Titel
Ostrumelien
,
rechtlich eine
Provinz des türk.
Reichs (s.
Karte
»Türkisches Reich«) mit administrativer
Autonomie, welche nach Art. 1322 des
Berliner
[* 2]
Vertrags vom neu gebildet wurde und unter der direkten politischen
und militärischen
Autorität des
Sultans, jedoch unter
Verwaltung eines christlichen
Generalgouverneur stehen soll, faktisch
aber seit dem
Staatsstreich vom mit
Bulgarien
[* 3] vereinigt ist. Ostrumelien
umfaßt das Gebiet der obern
Maritza und
Tundscha, wird im N. vom
Balkan, im
Osten vom
Schwarzen
Meer, im W. von der
Wasserscheide zwischen
Maritza und
Isker und
im S. vom Despoto
Planina, der
Arda und weiter östlich von einer gebogenen, zu beiden Seiten des 42. Breitengrades
verlaufenden
Linie begrenzt.
Nach dem
oben erwähnten
Abkommen erhält indessen die Türkei,
[* 4] solange die
Verwaltung
Bulgariens und Ostrumeliens
von Einer
Person geführt wird, die beiden an der Südgrenze liegenden, von einer technischen
Kommission zu umgrenzenden
Bezirke Kerdschalü
(etwa 850 qkm groß mit 1822,000 Einw.) und Rubdschuz (1150 qkm mit 1012,000
Einw.) zurück, wodurch sich die türkische
Grenze der Hauptstadt
Philippopel bis auf 22 km nähert und das
Areal Ostrumeliens
von 35,901 auf 33,900 qkm, seine
Bevölkerung
[* 5] von (1885) 975,030 auf
ca. 940,000
Seelen sinkt. Ostrumelien
ist zum größten Teil eine
von
Gebirgen
(Balkan, Sredna
Gora und Tscherna
Gora, welche dem
Balkan parallel ziehen, und Despoto
Planina)
eingeschlossene Thalebene, an welche sich östlich Hügelland anschließt.
Hauptflüsse sind Maritza mit Topolnitza, Giopsa, Tundscha und Arda. Das Klima [* 6] ist gesund trotz der starken Kälte im Winter, der heißen Sommer und der nebeligen Herbste. Offiziell wird die Bevölkerung für 1885 zu 975,030 Personen (1880: 815,946, davon 411,601 männlichen und 404,345 weiblichen Geschlechts) angegeben. Die Dichtigkeit der Bevölkerung betrug 27 auf 1 qkm. Darunter waren 1885: 681,734 christliche Bulgaren, 200,498 Türken und mohammedanische Bulgaren, 53,028 Griechen, 27,190 Zigeuner, 6982 Juden, 1865 Armenier und 3733 Fremde.
Nur bei den
Juden übersteigt die Anzahl der
Frauen diejenige der
Männer; bei den andern bleibt sie hinter
derselben, wenn auch nicht bedeutend, zurück. Das
Schulwesen Ostrumeliens
war bereits unter der Türkenherrschaft ziemlich
entwickelt, hat aber nach Einrichtung der
Autonomie einen großen Aufschwung genommen. 1881 besuchten schon zwei Drittel der
schulpflichtigen
Kinder den
Unterricht, und
es gab 1412
Elementarschulen mit 80,591
Schülern (davon 23,789
Mädchen), 21
Bürgerschulen, 2
Realschulen und 2 höhere
Mädchenschulen.
Die Thalebene ist ungemein fruchtbar und produziert Weizen, Hafer, [* 7] Gerste, [* 8] Hirse, [* 9] Mais, Reis und Tabak [* 10] (1883: 472,000 kg) in Fülle und guter Qualität, ferner Wein (1883: 290,000 hl) und Nüsse; doch ist ein beträchtlicher Teil des Landes noch unangebaut. Immerhin leisten die Bewohner Treffliches in Ackerbau, Rosenölbereitung und Gärtnerei. Die Seidenwürmerzucht ist gegen früher zurückgegangen, und allgemein wird über Verfall von Industrie und Handwerk geklagt.
Reich ist Ostrumelien
dagegen an
Wald. Der
Handel ist meist in den
Händen von Ausländern. Der
Abbau der Mineralschätze
(Kohle,
Eisen
[* 11] etc.) hat noch nicht einmal begonnen.
