Luft. Von den Judenchristen verlassen, fand er als Gefangener Schutz bei der röm. Obrigkeit. Da er als röm. Bürger an den Kaiser appelliert hatte, schickte man ihn nach zweijähriger Gefangenschaft in Cäsarea nach Rom, [* 10] wo er im Frühjahr 62 ankam und zwei Jahre hindurch, wenn auch als Gefangener, das Evangelium verkünden durfte.
Die Neronische Christenverfolgung (Juli 64) hat Paulus
schwerlich überlebt. Daß er noch einmal freigekommen
sei und abermalige Missionsreisen unter andern auch nach Spanien
[* 11] angetreten habe, ist eine unverbürgte Sage. Die spätere
Tradition hat überhaupt die Geschichte seines Lebens sagenhaft ausgeschmückt. Es sind noch in verschiedenen Redaktionen
apokryphische Akten des Paulus
sowie des Paulus
und Petrus erhalten. (Vgl. Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten
und Apostellegenden, Bd. 2, 1. Hälfte, Braunschw.
1887.)
Unter dem Namen des Paulus
finden sich im neutestamentlichen Kanon 14 Briefe (Paulinische Briefe), von denen, mit Ausnahme des Hebräerbriefs,
alle schon in den Eingangsworten als paulinisch sich darstellen. Doch sind von diesen dreizehn nur vier,
der an die Galater, der erste und zweite an die Korinther und der an die Römer,
[* 12] unzweifelhaft echt und nach Inhalt und Stil
jedenfalls am charakteristischsten für den Apostel. Dagegen haben nach dem Vorgange von Bruno Bauer neuerdings die Niederländer
Loman, Pierson, Naber, van Manen, sowie der Schweizer Theolog Steck Bedenken erhoben (s. Galaterbrief). Von
den übrigen, durch die Schule F. Ch. Baurs (s. d.) sämtlich angezweifelten Briefen sind die an die Philipper, der erste an
die Thessalonicher und der an Philemon wahrscheinlich echt, die Pastoralbriefe und der Epheserbrief wahrscheinlich unecht,
über den Koloßerbrief und den zweiten an die Thessalonicher ist die Kritik noch nicht abgeschlossen.
Vgl. Ferd. Chr. Baur, Paulus
, der Apostel Jesu Christi (Stuttg. 1845; 2. Aufl., 2 Bde.,
hg. von Zeller, Lpz. 1866-67);
Hausrath, Der Apostel Paulus
(Heidelb. 1865; 2. Aufl. 1872);
ders., Neutestamentliche Zeitgeschichte, Bd. 2 (2. Aufl., ebd. 1875);
Lang, Religiöse Charaktere, Bd. 1 (Winterth. 1862);
Holsten, Zum Evangelium des Paulus
und des Petrus (Rostock
[* 13] 1868);
Lipsius, Der Apostel Paulus
(im «Jahrbuch des Deutschen Protestantenvereins», 1. Jahrg.,
Elberf. 1869);
Renan, Saint-Paul (Par. 1869; deutsch Lpz. 1869);
Lüdemann, Die Anthropologie des Apostels Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre (Kiel [* 14] 1872);
Pfleiderer, Der Paulinismus (Lpz. 1873; 2. Aufl. 1890);
Holsten, Das Evangelium des Paulus (Bd. 1, 1. Abteil., Berl. 1880);
Pfleiderer, Das Urchristentum (ebd. 1887);
Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter (2. Aufl., Freiburg [* 15] 1889);
Jouard, Saint-Paul ses missions (Par. 1893).