Pädagogik
der Wortbedeutung nach die »Kunst oder Wissenschaft des Pädagogen (s. d.), d. h. der Knabenführung«, »Knabenerziehung«; nach dem jetzt gewöhnlichen Sinn des Worts die gesamte ¶
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Erziehungslehre, d. h. die Theorie der Erziehung und zumal des Unterrichts als des wichtigsten Mittels der Erziehung (s. d.).
Von einer Theorie der Erziehung oder Erziehungswissenschaft kann erst bei höherer Kulturentwickelung in einem Volk die Rede sein.
Mittelbar kommt das Erziehungs- und Unterrichtswesen aller Völker für die Geschichte der Pädagogik
in Betracht,
die sich, wie jede Wissenschaft, auf dem Grunde der Erfahrung aufbauen muß. Wirklich vorhanden ist die Pädagogik
als Wissenschaft aber
erst seit der Blütezeit der griechischen Philosophie. In Griechenland
[* 3] waren durch die dorische und die ionische Stammessitte
(jene durch die Lykurgische, diese durch die Solonische Verfassung zur Reife entwickelt und festgestellt)
wie durch die herrliche Begabung des hellenischen Volkes für leibliche und geistige Bildung (Gymnastik und Musik), welche in der
künstlerischen Thätigkeit zusammenfließen, die empirischen Voraussetzungen der Pädagogik
in der glücklichsten
Weise gegeben.
Auf dorischer Grundlage erwuchsen die ersten Ansätze dieser Wissenschaft in den Lebensregeln des Pythagoreischen Bundes, indem es sich indes mehr um Einwirkung älterer Männer auf jüngere als um eigentliche Erziehung der Kinder handelte. Tiefer und nachhaltiger war auch auf diesem Gebiet der Einfluß des Sokrates, dessen gesamte Philosophie ein pädagogisches Gepräge hat, indem sie, an die griechische Sitte der Knabenliebe anknüpfend, das sinnliche Verhältnis des Liebhabers zum Geliebten zur Seelenleitung und zum gemeinsamen Streben nach wahrer Weisheit veredelt.
Indem er die Weisheit als die erste Tugend und daher die Tugend für lehrbar erklärt, wird ihm die Erziehung, d. h. die Führung der Jugend zur Weisheit und Selbsterkenntnis, eine sittlich notwendige Lebensaufgabe. Daneben verdankt ihm die Unterrichtskunst die Methode, welche noch heute unter dem Namen der Sokratischen einen bedeutenden Platz in unsrer Didaktik einnimmt. Es ist dies die heuristische, entwickelnde Art des Unterrichts, bei welcher der Zögling durch geschickte Fragen auf induktivem Weg zur selbständigen Erkenntnis angeleitet wird.
Sokrates selbst nannte sie, nach dem Geschäft seiner Mutter, geistige Hebammenkunst (Mäeutik). In verschiedener
Weise bauen auf diese Grundlage die beiden großen Nachfolger des Sokrates, Platon und Aristoteles, fort. Die Pädagogik
bildet bei ihnen
einen Teil der Politik oder Staatslehre. Platon knüpft an die dorische Sitte an, doch führt ihn sein Idealismus weit über
diese hinaus. Das wahrhaft Gute, zu dem die Jugend angeleitet werden soll, fällt ihm zusammen mit dem
Schönen; Harmonie zwischen Leib und Seele wie zwischen den einzelnen Seelenkräften ist ihm das Ziel der Erziehung.
Diese denkt er sich so ausschließlich als öffentliche und gemeinsame, daß die Kinder wenigstens der obern, für den Staat besonders wichtigen Stände der Krieger und der Philosophen, womöglich ihre leiblichen Eltern nicht kennen sollen. Für die ersten drei Jahre verlangt er vor allem leibliche Pflege, vom 3.-6. Jahr tritt Mythenerzählung, vom 7.-10. gymnastische Übung, vom 11.-13. Lesen und Schreiben, vom 14.-16. Dichtkunst und Musik, vom 16.-18. Mathematik, vom 18.-20. kriegerische Übung in den Vordergrund.