Rascher wird sich Ostrumelien
erst entwickeln, wenn es nach N. und W. Eisenbahnanschlüsse
erhält; die beiden vorhandenen
Linien
Adrianopel-Sarambei und
Tirnowa-Jamboli sind vorderhand nur Sackbahnen. Die
Rechte des
Sultans in Ostrumelien
, wie Ernennung des
Generalgouverneurs, das Halten von
Truppen und Errichten von
Befestigungen,
Ernennung der
Offiziere der Gendarmerie und Lokalmiliz, welcher die Aufrechterhaltung der innern
Ordnung obliegt, stehen lediglich
auf dem
Papier. Ebenso ist der auf 240,000 türk.
Pfund festgesetzte
Tribut Ostrumeliens
seit dem Bestehen der autonomen
Provinz
nie vollständig bezahlt worden.
Ostrumelien
ist in sechs
Departements
(Philippopel,
Eski Zagra,
Chasköi,
Sliwen,
Tatar-Bazardschik und
Burgas) geteilt,
welche wieder in 28
Kantone zerfallen; das größte
Departement ist
Philippopel mit
ca. 187,000 Einw., das kleinste
Burgas mit
ca. 88,000. Den verschiedenen Verwaltungszweigen stehen sechs
Direktoren vor, je
einer für das
Innere, die
Justiz, die
Finanzen,
für
Ackerbau,
Handel und öffentliche
Arbeiten und der Generalkommandant der
Miliz und Gendarmerie.
Die Provinzialversammlung bestand früher aus 56
Deputierten, deren Zahl nach dem bulgarischen Wahlgesetz (ein Deputierter
auf je 10,000 Einw.) beträchtlich erhöht wird; sie soll jährlich zwei
Monate in regelmäßiger
Session tagen. Ebenso sind
bereits in Ostrumelien
oder, wie es jetzt genannt wird, Südbulgarien fast alle
Gesetze und
Reglements des
Fürstentums
Bulgarien eingeführt;
Gerichte,
Militär und dessen
Uniformen,
Verwaltung sind hier wie dort gleich; zahlreiche
Beamte und
Offiziere
sind aus Ostrumelien
nach
Bulgarien und umgekehrt versetzt worden.
Auch ist das
Budget Ostrumeliens
seit
Februar 1886 mit dem
Bulgariens in eins verschmolzen, das
Geld ist in
beiden
Ländern jetzt das gleiche. Die Jahresabschlüsse des ostrumelischen
Staatshaushalts ergaben meist einen kleinen Überschuß,
der aber nur dadurch zu stande kam, daß der türkische
Tribut nur teilweise bezahlt wurde. Ostrumelien
stellt nach den Bestimmungen
von Anfang 1886 zwei von je einem Obersten befehligte
Brigaden zu je zwei Infanterieregimentern (zu je 4000 Mann),
einem
Kavallerie- und einem Artillerieregiment, welche als 5. und 6. Infanteriebrigade bezeichnet werden. Die bis dahin bestehende
Sappeurkompanie, die Kavallerieschwadron und die halbe
Batterie
Artillerie sollten gleichfalls bulgarischen Truppenkörpern
einverleibt werden, und die Einrichtung eines regelmäßigen Traindienstes wurde beabsichtigt. Hauptstadt des
Landes ist
Philippopel.
[Geschichte.]
Die
Provinz Ostrumelien
wurde durch den
Berliner
Vertrag vom geschaffen; durch diese
Schöpfung
sollte der südliche Teil
Bulgariens, das Rußland im
Frieden von
San Stefano ganz als
¶
mehr
selbständigen Staat beansprucht hatte, der Türkei erhalten und dem russischen Machtbereich
entzogen bleiben. Doch zog sich
die Organisation der neuen Provinz lange hin, da die Russen Ostrumelien
erst im Juli 1879 völlig räumten. Schon vorher aber war von
einer europäischen Kommission ein organisches Verfassungsstatut für Ostrumelien
ausgearbeitet und von der Pforte
genehmigt worden, die nun den Fürsten Vogorides als Aleko Pascha auf fünf Jahre zum Generalgouverneur ernannte; derselbe hielt seinen
Einzug in Philippopel, ernannte fast nur Bulgaren zu Generalsekretären (Ministern) und Präfekten und regierte im Einverständnis
mit Rußland ganz nach den Wünschen der bulgarischen Bevölkerung.
