Parlament
(engl. Parliament, franz. Parlement), eine ständische
Vertretung oder
Volksvertretung; davon abgeleitet das
Adjektivum parlament
arisch (s. d.). Vor allem heißt Parlament
der
englische
Reichstag, der durch die
Magna Charta (s. d.) vom begründet wurde;
dieses wiederholt bestätigte und erweiterte englische
Grundgesetz bestimmte, daß Hilfsgelder (aids) außer in den herkömmlichen
Fällen und Schildgelder (scutagium) statt der Lehnsdienste nur mit Zustimmung der Versammlung der
Barone erhoben werden sollten,
für welche in der Mitte des 13. Jahrh. der
Ausdruck Parlament
gebräuchlich wurde.
Simon v.
Montfort berief zwei
Ritter aus jeder
Grafschaft und zwei
Bürger aus gewissen
Städten in das Parlament
, das eröffnet
wurde. Unter
Eduard II. bestimmte 1322 ein
Statut, daß in
England nur das Gesetzeskraft haben sollte, was vom König mit Zustimmung
der zum Parlament
versammelten
Prälaten,
Grafen,
Barone und
Gemeinen des
Landes verfügt werde; unter
Eduard III.
(1327-77) traten die ersten beiden
Stände zum
Ober-, die beiden letztern zum
Unterhaus
(Haus der Gemeinen,
house of commons)
zusammen. 1376 machte das
Unterhaus den ersten
Versuch einer
Anklage (impeachment) gegen
Lord
Latimer; 1377 erhielt es in dem
Sprecher ein
Organ dem König wie den
Lords gegenüber.
Die Macht des
Adels wurde durch die blutigen
Kriege der beiden
Rosen sehr geschwächt, und unter den
Tudors, welche überdies
durch die
Reformation bedeutenden Machtzuwachs gewannen, hatte das Parlament
wenig Einfluß, wenn es auch das Steuerbewilligungsrecht
behauptete und die
Verfassung im wesentlichen unangetastet blieb. Die
Versuche der
Stuarts, die
Rechte des
Parlaments
zu beschränken und eine unumschränkte Königsgewalt zu errichten, hatten die
Hinrichtung
Karls I. und die Vertreibung
Jakobs II. zur
Folge, worauf von
Wilhelm III. durch die
Bill of rights die Grundzüge der
Verfassung festgestellt
und die
Rechte des Parlaments
gesichert wurden.
Unter dem
Haus
Hannover,
[* 2] das ja vom Parlament
auf den
Thron
[* 3] erhoben wurde, befestigte sich seine Herrschaft immer mehr, indem
durch die
Act of settlement dem König das
Recht, die vom Parlament
angeklagten
Minister zu begnadigen, entzogen und die
Abgaben nur
auf ein Jahr bewilligt wurden; daher mußte das Parlament
jährlich berufen werden, während seine
Wahlperiode unter
Georg I. auf sieben Jahre bestimmt wurde. 1707 wurde das schottische Parlament
mit dem englischen vereinigt, welches,
in ähnlicher
Weise wie dieses
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zusammengesetzt, unter den letzten Stuarts und während der englischen Revolution eine herrschende Rolle gespielt hatte. Die
Verschmelzung mit dem irischen Parlament
erfolgte dasselbe, seit dem 13. Jahrh.
nachweisbar und seit 1399 auch die Gemeinen umfassend, war indes seit der Reformation keine Vertretung des irischen Volkes,
da 1641 alle Verweigerer des Suprematseids ausgeschlossen und 1729 den Katholiken auch das aktive Wahlrecht
genommen wurde.
Während zur Zeit der ersten Revolution sich die Parteien der Kavaliere und Rundköpfe, während der Restauration (seit 1660)
Royalisten und Presbyterianer im englischen Parlament
gegenübergestanden hatten, kamen seit 1680 die Parteinamen Tories und Whigs auf.
Beide standen auf dem Boden der Verfassung, die Tories betonten aber vorzugsweise die Anhänglichkeit an die bestehende Gewalt
in Staat und Kirche, die Whigs die Unverletzlichkeit der Verfassungsrechte und das Recht des Widerstandes gegen verfassungswidrige
Eingriffe der Krone.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. traten an die Stelle dieser Parteinamen die der Konservativen und
Liberalen, neben denen sich noch eine radikale Partei bildete und die Iren eine besondere Rolle spielten. Zwischen der herrschenden
Mehrheit des Unterhauses und dem Ministerium, von dem die hervorragendsten Mitglieder, namentlich der Schatzkanzler, in der
Regel Mitglieder des Parlaments
sind, muß Übereinstimmung bestehen, und das Ministerium muß, wenn sich
die Mehrheit im P. gegen dasselbe erklärt, zurücktreten, um Männern der neuen Majorität Platz zu machen.