Die Krieger schließen damit ab, die Herrscher oder Philosophen dagegen verwenden noch fernere zehn Jahre auf das tiefere Studium der Wissenschaften. Aristoteles, der besonnene realistische Forscher, entfernt sich minder als Platon von dem gebahnten Weg der griechischen, zumal der athenischen, Weise der Erziehung. Er verlangt eine doppelte Erziehung: durch Gewöhnung zu den ethischen (Gemüts-), durch Belehrung zu den dianoetischen (Vernunft-) Tugenden. Die Tugend und die durch sie bedingte Glückseligkeit bilden das Ziel, Grammatik und Gymnastik, Musik und Zeichenkunst [* 4] die wichtigsten Mittel der Erziehung, der aber vor allem auch der Kunstgenuß durch reinigende Entladung der Affekte dienen soll.
In der Zeit nach Aristoteles überwog immer mehr die encyklopädische, wissenschaftliche Belehrung gegen
die Pflege der Tugend, und die Erziehung nahm eine einseitig rhetorische Färbung an. Bei den Stoikern trat daneben der Gedanke
einer allgemein menschlichen Erziehung in den Vordergrund, während bis dahin der national griechische Gesichtspunkt der herrschende
gewesen war. In dieser Gestalt wurde die Pädagogik
der Griechen nach Rom
[* 5] übertragen, das bis dahin manches leuchtende
Beispiel patriarchalischer, sittenstrenger Erziehung, aber keine systematische Pädagogik
aufgestellt hatte. Auch die Pädagogik, welche sich
in Rom unter dem Einfluß der griechischen Bildung allmählich herausbildete (Cicero, Quintilian), übertrifft die griechische
nur in der praktischen Anbequemung an die Bedürfnisse des öffentlichen Lebens, zumal in der Schulung
des künftigen Redners, erreicht sie aber nicht in der Tiefe der Grundgedanken.
Das Christentum übernahm das Interesse an der Jugenderziehung schon aus dem Alten Testament. Aber sein Stifter erhob die israelitische Grundidee des auserwählten Volkes Gottes zu dem Ideal eines Reichs Gottes, das die Auserwählten aller Völker umfassen soll. In diesem fanden die besten unter den Anhängern der alten Weisheit die von der Stoa gepflegte Idee der Einheit des Menschengeschlechts verklärt und veredelt wieder, und dies Reich Gottes bezeichnete namentlich auch das Ziel aller Erziehung, das damit in glücklichster Weise an der Grenze der sinnlichen und der geistigen, der diesseitigen und der jenseitigen Welt aufgestellt war.
Ohne eine systematische Pädagogik
auszubilden und im Kampf mit der Welt zu asketischer Einseitigkeit geneigt, stellte die alte Kirche
im ganzen doch das Muster einer edlen, menschlichen Erziehung auf. Später verengerte sich der religiöse
Gesichtskreis durch die Ausbildung der hierarchischen Kirchenverfassung und durch den Zusammensturz der alten Kultur in der Völkerwanderung.
Daher der tiefe Verfall der anfänglich segensreich wirkenden Kloster- und Domschulen in äußerliche und oberflächliche Beschäftigung
mit den sogen. sieben freien Künsten (artes liberales), dem weder in der weltförmigern und freiern ritterlichen Erziehung
ohne tiefern Unterricht noch in den städtischen Schulen, welche in der letzten Hälfte des Mittelalters das Bedürfnis der erwerbenden
Stände hervorrief, ein genügendes Gegengewicht die Wage
[* 6] hielt.