Die erste Provinzialversammlung (Narodny Sobranje, aus 56 Deputierten bestehend) ward eröffnet und verhielt sich gemäßigt. Dagegen betrieben die Turnvereine und die Milizen ganz ungescheut eine großbulgarische Agitation, deren Ziele die Vereinigung mit Bulgarien und die Erregung eines Aufstandes der Bulgaren in Makedonien waren. Dieselbe ward von den russischen Generalkonsuln Tscheretlew und Krebel begünstigt, vom türkischen Befehlshaber der Miliz, Strecker Pascha, vergeblich bekämpft.
Aleko Pascha sah sich endlich auch genötigt, den Umtrieben der Russen entgegenzutreten und 1882 den persönlichen Verkehr mit dem Generalkonsul v. Krebel abzubrechen. Deshalb erhob Rußland 1884 gegen seine Wiederernennung Einspruch, worauf die Pforte den bisherigen Leiter des Justizdepartements in Ostrumelien, Chrestovitsch, als Gavril Pascha auf fünf Jahre zum Generalgouverneur ernannte. Derselbe, obwohl Bulgare und ein wohlwollender Mann, vermochte die Schwierigkeiten seiner Stellung nicht zu überwinden.
Einerseits war er als türkischer Beamter der Pforte Gehorsam schuldig und durfte die Ausschreitungen der Bulgaren gegen die Türken nicht ungestraft lassen; auch verlangte die Pforte endlich Zahlung des schuldigen, aber nie gezahlten Tributs (240,000 Pfd.). Anderseits machte er sich durch sein Streben, seine Pflicht zu erfüllen, bei den Bulgaren unbeliebt und besaß nicht die Energie, sich Respekt zu verschaffen. Er wurde daher durch eine unblutige Revolution der Milizen gestürzt; man verhaftete ihn und schaffte ihn über die Grenze, während gleichzeitig eine provisorische Regierung unter Stranski eingesetzt wurde.
Diese proklamierte die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien, und Fürst Alexander erkannte dieselbe durch Erlaß vom 20. Sept. an; er nannte sich Fürst von Nord- und Südbulgarien. Die Pforte protestierte, schritt aber nicht mit Gewalt ein und ließ es geschehen, daß der Fürst sich in Ostrumelien huldigen ließ, und daß ostrumelische Truppen am Krieg Bulgariens gegen Serbien teilnahmen. Sie übertrug die Regelung der Sache den Mächten, deren Gesandte in Konstantinopel [* 13] zu diesem Zweck zusammentraten.
Die Mächte würden die Union wohl gebilligt und die Verschmelzung der beiden Länder gestattet haben, wenn nicht Rußland aus Haß gegen den Fürsten Alexander Hindernisse in den Weg gelegt hätte. Das türkisch-bulgarische Abkommen vom April 1886 bestimmte daher bloß, daß Alexander auf fünf Jahre zum Generalgouverneur von Ostrumelien ernannt, die Revision des organischen Statuts durch eine türkisch-bulgarische Kommission erfolgen und bis dahin die Verwaltung Ostrumeliens der Weisheit und Treue des Fürsten überlassen werden solle.
Noch vor der Revision berief Alexander 14. Juni eine bulgarische Nationalversammlung nach Sofia und schickte sich an, mit derselben die völlige Union durchzuführen, als er selbst 21. Aug. gestürzt wurde und nach seiner Rückkehr abdankte. Die ostrumelischen Deputierten nahmen zwar an der im Herbst 1886 in Tirnowa zusammentretenden bulgarischen Sobranje u. der Wahl des Fürsten Ferdinand 1887 teil, u. die Union blieb thatsächlich bestehen, wie denn der Regent und Ministerpräsident Stambulow und andre bedeutende Beamte u. Offiziere in Bulgarien aus Ostrumelien stammten. Doch ward die Union weder von der Pforte noch von den Mächten anerkannt.