Die Zusammensetzung des Unterhauses war bis in das 19. Jahrh. derart, daß es kaum als eine Vertretung des Volkes angesehen werden konnte. Die Katholiken waren vom Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ausgeschlossen; viele in neuerer Zeit zu Größe und Bedeutung herangewachsene Städte entbehrten des Wahlrechts, während viele von den Burgflecken (rotten boroughs), denen es zustand, kleinere Ortschaften waren; von 75 hatte keiner 50 Wähler. In 125 Flecken übten 89 Mitglieder des Oberhauses und in weitern 70 andre Personen das Patronat.
Bei der kleinen Anzahl von Wählern hatte sich die Wahlbestechung zu einem System entwickelt. Durch die Zulassung der Katholiken
(1829) und die Reformbills von 1832, 1867 und 1884 wurde diesen Übelständen im wesentlichen abgeholfen. Die Vorrechte der
Burgflecken wurden beseitigt, durch Ermäßigung des Zensus, der nicht ganz abgeschafft wurde, die Zahl
der Wähler auf 5¾ Mill. erhöht, die Zahl der Mitglieder auf 670 festgesetzt und eine neue Einteilung der Wahlkreise nach
der Einwohnerzahl vorgenommen (s. Großbritannien,
[* 5] Geschichte, S. 837). Das Oberhaus besteht aus den erblichen Peers und den
anglikanischen Bischöfen von England (s. Großbritannien, S. 776); die Krone hat das Recht der Peersernennung
(Pairsschub), wovon besonders Gebrauch gemacht wird, um die Opposition des Oberhauses zu beseitigen. Nach dem Muster des Mutterlandes
sind auch in den englischen Kolonien Parlamente
errichtet worden, die ähnlich zusammengesetzt sind.
Die Mitglieder des Parlaments
sind wegen ihrer Reden und Abstimmungen in demselben nicht verantwortlich
und nur der Disziplin des Hauses, in welchem sie sitzen, unterworfen; dagegen besteht ein Schutz derselben gegen kriminelle
Verhaftung nur in beschränktem Maß. Jedes Mitglied des Unterhauses muß sein Mandat niederlegen, wenn es von der Krone ein Amt
annimmt. Beide Häuser haben das Recht, die Gesetze zu genehmigen, die
Abgaben zu bewilligen und den Staatshaushalt
festzustellen; doch werden alle Finanzgesetze zuerst im Unterhaus beraten, und das Oberhaus kann die Beschlüsse des Unterhauses
über dieselben im ganzen annehmen oder verwerfen, aber nicht abändern.
Die Krone besitzt das absolute Veto, aber Wilhelm III. hat zum letztenmal davon Gebrauch gemacht. Die Initiative der
Gesetzgebung überläßt die Krone meist dem Parlament
, indem auch die Gesetze, welche sie beschlossen wünscht, von den Ministern nicht
als solchen, sondern als Mitgliedern des Parlaments eingebracht werden. Die Kontrolle der Staatsverwaltung wird vom Parlament durch
Interpellation, Einsetzung besonderer Kommissionen, Resolutionen, Adressen und Anklagen sowohl gegen die Minister als gegen
jeden andern Beamten ausgeübt.
Die Anklage (impeachment) wird vom Unterhaus beschlossen, vom Oberhaus verhandelt und entschieden. Ohne solches Rechtsverfahren kann die Bestrafung eines Beamten nur durch ein besonderes Gesetz (bill of attainder) erfolgen. Einen wichtigen Teil der Beschäftigung des Unterhauses bilden die Privatgesetze (private bills), da Naturalisationen, die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an Gesellschaften, Konzessionen von Eisenbahnen, Lokalstatuten u. a. der Zustimmung des Parlaments bedürfen.
Jeder Antrag wird dreimal verlesen; wird er bei der zweiten Lesung genehmigt, so geht der dritten Lesung und Schlußabstimmung eine Ausschußberatung voraus, indem entweder ein besonderer Ausschuß gewählt wird, oder das Haus sich in ein Komitee unter einem besondern Vorsitzenden (chairman) anstatt des Sprechers zur freiern Beratung auflöst. Nur im Komitee kann ein Mitglied mehr als einmal sprechen und eine Amendierung erfolgen. Wer reden will, erhebt sich und nimmt den Hut [* 6] ab; das Wort erhält der, den »des Sprechers Auge [* 7] zuerst erblickt«. Die Genehmigung der Gesetze erfolgt im Oberhaus, vor dessen Schranken das Unterhaus entboten wird, durch eine königliche Kommission. Wird eine der Lesungen abgelehnt oder auf sechs Monate vertagt, so gilt der Antrag als verworfen.
Man hat amtliche Sitzungsberichte für das Oberhaus seit 1509, für das Unterhaus seit 1547, Aufzeichnung der Reden seit 1680. Eine umfassende Darstellung der Parlamentsverhandlungen geben: »The parliamentary history of England, from the Norman conquest to 1803« (Lond. 1806-20, 36 Bde.);
»The parliamentary debates published under the superintendency of Hansard« von 1803 an.
Die vom Unterhaus jährlich zum Druck beförderten Papiere füllen über 50 Foliobände.