Aus dieser Barbarei erhob sich die Pädagogik
seit dem 15. Jahrh. durch die Rückkehr
zu den Schriften der Alten, denen zuerst in Italien
[* 7] wieder tiefer eingehende Beachtung gewidmet ward. Enge
Verbindung der Philologie mit der Religion ist das auszeichnete Merkmal der Pädagogik
im Kreis
[* 8] der deutschen Humanisten und Reformatoren,
ihr typischer Vertreter Philipp Melanchthon, neben ihm Joachim Camerarius und Johannes Bugenhagen, der Organisator der Kirchen und
Schulen. Dem Gedanken einer allgemeinen Vorbildung, der im Mittelalter einzelnen erleuchteten Geistern,
wie z. B. Karl d. Gr., vorgeschwebt hatte, trat man vom religiösen Standpunkt aus näher. Luther schuf den Boden und streute
die Saat der spätern deutschen Volksschule in seiner deutschen Bibel
[* 9] und im Kleinen Katechismus. Doch galt das Hauptinteresse
des
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Zeitalters den gelehrten Schulen, für welche V. Friedland von Trotzendorf in Goldberg (Schlesien),
[* 11] Johannes Sturm in Straßburg,
[* 12] Michael Neander in Ilfeld u. a. Lehrbücher, Lehrpläne etc. lieferten. Der Widerspruch gegen die einseitig gelehrte Abkehr der
Schule vom Leben fand den kräftigsten Ausdruck in den Franzosen Rabelais (gest. 1553), Ramus (gest. 1572),
Montaigne (gest. 1592) und dem Engländer Baco von Verulam (gest. 1626), mit denen das Prinzip des Realismus in die Geschichte
der Pädagogik
eintrat und den Kampf gegen den bloß grammatischen Humanismus (Verbalismus) heftig aufnahm; zumal auf Baco von Verulam
stützten sich die pädagogischen Neuerer Wolfg. Ratichius (Ratke, gest. 1635) und Joh. Amos Comenius (gest.
1671), welche engen Anschluß der Erziehung an den natürlichen Entwickelungsgang des Geistes, Voranstellung der bisher zu
gunsten des Lateinischen verstoßenen Muttersprache, Begründung des Sprachunterrichts auf Beispiele und Ausgehen von der sachlichen
Anschauung, nicht vom Namen und Wort, für allen Unterricht verlangten. Nüchterner als der prahlerische Ratke
und der prophetisch tiefsinnige Comenius wirkte in gleicher Richtung, besonders auf die Erziehung der höhern Stände, John Locke
(gest. 1704) durch seine »Gedanken von der Erziehung der Kinder«, in denen er auf verständige Körperpflege, naturgemäßen
Unterricht und allseitige, praktische Vorbildung für das wirkliche Leben dringt.
Die humanistische Pädagogik
hatte indes eigentümliche Fortbildung gefunden in den Schulen der Jesuiten, welche
sich im 16. und 17. Jahrh. großes Ansehen zu verschaffen wußten und nicht wenig zur Wiederbefestigung
des Katholizismus betrugen. Das Studium der Sprachen und die Pflege der Religion traten bei ihnen in den Dienst des hierarchischen
Prinzips. Dagegen schloß der Pietismus, jene auf innerliches Glaubensleben dringende Bewegung, die ihre
nachhaltigsten Wirkungen im protestantischen Deutschland
[* 13] durch Spener und Francke entfaltete, fast überall einen engen Bund mit
der realistischen Pädagogik.
Aus ihrem Kreis gingen die ersten Realschulen und Lehrerseminare hervor.
Doch hat es der Pietismus zu einer folgerechten Durchführung seiner religiös-pädagogischen Grundsätze auf die Dauer nur in der Brüdergemeinde des Grafen Zinzendorf gebracht, welche das Erziehungswesen in einer höchst eigentümlichen und wirksamen Weise dem Gemeindeleben einzugliedern wußte. In die Volksschule, welche durch Pflege einsichtiger Fürsten und Geistlichen nach dem Westfälischen Frieden in manchen deutschen Gebieten einen kräftigern Aufschwung nahm, drang nur hier und da ein belebender Strahl der neuen pädagogischen Erkenntnis ein, wie z. B. in der Schulordnung (»Schulmethodus«) des Herzogs Ernst von Sachsen-Gotha (gest. 1675).
Zu einer großen und für die bestehenden Verhältnisse gefahrdrohenden Macht brachten es die neuen realistischen Ideen, frei von diesem religiösen Einfluß, durch Jean Jacques Rousseau (gest. 1778). Der Unnatur der Rokokozeit gegenüber war schon hier und da das Stichwort: »Rückkehr zur Natur« ausgegeben worden;
Rousseau macht Ernst mit demselben.
Eine ausführliche Darlegung seiner pädagogischen Ansichten gab er in seinem »Émile, ou de l'éducation« (1762), einem Buch, das bei vielen Einseitigkeiten und Übertreibungen dennoch viele fruchtbare Keime birgt. Man soll sich nach Rousseau zuvörderst klar sein, ob man einen Menschen oder einen Bürger, ob man den Zögling für das Leben in der Natur oder für das Leben in der naturwidrigen Gesellschaft erziehen will. Man muß nach dem verschiedenen Alter der Kinder sie verschieden behandeln; jedes seiner Natur gemäß, damit es als Naturwesen heraufwachse und sich bilde.
Die Entwickelung beschleunige man nicht, lieber schiebe man sie weiter hinaus. Die erste Erziehung ist bloß abwehrend (negativ), sie gedeiht am besten in ländlicher Stille und Einfachheit. Die natürlichen Folgen thörichter Handlungen, die er an sich und an andern beobachtet, sollen den Zögling über Recht und Unrecht belehren; die Wahrnehmung des Erfolgs im kleinen und einzelnen soll zum verständigen Handeln anspornen und ermutigen. Bestärken muß ihn darin das Beispiel des Erziehers.
Aber nur keine unnatürliche Einengung der natürlichen Freiheit, die zur Lüge und zum Eigensinn führt! Was man lehren will,
das darf man nicht zwangsweise aufgeben; dafür muß man vor allem Lust und Liebe erwecken. Mit dem Einsehen
muß dann praktische Übung verbunden, mit der geistigen stets die körperliche Entwickelung gleichzeitig gefördert werden.
Aller Unterricht gehe von der eignen Anschauung des Zöglings aus. Die Kinder sollen nichts auf Autorität annehmen. Der Religionsunterricht
für Kinder ist Unnatur; vor dem Jünglingsalter lasse man den jungen Menschen nichts von Gott hören.
Der Glaube der Kinder und vieler Erwachsenen ist eine Sache der Geographie; es kommt darauf an, ob sie in Rom oder in Mekka geboren
sind. Rousseaus gewaltiger Einfluß machte sich rasch auch in Deutschland auf allen Lebensgebieten geltend.
In der Pädagogik
waren es die sogen. Philanthropen, Johann Bernhard Basedow (gest. 1790) an der Spitze, welche seine Grundsätze in Deutschland
verbreiteten und ins Leben einzuführen suchten.
Die Philanthropen polemisieren entschieden gegen das zu ihrer Zeit herrschende Unterrichts- und Erziehungswesen; die Unterrichtsweise der Grammatici (Philologen) charakterisieren sie als ein blindes Herumtappen ohne Weg und Ziel. Sie versprechen nicht etwa eine verbesserte Methode, da sie vielmehr behaupten, es gebe noch gar keine Methode in den Schulen; sondern Methode als etwas ganz Neues. Dieselbe soll den Zögling von der Anschauung und Erfahrung aus naturgemäß ohne allen Zwang und Gedächtniskram zur vollendeten Wissenschaft führen.
Weil ihre Methode naturgemäß, sagen die Philanthropen, so lernen die Kinder freiwillig, mit Lust und Liebe; daher nach ihrer Versicherung Strafen, besonders körperliche, von selbst wegfallen. Sie berücksichtigen die Muttersprache, ja bevorzugen dieselbe und kämpfen gegen die tyrannische Herrschaft des Latein. Sie führen die Realien ein und empfehlen die Leibesübungen. Sie dringen darauf, daß nichts Unverstandenes von den Schülern angeeignet werden soll, lassen sich aber durch diesen an sich richtigen Grundsatz zu einseitiger Pflege des Verstandes (Aufklärung) auf Kosten der Phantasie und des Gemüts fortreißen.
Darin, wie in ihrer Betonung [* 14] der Nützlichkeit und Glückseligkeit (Eudämonismus), berühren sie sich mit der rationalistischen Richtung der damaligen Theologie, mit welcher sie auch die Vorliebe für die abstrakte Natur- oder Vernunftreligion und die verschieden abgestufte Gleichgültigkeit gegen das positive Element in der christlichen Religion gemein haben. Neben Basedow sind besonders J. H. ^[Joachim Heinrich] Campe, Verfasser des deutschen »Robinson«, und Salzmann, Begründer der Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal, unter den Philanthropen hervorzuheben; ferner wegen seiner Verdienste um den gymnastischen Unterricht Guts Muths. ¶