Vgl. May, Treatise upon the law, privileges, proceedings and usage of parliament (9. Aufl., Lond. 1883; deutsch bearbeitet von Oppenheim, 2. Aufl., Leipz. 1880);
Todd, Über die parlamentarische Regierung in England (deutsch, Berl. 1869-71, 2 Bde.);
Derselbe, Parliamentary government in the British colonies (2. Aufl., das. 1887);
Gneist, Das englische Parlament in tausendjährigen Wandlungen (das. 1886).
Eine ganz andre Bedeutung hatte das Parlament in Frankreich; der Name bezeichnete hier die obersten Reichsgerichte. Das älteste war das Parlament von Paris. [* 8] Dasselbe, aus dem alten Pairshof (s. Pairs) entstanden, bestand aus Edelleuten, hohen Geistlichen, königlichen Hofbeamten und rechtskundigen Räten, übte die Funktionen eines obersten Gerichtshofs aus, erkannte in allen Angelegenheiten der Reichsstände und registrierte Gesetze, Edikte und Ordonnanzen. Dies Register hieß vom Anfangswort Olim, und ein Teil (1254-1318) ward 1840 in den »Documents inédits ¶
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sur l'histoire de France« von Beugnot veröffentlicht. 1302 erhielt es seinen festen Sitz in Paris. Sämtliche Pairs hatten Sitz und Stimme im P., außerdem zählte es seit 1344: 3 Präsidenten und 78 Räte, welche seit 1401 vom Parlament selbst bestimmt und 1468 für unabsetzbar erklärt wurden. Franz I. führte die Käuflichkeit der Stellen ein. Zuletzt bestand das Parlament von Paris aus 7 Kammern mit einem Präsidenten, 9 Vizepräsidenten (présidents à mortier, nach der Mütze, die sie trugen), 15 Präsidenten der Kammer und 150 Räten.
Auch in den neuerworbenen Gebieten errichteten die Könige Parlamente, die mit dem Pariser zusammen eine Korporation bildeten, so in Toulouse [* 10] 1302, Grenoble [* 11] 1451, Bordeaux [* 12] 1462, Dijon [* 13] 1477, Rouen [* 14] 1499, Aix 1501, Rennes 1553, Pau [* 15] 1620, Metz [* 16] 1633, Besançon [* 17] 1676, Trévoux 1696, Douai 1713, Nancy [* 18] 1773. Kein Gesetz hatte Gültigkeit, wenn es nicht in die Protokolle der Parlamente eingetragen war, und hierdurch erlangten dieselben, besonders das Pariser, politische Macht.
Verweigerte das Parlament die Eintragung, so konnte der König selbst im P. erscheinen und sie befehlen; dies nannte man ein Lit de justice (s. d.). Schon Richelieu war bestrebt, den Parlamenten ihre Bedeutung zu nehmen, und sprach ihnen in dem Lit de justice vom jede politische Gewalt für immer ab. Nach seinem Tod erhob sich das Pariser Parlament wieder, vernichtete das Testament Ludwigs XIII. und erregte gegen Mazarin den Aufstand der Fronde (s. d.). Nach dessen Niederwerfung wagte das Parlament unter Ludwig XIV. keinen Widerstand gegen dessen Befehle.
Erst nach seinem Tod (1715) vernichtete es sein Testament und ernannte den Herzog von Orléans [* 19] zum Regenten. Wegen seiner Opposition gegen Laws Finanzprojekte ward es nach Blois, wegen seiner Parteinahme für die Jansenisten 1752 nach Pontoise verlegt, aber 1754 nach Paris zurückberufen. Wegen seines Widerspruchs gegen die verderbliche Politik des Hofs ward es im Januar 1771 vom Kanzler Maupeou aufgelöst, der einen neuen Gerichtshof ohne das Recht der Einzeichnung, das sogen. Maupeou-Parlament, organisierte.
Ludwig XVI. stellte die alte Korporation wieder her. Weil das Parlament sich aber allen Reformen widersetzte und aus Rücksicht auf seine und des hohen Adels Interessen die von den Notabeln genehmigten Steuergesetze zu registrieren sich weigerte, erzwang der Minister Loménie durch das Lit de justice von 1787 die Einzeichnung, verbannte das Parlament nach Troyes und ersetzte es 1788 durch einen Hofrat (cour plénière). Necker stellte das Parlament wieder her, doch wurden die Parlamente durch Dekret vom März 1790 für immer aufgehoben.
Vgl. Voltaire, Histoire du parlement de Paris (Par. 1769);
Dufey, Histoire des actes et remontrances des parlements (das. 1826, 2 Bde.);
Bastard de l'Estang, Les parlements de France (das. 1857, 2 Bde.);
Demaze, Histoire du parlement de Paris (das. 1857, 2 Bde.);
Mérilhou, Les parlements de France (das. 1863).
Über das deutsche oder Frankfurter Parlament (die konstituierende Nationalversammlung in Frankfurt [* 20] a. M. 1848-49) s. Deutschland, [* 21] Geschichte, S. 889.